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Ausgabe:

1906 Nr. 16

Spalte:

452-454

Autor/Hrsg.:

Losco, H.

Titel/Untertitel:

Jerusalem liberanda. Beobachtungen zu einigen Kapiteln der Evangelien 1906

Rezensent:

Hoffmann, Richard Adolf

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Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. 16.

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hatidlung des Sokrates und Piaton hervor. Natorps Auffaffung
Piatos wird, obgleich fich, fo viel ich weiß, außerhalb
Marburgs niemand zu ihr bekannt hat, als die felbftver-
ftändlich richtige vorausgefetzt. Und fo ift denn auch
der Kern der Schrift von der Tendenz beherrfcht, Eideszeugen
für den kritifchen Idealismus zu gewinnen, feine
Invafion in das hiftorifche Gebiet zu rechtfertigen, indem
feine logifche Auffaffung der platonifchen Ideen nicht als
Dinge des Jenfeits, fondern Gefetze und Erkenntnisnormen
des Diesfeits hiftorifch genützt wird. Für diefen
Zweck find ficher Philon und befonders Plotin fehr viel
ergiebiger als Plato felbft. Die plaflifche und künfllerifche
Geftaltungskraft des Dichterphilofophen, die die Ideen
faft mit perfönlichem Leben umkleidet, hat in der fpäteren
Entwickelung des Piatonismus der Innerlichkeit und dem
Subjektivismus das Feld geräumt. Wer die Philofophie
fo, wie es der Profpekt der neuen Zeitfchrift tut, in
engfter Verbindung mit der Gefchichte der Kultur betrachtet
, wird diefe Entwickelung ganz natürlich finden.
Philo und Plotin find im Sinne Natorps ficher platonifcher
als Plato felbft, für den, der Natorps Auffaffung der
Ideenlehre als zu einfeitig verwirft, Vertreter der
ftark umgeftalteten platonifchen Ideenlehre. Wie hoch
ich die Anregungen des Natorpfchen Werkes fchätze,
habe ich an anderer Stelle gefagt Aber wenn der
kritifche Idealismus der Stützen feiner Plato-Interpretation
nicht entbehren kann, dann wäre es fchlimm um ihn
beftellt. Und wenn feine Jünger meinen, feine Voraus-
fetzungen einer hiftorifchen Unterfuchung von vornherein
zugrunde legen zu dürfen, fo wird er fich bald bei den
Hiftorikern völlig diskreditieren.

Diefe zum Teil anregende, aber mit größten Vorficht
zu benutzende Arbeit hat entfchieden unter der Tendenz
gelitten, durch die Formulierung der Gedanken, moderne
Parallelen, Auswahl der Zeugniffe, Verteilung der Akzente
und Nüancen Philo und Plotin möglichft dem eigenen
Standpunkt anzunähern. Bei Plotin findet der Verf. in
der Idee des Guten als des Zieles, in der Würdigung der
Mathematik, in der Lehre von der Materie als dem Un-
beftimmten, das durch das Denken Beftimmung und Ge-
flaltung erhält, in dem Denken als Schaffen und Zeugen
der Seele, in den Ideen als Gefetzen des Denkens, in
der Auflöfung der Dinge in begrifflich methodifches
Denken, in der Idealität von Raum und Zeit, in dem
Einheitsgedanken als ,der Grundfrage der Idealismus' die I
wefentlichen Moment der wahrhaft kritifchen Philofophie. j
,Wenn man Plotin häufig zum Hauptvertreter des Schwärmenden
« Neuplatonismus macht, fo tut man ihm unrecht;
es ift gleichfam eine Ironie des Schickfals, daß gegen
ihn, den Propheten des Rationalismus, folche Vorwürfe
erhoben werden' (S. 61). ,Doch hat er die Transcendenez
Gottes nie in dem Sinne gelehrt, daß etwa erft das
Jenfeits, eine Welt nach dem Tode, dem Menfchen die Annäherung
und die relative Erkenntnis Gottes möglich
machte, fondern Gott ift durchaus das Endziel und die
Zukunft diefer Welt' (S. 88). Es foll eine irrtümliche
Auffaffung fein, ,daß die Materie an und für fich das
Prinzip das Böfen fei' (S. 93. 66). So lange diefe Sätze
nicht durch Eingehen auf die entgegenftehenden Auslagen
, auf die Verbindung des Neuplatonismus mit der
wachsenden myftifchen Reaktion der Spätantike, auf das
Verhältnis Plotins zum fpäteren Neuplatonismus, durch
eine Harmonifierung mit den Ausfagen der Transcendenz
und der Lehre des Hervorgehens der Dinge aus der
Gottheit ficherer begründet werden, ift ihre abfolute Gültigkeit
zu bezweifeln.

