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Ausgabe:

1906 Nr. 18

Spalte:

506-509

Autor/Hrsg.:

Schwartz, Eduard

Titel/Untertitel:

Christliche und jüdische Ostertafeln 1906

Rezensent:

Lietzmann, Hans

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Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. 18.

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Geiftesausgießung erwartete während desFortfeins der
Jünger (keine Spur davon im Text). Aus der Tatfache;
daß nicht der Schimmer eines natürlichen Anlaffes zu
einer Leidensvermahnung vorlag, wie Jefus Tie Mt. 10
erteilt, und daß die Jünger gefund und frifch heimkehrten,
das verheißene Leiden alfo (ich gar nicht erfüllte, fchließt
Schweitzer, daß der ganze Paffus dogmatifch und deshalb
— hiftorifch fei. Aber das Wunderbarfte führt
er uns für Mt. 11 vor: die Anfrage des Täufers, ob Jeius
der Elias fei (das foll 6 eQiö(isvoq, heißen) und Jefu darauf
folgende Rede mit famt dem Jubelruf in Abwefen-
heit der Jünger gehalten — woher befitzen wir fie denn?

Hier fehlt felbft das ABC in Kenntnis der traditions-
gefchichtlichen Gefetze. Und darum ift die ganze Schweit-
zerfche Kritik der Leben Jefuforfchung fundamentlos.
Der einzig fichere Ausgangspunkt müßte fein, daß wir
ein directes Wiffen über Jefus überhaupt nicht befitzen,
daß uns bekannt bloß Glaube und Uberlieferung der
Urgemeinde 30—40 Jahre nach feinem Tod find, daß alle
Jefusworte aus diefem Glauben und diefer Situation zu-
nächft müffen verftanden werden und daß es keinen anderen
Weg g ibt, an Jefus heranzukommen, als vorfichtige
Rückfchlüffe von diefer Tradition.

Deshalb wäre feine Hypothefe vom Herbeizwingen
des Gottesreichs erft durch die Bußbewegung,
dann durch Jefu Sühntod immer noch eine gefchicht-
liche Möglichkeit, falls einzelne Stellen der Evangelien
bloß als Trümmer folcher Tradition könnten begriffen
werden, ich denke an Mt. 10 2:1 1112. Aber einmal wird
fchon der Umftand, daß folche Stellen 30—40 Jahre
nach jenem verfehlten Herbeizwingen überliefert wurden,
daran ftutzig machen, ob fie von der Überlieferung je fo
verftanden worden find. Sodann aber kann in der Frage,
ob möglich, ob unmöglich, nur eines entfcheiden: der
Gefamteindruck der Überlieferung. Und diefer hält
das Bild Jefu mit der allerlebendigften Gottesreichserwartung
, aber gänzlich ohne dies Herbeizwingen und
Hereinzerren des Gottesreichs feft, gerade z. B. in den
Gottesreichsgleichniffen, wo die Zukunft als in die Gegenwart
hereinragend gefchaut wird. Am eheften könnte
noch das Wort vom Dämonenaustreiben Mt. 1228 als
Beleg dafür angeführt werden, daß noch die Urgemeinde
etwas von aktivem Heraufführen des Gottesreichs gewußt
hat; indes auch hier handelt es fich nicht um eine Tat der
Menfchen, fondern um Geift-Erlebniffe, die, ftreng genommen
, jedes Herbeizwingen ausfchließen. Immer ift der
Haupteindruck der, daß das Gottesreich in Gottes freiem
Willen fteht, daß die Menfchen es wohl .fuchen' und
darum beten können, aber Gott fich nichts erzwingen
läßt, höchftens noch durch das Beten und Glauben, wodurch
wieder Gottes freie Macht und Gnade anerkannt
und angebetet werden.

Wie nun diefe Phantaftik vom Herbeizwingen des
Gottesreichs, vom ,Hereinzerren und Preffen' des escha-
tologifchen Gefchehens in die Ereigniffe erft den Quellen
aufgenötigt wird, ebenfo die vom Autor felbft nicht zu
Ende gedachte Vorftellung vom eschatologifchen Sakrament
der Wüftenfpeifung und zuvor von der
Interims-Ethik. DieNaivität, daß Jefus Jüngern und Volk
in der Speifung Garantien für die Teilnahme am Gottesreich
gibt, Garantien, die dann erft noch die Empfänger
nicht verftehen, widerlegt fich felbft. Für die Ethik Jefu vgl.
Wellhaufen (Einleitung in die fynopt. Evangelien S. 107):
.Sicherlich galt ihm (Jefu) felber die Moral nicht, wie
Ignoranten zu behaupten fich erdreiftet haben, für eine
proviforifche Afkefe, die nur in Erwartung des nahen
Endes zu ertragen war und nur bis dahin ertragen werden
mußte, fondern für den ewigen Willen Gottes, im
Himmel wie auf Erden'. Auf diefe Weife, wie unfer
Autor es tut, mit der Eschatologie wirtfchaften, das, fürchte
ich, wird der eschatologifchen Auffaffung Jefu mehr
fchaden, als alle Gegenfchriften.

