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Ausgabe:

1906 Nr. 17

Spalte:

488-489

Autor/Hrsg.:

Brotherus, K. R.

Titel/Untertitel:

Immanuel Kants Philosophie der Geschichte 1906

Rezensent:

Troeltsch, Ernst

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487

Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. 17.

488

geburt .... Das Verftändnis für orientalifche Zeichen
und Bilderfprache ließ damals wohl im Okzident, das
Verftändnis für die Ausdrucksmittel« religiöfer Lehrdichtung
läßt allenthalben und jederzeit zu wünfchen übrig'.

,Eine Arbeit wie die vorliegende', fo urteilt der Verf.
felbft, ,kann nicht aus einem Guffe fein; fie muß in einzelnen
Teilen eingehend, in andern mehr oder minder
aphoriftifch fein. Sie ift zum Teil nur eine Zufammen-
ftellung und beanfprucht als folche nur einen fehr be-
fcheidenen wiffenfchaftlichen Wert; fie ift nur die Grundlage
eingehenderer Forfchung in der vorgefchlagenen
Richtung und behält die Nachprüfung in manchem einzelnen
Falle vor. Wollte man für jedes einzelne Beifpiel
einen ausführlichen eindrucksvollen Beweis verfuchen, fo
würden dadurch die einzelnen Fälle fo weit von einander
abgerückt, daß dadurch der Totaleindruck verloren ginge.
Diefer Arbeit aber liegt es gerade daran, zu zeigen, mit
welcher Wucht und Stetigkeit fich die hier aufgewiefene
Tendenz in der Religionsgefchichte zur Geltung bringt,
welche durchgehende Beachtung diefe Beobachtung in
der Exegefe A. und N. T. bereits gefunden hat, und
daß fie diefelbe auch in der Dogmengefchichte bezw. in
der chriftlichen Literargefchichte und auf Grund beider
in der Religionsgefchichte verdient' (21—22).

Das erfte, dem A. T. gewidmete Kapitel (23—51)
will an einer Reihe von Beispielen zeigen, ,wie das Ge-
fchehnis fich von der Idee, um derentwillen es überliefert
ift, zu emanzipieren fucht, wie es neben derfelben eine
felbftändige Stellung erringt, ja manchmal völlig losge-
löft von ihr als Tatfache an und für fich wichtig wird';
diefer Prozeß ift ,nur durch eine Umfchaffung des Stoffes
felbft, nur auf dem Wege der Materialifierung möglich
gewefen' (24). Zur Begründung und Illuftration diefer
Thefe befpricht B. die Umwandelung der Vorftellungen
von der Hilfe Gottes, vom Wefen Gottes, vom Propheten-
tum, und andere Vorgänge von geringerer Bedeutung. —
Was das N. T. betrifft (52—88), fo ift zum Verftändnis
und zur Charakteriftik des zu befchreibenden Umbildungs-
prozeßes daran zu erinnern, daß ,während das A. T. fich
in vielen Jahrhunderten gebildet hat, das N. T. in ungefähr
ebenfoviel Jahrzehnten entftanden ift. Auch der Abfchluß
der Entwicklung ift hier ein verhältnismäßig plötzlicher
gewefen. So ift die Entwicklung und Umbildung und
alfo auch die Materialifierung des fynoptifchen Stoffes
mit einem plötzlichen Ruck zum Stillftand gebracht; es
macht deshalb manches den Eindruck von fchnell durch
Waffer erkaltetem Bleiguß; er ift mitten in der Entwicklung
flecken geblieben, darum aber kritifch doppelt in-
tereffant und wichtig. Schwer entfcheidbar ift oft die
Frage, welche Tatfachen aus hermeneutifcher Wurzel,
welche aus dogmatifchen Erwägungen hervorgegangen
find, und wenn beides zu konftatieren, wie fich die beiden
verfchiedenen Anregungen der Tatfachenproduktion zu
einander verhalten. Befonders die letzte Frage wird nur
fehr vorfichtig und hypothetifch beantwortet werden
können' (52). Die fchwierige Aufgabe der Einteilung und
Gruppierung des Stoffes löft der Verf. dahin, daß er
zuerft die Auslegung des A. T., foweit fie Tatfachen
produziert hat, behandelt; hierauf prüft er die chriftliche
Überlieferung in ihrer fortbildenden Entwicklung aus fich
felbft heraus; einen befonderen Abfchnitt widmet er der
völligen Umdichtung des fynoptifchen Stoffes durch
Johannes; endlich fügt er noch aus der Antilegomenen-
literatur einige Beifpiele bei, die fich in die gefchichtliche
Lehrentwicklung nicht einreihen laffen.