Die Höhe des kritifchen Idealismus fcheint ein Eingehen
in die Niederungen hiftorifcher Forfchung zu ver-
fchmähen. Der Verf. hat fich fehr wenig um die phi-
lonifche Literatur bekümmert, z. B. die ihn nahe angehende
Schrift Max Freudenthals ignoriert. Die Schrift
27. a<pd-a.Qölaq gilt ihm als unecht. Cumonts Ausgabe kennt
er nicht. Eine Reihe Stellen diefer Schrift, um deren

I Quellenfcheidung er fich gar nicht kümmert, wird in er-
fchrecklicher Weife mißdeutet. Und S. 22,15 C. wird als Ge-
genfatz gegen Philo S. 59 ausgefpielt, obgleich Philo an
vielen Stellen ganz dasfelbe fagt (f. Cumont). Die Behauptung
S. 57: Philos ,Anleihen beim Stoizismus be-
fchränken fich beinahe lediglich auf die Terminologie' ift
ungeheuerlich und zeugt von gänzlicher Unkenntnis der
ftoifchen Philofophie und der neueren Literatur. So hat
F. mehrfach Philos Eklektizismus verkannt und z. B. die
ftoifche Staatslehre in eine fremde Verbindung mit dem
Piatonismus gebracht und ganz falfch beurteilt (S. 50.
51. 60). De congr. 147 (nicht 148) heißt es nach den
Definitionen von Punkt, Linie etc., daß dem Philofophen
fi jcsqi oqcov JtQayfiatsia, die Befchäftigung mit den Definitionen
, obliege. Um die Stelle in feinem Sinne verwerten
zu können, fetzt F. S. 45 zrjs eJiiörrjfiTjg ganz willkürlich
in Klammern und überfetzt ,Grenzen der Erkenntnis'.
Und ich kann mit einer Reihe ähnlicher Auslegungen, die
neukantifch, aber fprachlich unmöglich find, dienen. Die
griechifchen Zitate find nicht fehlerfrei.

Das Problem, deffen Behandlung der Titel erwarten
läßt, wird nur in dem Satze S. 44 berührt: ,Der bedeu-
tendfte unter den Vorläufern des Neuplatonismus ift der
alexandrinifche Jude Philon'. Ich bin müde, wieder
einmal diefen Irrtum zu bekämpfen und die wirkliche
Aufgabe, den dem Philon vorliegenden Piatonismus mit
dem des 2. Jahrh. n. Chr. und dem Neuplatonismus in
gefchichtliche Verbindung zu fetzen, genauer zu bezeichnen
. — Nach diefem Hefte halte ich es faft für ein Glück,
daß die Titel der nächften die antike Philofophie nicht
betreffen.

Breslau. Paul Wendland.

Lisco, Dr. H., Jerusalem liberanda. Beobachtungen zu
einigen Kapiteln der Evangelien. Halle a. S., R.
Heller 1905. (VIII, 311 S.) gr. 8° M. 6.50

Der warmherzige, gelehrte und geiftreiche Verf.
befitzt eine ganz ungewöhnliche Kombinationsgabe und
großen Scharffinn. Leider fehlt ihm faft jeglicher Blick
für das, was gefchichtlich wahrfcheinlich oder auch nur
möglich ift. Er vermißt in der Apoftelgefchichte eine
eingehendere Darfteilung der Hauptwirkfamkeit des
Paulus, feiner Predigt in der griechifchen Welt. In nur
fünf Kapiteln (16—20) wird diefer wichtigfte Teil im
Leben des Apoftels abgetan. Darin erblickt L. eine
Ranküne der Gegner desfelben, die manches von feinen
Erlebniffen totfchweigen wollten, ,damit nicht an den
Tag käme, mit welchen Mitteln der Heimtücke und
Bosheit fie ihn verfolgt hatten, um endlich fein Werk
zu vernichten' (S. 7). Doch die Anhänger des Apoftels
haben in anderer Form den wahren Sachverhalt der
Nachwelt überliefert. Als fie von den paulusfeindlichen
Kirchenregierern den Auftrag erhielten, die Lebensge-
fchichte Chrifti mit Wundern und Legenden auszu-
fchmücken, haben fie fich diefer Aufgabe in der Weife
unterzogen, daß fie in die Darfteilung des Lebens des
Heilandes eine Darftellung der fogenannten zweiten
Miffionsreife des Paulus, von Antiochien bis Korinth,
hineinheimften: Luk. 4 u—6«, Matth. 81—935, Mark. Iis
—3 i9, Joh. 11—2 12.

L. geht aus von der lukanifchen Rezenfion der Bergpredigt
und fucht nachzuweifen, daß der Evangelift mit
einer Reihe feiner Abweichungen vom Texte des Matth,
auf die Korintherbriefe und damit auf die Verhältniffe
der erftenChriftengemeinde in Korinth hindeute (S. 13—23).
Die Erzählung vom. Fifchzuge des Petrus Lk. 5 i-n foll
hinweifen auf den Übergang des Paulus von Troas nach
Europa, durch Anfpielungen auf den entfprechenden
Abfchnitt der Apoftelgefchichte (169«-.) und den Philipperbrief
, fofern ja in Philippi die erfte europäifche
Gemeinde von Paulus gegründet wurde (S. 24—29). Auf
die Ereigniffe in Philippi felbft nehme dann die Ge-