Zuletzt noch ein Wort von den praktifchen Schluß-

j folgerungen des letzten Kapitels. Obfchon das neue
Werk Schweitzers genau nur die Gedanken der Skizze
von 1901 wiederholt, überrafcht es durch einen ganz entgegengefetzten
Ausklang. 1901 war fein Zweck, der modernen
Zeit und der modernen Dogmatik die Geftalt Jefu
in ihrer überwältigenden heroifchen Größe vor die Seele
zu führen; ,Rückkehr dorthin' klang der letzte Satz aus.
1906 proklamiert er das notwendige Irrewerden an dem
hiftorifchen Jefus. Freilich ift ihm Jefus auch jetzt noch
der ,einzige unermeßlich große Menfch, der gewaltig genug
war, um fich als den geiftigen Herrfcher der Menfch-
heit zu erfaffen' und der Proteft gegen die Verkleinerung
der gebieterifchen weltverneinenden Imperatorenworte
Jefu feitens der Leben Jefu Forfchung klingt fo kräftig
wie vor vier Jahren. Allein als jüdifcher Meffias, der das
Weltrad in Bewegung fetzen wollte und von ihm zermalmt
wurde, da er mit einem Schrei, der das verzweifelte Aufgeben
der eschatologifchen Zukunft bedeutete, verfchied,
muß erunsundunfererZeit fremd und rätfelhaft fein. Helfen
kann uns künftig nicht mehr der hiftorifche Jefus, fondern
nur der ewige Jefus, ,der Geift, der von ihm ausgeht und
in Menfchengeiftern nach neuem Wirken und Herrfchen
ringt'. Nun geftehe ich, daß ich der letzte fein möchte,
der nicht Verftändnis und Sympathie einem jeden Irrewerden
an Jefus entgegenbringt, das aus innerer Arbeit
und Not heraus geboren ift. Aber einmal kann ich mir
dann bei der Phrafe vom ewigen Geift Jefu nichts denken,
da, fobald diefem Geift etwas Reales zugefchrieben wird,
es auch dem hiftorifchen Jesus zu gut kommt, deffen

j Geift es doch ift. Sodann hätte unfer Autor fich zwei

1 und dreimal fragen follen, an wem er wirklich irre wird,
ob nicht bloß an dem eschatologifchen Zerrbild, das er

! fich durch feine phantaftifche Quelleninterpretation ge-
fchaffen hat. Endlich aber, wozu dies Irrewerden und
diefe Zerftörungsfreude gleich in die Welt hinausfchreien?
Zur Folge hat das nur, daß der Verfaffer fich felbft voreilig
feftlegt und die Möglichkeit der Selbftbefinnung und
Korrektur, zu der ihn feine hervorragende Begabung führen
müßte, fich erfchwert, nach außen aber ein neues Lärm-
und Skandalthema in unfere theologifchen Kämpfe wirft.
Ob er im übrigen den Ertrag der bisherigen Leben
Jefu Forfchung ganz zerftört hat und den hiftorifchen
Jefus wirklich zu entwerten vermochte, hätte er beffer
getan, ftatt felbft vorauszufagen, der Zukunft anheimzu-
ftellen.

Bafel. Paul Wer nie.

Schwartz, E., Chriltliche und jüdilche Oftertafeln. Mit 3

Tafeln. (Abhandlungen dei Königlichen Gefellfchaft der
Wiffenfchaften zu Göttingen. Philologifch-hiftorifche
Klaffe. Neue Folge, Band VIII. Nro. 6.) Berlin, Weid-
mannfcheBuchhandlung 1905. (i97S.)gr. 40 M. 14 —

Ein Buch, das von den gewohnten Bahnen nicht nur
des Theologen fondern erft recht des Philologen weit
ab auf die kahlen Höhen der mathematifchen Chronologie
führt, um von dort aus Gefichtspunkte für das
Verftändnis altjüdifchen wie altkirchlichen Lebens zu gewinnen
, liegt in diefem fchwer zu lefenden, aber die
Mühe reichlich lohnenden Werk vor uns. Die Frage
,Wie hat man in der alten Kirche Oftern berechnet'

I bildet das Hauptthema, aus dem fich alles weitere ergibt.
Zunächft erörtert Sch. den 76jährigen alexandrinifchen

j Zyklus an der Hand der ,rein alexandrinifchen' theore-
tifchen Quellen, deren Angaben er mit den tatfächlichen
Ofterdaten ufw. der Feftbriefe des Athanafius kombiniert
refp; an ihnen prüft. Es ergibt fich die Vortrefflichkeit
des Zyklus an-fich; aber eine Nebeneinanderftellung der

j durch Athanafius gelieferten Daten der XIV lunae mit

j den durch Berechnung gefundenen aftronomifchen Vollmonden
der betreffenden Jahre ergibt einen abfohlten

| Fehler um 1—2 Tage in der Einftellung des Zyklus, der

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