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Ausgabe:

1906 Nr. 17

Spalte:

489-492

Autor/Hrsg.:

Medicus, Fritz

Titel/Untertitel:

J. G. Fichte. Dreizehn Vorlesungen, geh. an der Universität Halle 1906

Rezensent:

Elsenhans, Theodor

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Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. 17.

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nungsgebiet im Prinzip genau diefelbe kaufal-ableitende
Methode an wie auf dem Naturgebiet im engeren Sinne.
Nur entfpricht Kants Ausführung nicht recht diefem guten
Prinzip. Seine Kategorien der kaufalen Erklärung find zu
dürftig, fein Glaube an wirkliche Durchführbeit der ge-
netifchen Ableitung an allen Punkten macht Halt vor
allerhand Anlagen und tatfächlichen befonderen Gegebenheiten
, fein Intereffe an der empirifchen Gefchichte ift
zu fchwach, fein Sammelbegriff für alle gefchichtlichen
Ergebniffe ift der Staat und fpäter das ethifche Perfönlich-
keitsreich, nicht die Kultur: er zeigt überall bedenkliche
Einwirkungen der ,individualiftifchen Methode' und bleibt
daher in den Schranken der ,politifchen Gefchichte'.
Aber macht fich fchon in diefen Schwächen feiner empirifchen
Gefchichtsmethode ,die individualiftifche Methode
bemerkbar', fo ift das noch viel mehr, ja geradezu bedauerlich
der Fall in feiner eigentlichen Gefchichtsphilo-
fophie, für die allein er wirkliches Intereffe hatte. Hier
fleht er von Haufe aus unter der Einwirkung der theo-
logifchen Idee der Vorfehung oder unter der des meta-
phyfifchen Zwillingsbruders diefer theologifchen Idee, des
Fortfchrittsgedankens. In der vorkritifchen Periode glaubt
hier Kant an eine den kaufalen Gefchichtsverlauf auf fein
Ziel, den vollendeten Rechtsftaat, hinlenkende Vorfehung.
In feiner kritifchen Periode erfetzt er den Gedanken der
Vorfehung und des Fortfehritts durch die kritifch-regula-
tive Idee einer Angemeffenheit der kaufalen Gefchichts-
totalität zu einem allgemeingiltigen Gefchichtsziel, das
jetzt unter dem Einfluß feiner Moralphilofophie als die
Kirche oder das Reich ethifcher Perfönlichheiten er-
fcheint und deffen Verwirklichungsweife in dem Dunkel
alles Transfzendenten liegt. Befonders unterfucht der
Verfaffer hierbei das Verhältnis diefer Deutung aus
dem Ziel zu der intelligiblen Freiheit der Individuen
und das Verhältnis diefer letzteren zu dem empirifch-
kaufalen Ablauf in der Erfcheinung der phänomenalen
Iche. Er findet hier mit Recht, wie auch andere, daß
die Zeitlofigkeit und Intelligibilität des wahren Ich nirgends
feftgehalten werden kann und auch von Kant tat-
fächlich nirgends feftgehalten wird, daß die fchroffe
punktuelle Faffung des intelligiblen Ich einer Beziehung
auf die Erfcheinung wie auf die göttliche Weltleitung
gleich unüberwindliche Schwierigkeiten macht. So feien
denn auch die Ausfagen über den Fortfehritt überaus
fchwankend und die über die Vorfehung überaus dunkel;
es reduziere fich fchließlich alles darauf, zu handeln,
als ob es Fortfehritt und Vorfehung gäbe.

Die Darfteilung des Verfaffes ift reinlich und durchfichtig
, auch find die von ihm erhobenen Bedenken gewiß
begründet, fie weifen auf einen der fchwierigften
Punkte in der Kantfchen Lehre hin, auf die abfolute
Trennung des empirifchen und intelligibeln Ich. Allein
es find nicht diefe Probleme, die der Verfaffer weiter
verfolgt, fondern er erkennt in alledem nur die Übeln
Folgen der von Kant noch nicht überwundenen ,indi-
vidualiftifchen Methode', die ihrer Natur nach immer die
Kaufalität durchbreche und ftets außerempirifche Beziehungen
einmenge. Hilfe gegen diefe Mängel kann nur
der Anfchluß an die kollektiviftifche, kulturgefchichtliche
und genetifche Methode Lamprechts bringen. Über diefe
Methode aber ift hier nicht zu handeln, fie wird auch
von dem Verfaffer als bekannt und autoritativ vorausgefetzt
.

Heidelberg. Troeltfch.