Das vierte Kapitel, das die Grundlegung der chriftlichen
Dogmatik durch Juftin und Irenäus, als die Haupt-
repräfentanten der fich entwickelnden altkatholifchen
Kirche, behandelt, bildet den Abfchluß des Ganzen
(89—125). Da Juftin nirgends ein Syftem von Lehren
gegeben hat, und ohnedies für das vorliegende Thema
nicht alle Lehren in Betracht kommen, begnügt fich B.
mit der Aufzählung einzelner Punkte: Gefamtauffaffung

| des Chriftentums, Antifemitismus, Chriftologie, Leben
Jefu, Vergottung, Unfterblichkeitsglaube, Weltgericht, Sakramente
, Materialifierung als Vorausfetzung der Alle-
gorefe. — Bei Irenäus liegt bereits der deutliche Anfatz
zu einem Lehrfyftem in einer Anzahl von feft zufammen-
hängenden Sätzen vor. Es ift dies die Vergottungslehre
mit den dazu gehörigen Gedanken über Chriftus, das
Abendmahl und die Erlöfungsfähigkeit des Menfchen.
Daher ftellt der Verf. die Chriftologie des Irenäus in den
Mittelpunkt, um dann zum Heilsgut und zu den Sakramenten
überzugehen. An diefen drei Hauptpunkten
unterfucht er die Hermeneutik des Irenäus bezüglich der
Tatfachenfchöpfung.

Der Wert der Bittlingerfchen Schrift liegt wefentlich
in der Sammlung und Sichtung eines reichen Materials,
das er aus feinen Quellen zufammengeftellt und um deren
Erklärung er fich eifrig bemüht hat. Der Scharffinn und
die Kombinationsgabe, die er bei diefer an der Hand
vorzüglicher Exegeten vorgenommenen Arbeit an den
Tag legt, verdient alle Anerkennung. Daß im einzelnen
manche Beifpiele eine andere Deutung zulaffen oder
vielleicht fordern, daß zuweilen die vorgetragenen Hypotheken
und Konjekturen nicht jedem einleuchten werden,
ift felbftverftändlich. Liegt die Stärke und der Vorzug

j der Unterfuchung in den gefchichtlichen Erörterungen,
fo läßt der religionsphilofophifche Teil der Arbeit zu
wünfchen übrig. Zu dürftig ift vor allem die pfycho-

I logifche Analyfe der gefchilderten Vorgänge ausgefallen.
Der Verf. behauptet zwar, daß bei diefer ungeheueren
Stofffchöpfung auf religiöfem Gebiet, der urfprüngliche
Stoff, den der religiöfe Genius je und je bearbeitet hat,
in den,Erfahrungen der Menfchen, die fie an ihren Herzen

| machen', befteht: ,Sehnfucht nach Frieden oder Erlöfungs-
bedürftigkeit und das Erlebnis der Offenbarung Gottes'.
Eine nähere Erklärung der hier angedeuteten Faktoren
wäre um fo willkommener gewefen, als B. verfichert,
durch jenen Materialifierungsprozeß fei ,die Religion von
Grund aus, bis ins innerfte Herz umgewandelt worden',
das ,fehe man an ihrem Zentralbegriff, dem Begriff des
Glaubens'. ,Derfelbe ift eine rein fittliche Leiftung, eine
Tat, die nur auf fich felbft fleht, das einzig mögliche
opus supererogativum für den Menfchen. Der Glaube ift
der Kulminationspunkt des fittlichen Bewußtfeins, das
letzt Erreichbare. Und nun das Neue: der Glaube ift
die Vorausfetzung alles Übrigen; der Glaube wird nur
durch Wunder und Weisfagungen bewiefen; es ift abfurd,

I nicht zu glauben, wie Johannes und Juftin oft genug

I fagen' (127). Daß hier eine Reihe von mindeftens un-

I klaren und mißverftändlichen, ja wenn ich recht fehe,
verkehrten und verhängnisvollen Ausfagen vorliegt, fcheint
mir unzweifelhaft. Dadurch wird zwar der Wert des
zufammengetragenen Stoffes nicht beeinträchtigt, die prinzipielle
Beurteilung und Würdigung des Ganzen aber
entbehrt einer feften Grundlage und eines beherrfchenden

! Gefichtspunktes.

Straßburg i. E. P. Lobftein.

Brotherus, K. R., Immanuel Kants Philofophie der Gefchichte.

(Diff.) Helfingfors 1905. (VIII, 136 S.) 8°

Das Buch enthält nicht eben fehr viel für den Theo-
j logen und Religionsphilofophen. Im ganzen ift es eine
I Meffung Kants an der Lamprechtfchen wiffenfchaftlichen
Methode der Gefchichte, die völlig kaufal-genetifch verfährt
und durch Kollektiv-Pfychologie die Gefetze gewinnt
, nach denen alle Erfcheinungen der Gefchichte
reftlos kaufal und entwickelungsgefchichtlich begriffen
werden können. Es ift für den Verfaffer die Frage,
wie weit Kant diefem Prinzip fich nähert. In der Tat
hat die Kantfche Lehre Seiten, wo fie diefer Lehre nahe
I kommt. Sofern fie das empirifche Ich und feine gefchichtlichen
Hervorbringungen zur Natur, Erfahrung
I und Erfcheinung rechnet, wendet fie auf diefes Erfchei-