Medicus, Fritz, J. G. Fichte. Dreizehn Vorlefungen, gehalten
an der Univerfität Halle. Berlin, Reuther &
Reichard 1905. (VIII, 269 S.) gr. 8° M. 3 —

Nachdem der Ruf ,Zurück zu Kant!' lange genug
die philofophifche Arbeit der neueften Zeit beftimmt hat,
beginnen die nachkantifchen Syfteme ihren Einfluß geltend
zu machen. Insbefondere fteht ein beachtenswerter

Teil der Philofophie der Gegenwart unter dem Zeichen
Fichtes. Auch der Verf. gehört zu denen, welche Fichtes
j Philofophie nicht bloß in hiftorifchem Intereffe darftellen,
fondern zugleich für die Gegenwart von ihr lernen wollen.
Er erinnert aus der Gefchichte der griechifchen Philofophie
an die Epoche der Sophiften, jene Epoche der
Überzeugungslofigkeit, gegen welche Sokrates und Piaton
mit fittlicher Leidenfchaft den Kampf geführt haben,
den Kampf gegen die Überzeugungslofigkeit, für die
Überzeugung. ,Fichtes Stellung ift derjenigen Piatons wohl
vergleichbar; ebenfo wie Piaton das Heil darin fah, daß
die Wiffenfchaft, deren Recht problematifch geworden war,
in ihrer Bedeutung klar geftellt und dadurch zur Anerkennung
gebracht werden müffe; daß es darauf ankomme
, zu zeigen, daß es jenfeits und über aller doga
die ewige aXrj&eca gebe, fo ift es auch die zentrale Auf-
i gäbe der Fichtefchen Wiffenfchaftslehre, durch eine
| Einficht in das Wefen der Wiffenfchaft und des Wiffens
feftzuftellen, auf welchen Grundlagen eine Überzeugung
ruht — eine Überzeugung, die mehr ift, als bloße Anficht
oder Meinung, die ein Wiffen ift, das fich felbft
weiß, ein Wiffen das feiner felbft, das feines Rechtes fich
bewußt ift' (S. 10). Auch Fichte fleht feine Zeitge-
noffen verfinken in einen matten, fchwächlichen Relativismus
. Ift aber der Kampf, den er dagegen führt, heute
gegenftandslos geworden? ,Nein! Jene Aufgeklärtheit,
die nicht wußte, ob ihr Grundfatz felbft auch nicht mehr
war als bloße Anficht; die ihren eigenen Prämiffen nach
nur hätte fagen dürfen: Es ift meine perfönliche Anficht,
daß es nur Anflehten gibt, und daß niemand das Recht
hat, überzeugt zu fein; andere aber mögen darüber anders
urteilen — jene Aufgeklärtheit exiftiert heute noch in
wefentlich derfelben Weife. Wenn wir darum an Fichtes
1 Lehre herantreten wollen, fo tun wir das nicht, um eine
j Erfcheinung aus dem philofophifchen Raritätenkabinet,
der fich neuerdings ein allgemeines Intereffe zuzuwenden
beginnt, auch unfererfeits kennen zu lernen und um über
1 fie mitreden zu können, fondern wir gehen an Fichte
| heran, weil er ein Mann ift, der unferer Zeit und uns
felbft etwas zu fagen hat' (S. 11).

In den 13 Vorlefungen, die im Wefentlichen wieder-
I gegeben find, wie fie gefprochen wurden, find in die
Darftellung der Gedankenwelt Fichtes die einzelnen Ab-
fchnitte feines Lebensganges an paffenden Stellen eingefügt
. Nachdem die erfte Vorlefung ,traditionelle Miß-
verftändniffe' hinfichtlich der Philofophie Fichtes zurück-
gewiefen hat, insbefondere die Behauptung, er habe die
pfychologifche Interpretation Kants verfchuldet (S. 5),
feine angebliche Verwandtfchaft mit dem Solipsmus
und die Meinung, feine Philofophie fei wefentlich Sittenlehre
, befchäftigt fich die zweite Vorlefung mit Fichtes
Leben bis zu feinem Eintritt in die Öffentlichkeit. Wir
verfolgen den Kampf, den der junge Fichte um feine
wiffenfehaftliche Exiftenz führen mußte bis zu jenem
Vorabend feines 26. Geburtstages, dem 18. Mai 1788, da
ihm die Hoffnungslofigkeit feiner Lage mit folcher Wucht
vor das Bewußtlein trat, daß ein letzter ernfter Schritt
ihm eine unausweichliche Notwendigkeit fchien, unmittelbar
darauf aber eine freundliche Wendung feines
Schickfals mit der Hauslehrertätigkeit in Zürich fich eröffnete
. Wir lefen weiter, wie ihm fpäter in Leipzig die
Kantifche Philofophie zu einem Evangelium der Freiheit
wird und wie er fich in Königsberg bei feinem Meifter Kant
durch feinen ,Verfuch einer Kritik aller Offenbarung' legitimierte
, eine bald darauf anonym erfchienene Schrift,
die in einer Rezenfion der Jenaer Literaturzeitung Kant
zugefchrieben ward und dem wirklichen Verfaffer, als
fein Name bekannt wurde, eine fchnell wachfende Berühmtheit
verfchaffte. Die Berufung nach Jena, die Fichte
in den letzten Tagen des Dezembers 1793 erhielt, gibt
ihm Veranlaffung zu der .Einladungsfchrift': ,Über den
Begriff der Wiffenfchaftslehre oder der fogenannten Phi-
I lofophie'. Hier tritt zum erften mal der Name Wiffen-