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Ausgabe:

1906 Nr. 15

Spalte:

442-443

Autor/Hrsg.:

Djuvara, Marcel T.

Titel/Untertitel:

Wissenschaftliche und religiöse Weltansicht 1906

Rezensent:

Lobstein, Paul

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Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. 15.

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Art, wie es vorwärts gehen foll, was etwa gefchehen
kann, um eine Entwicklung zu fördern oder zu hemmen,
überhaupt wie die zutage tretenden Verhältniffe zu
,behandeln' fein möchten, anknüpfen.

Der letzte, dritte Teil handelt von den ,Urfachen der
konfeffionellen Verfchiebungen', Tabelle XXXVI—LXII.
Hier werden in Zahlen veranfchaulicht (durch die Tabellen)
die eheliche Fruchtbarkeit, die Auswanderung und Einwanderung
(einfchl. Binnenwanderung), die Übertritte, die
Mifchehen, das Religionsbekenntnis der Kinder aus folchen
u. a. In den meiften Staaten fehlt noch eine Statiftik
der Geburten nach den Ehen unter konfeffioneller Scheidung
. Für Preußen und Bayern, wo es eine folche fchon
feit längerem gibt, ift zu konftatieren, daß die katholifche
Bevölkerung zweifellos und konftant fruchtbarer ift; daß
Bayern fich darin von Preußen fo gut wie gar nicht
unterfcheidet, beweift, daß man für Preußen nicht auf
die größere natürliche Fruchtbarkeit feiner Slaven (Polen)
reflektieren darf. Die Differenz zwifchen den evange-
lifchen und katholifchen Geburten ift fo groß, daß nach
ihr die katholifche Bevölkerung mit jedem Jahrzehnt
um 1 Proz. in der Gefamtziffer wachfen müßte. Dennoch
hat die katholifche Bevölkerung unzweifelhaft in Prozentzahlen
nicht fowohl zugenommen, als abgenommen.
Krofe zeigt, daß weder die Sterblichkeitsziffern, noch
die Wanderungen (die Einwanderungen kommen den
Katholiken fehr zugut, die Auswanderungen halten fich
letztlich die Wagfchale), noch die Übertritte, fondern
die Mifchehen es feien, die dem Proteftantismus das
relativ ftärkere Wachfen verliehen hätten. Eine Karte
des deutfchen Reichs mit zehnerlei Farben nach Ab-
ftufung (von je 10 : 10 Proz.) des relativen Anteils der
Bevölkerung an den Konfeffionen bildet eine willkommene
Beigabe des Buchs. Es gibt doch noch fehr große Gebiete
, wo eine Konfeffion mit 90—IOO Proz. vertreten
ift (in Wirklichkeit faft allenthalben allein exiftiert).

Göttingen. F. Kattenbufch.

Bourrier, Andre, Warum wir austraten? Bekenntniffe

romfrei gewordener franzöfifcher Priefter 1895—1904.

(Ceux qui s'en vont.) Überfetzt von Pfr. F. Seil.

München, J. F. Lehmanns Verlag 1905. (235 S.)

gr. 8° M. 3 —

Ein höchft wertvoller Beitrag zur Gefchichte des rö-
mifchen Katholizismus im gegenwärtigen Frankreich!
Die von Pfarrer Seil (Ars an der Mofel) beforgte vorzügliche
Überfetzung des unter der charakteriftifchen
Überfchrift ,Ceux qui s'en vont1 von dem auch unter uns
wohlbekannten Pfr. Bourrier verfaßten Werkes ift ,dem
katholifchen Klerus des deutfchen Reiches zugeeignet'.
Unftreitig nimmt es in der Literatur der Los-von-Rom-
Bewegung einen hervorragenden Platz ein. Der Wert
des Buches liegt fowohl in dem reichlich dargebotenen
urkundlichen Material über die von 1895 bis 1904 erfolgten
Austritte zahlreicher Priefter aus der römifchen
Kirche, als auch in den Mitteilungen über die Motive
und Ziele diefer religiöfen Bewegung, die in Bourrier
ihren bedeutendften Vertreter gefunden hat. Es gereicht
dem chriftlichen Zartgefühl des Verfaffers zur Ehre,
daß er uns in die innere Gefchichte feiner Bekehrung
nicht weiter einweiht. Dafür (teilt er an die Spitze des
Werkes den Brief, den er am 31. Auguft 1895, an feinem
43. Geburtstag, nach zwanzigjähriger Amtstätigkeit in
der Marfeiller Diözefe, nach zehnjährigen inneren Kämpfen,
an den Bifchof Robert zu Marfeille fchrieb, um ihm
feinen Austritt aus dem römifchen Klerus zu melden.
Sein Ideal war damals ,eine reformierte katholifche Kirche',
,wie diejenige, von der uns die erften Jahrhunderte
Zeugnis geben'. Er mußte indeffen bald die Ausfichts-
lofigkeit eines folchen, durch den gefcheiterten Verfuch
des Pater Hyacinthe illuftrierten Unternehmens einfehen.
Nach einigem Zögern ließ er fich an der evangelifch-

theologifchen Fakultät in Paris immatrikulieren und
machte nach zwei Jahren Studiums fein Examen pro
ministerio. Als Pfarrer für Bellevue ernannt, wurde er
am 24. Oktober 1897 in Paris in der Kirche FEtoile ordiniert
. Die hierauf bezüglichen Mitteilungen, vor allem
die vollftändig abgedruckte Ordinationsrede Bs. (15—23)
bilden die fachgemäßeffe Einführung in den von dem
Verf. mit teilnehmendem Verftändnis behandelten Ge-
genftand. In dem folgenden Abfchnitte fchildert B.
zunächft die Aufgabe, vor welche er fich nun geftellt
fah und zu deren Löfung er anfangs in dem begabten
Abbe Philippot einen tapferen Mitarbeiter fand.
Über die Gründung und die Wirkfamkeit der Zeitung,
le Chretien francais, deren erde Nummer am 1. Oktober
1897 erfchien, gibt Cap. III (33—40) nähere Auskunft
: der Verf. glaubt feftftellen zu können, daß
der Chretien francais heute etwa taufend Abonnenten
unter der Geiftlichkeit zählt. Erwägen wir, daß die Zahl der
Priefter, die nicht direkt zu abonnieren wagen, eine ebenfalls
beträchtliche ift, fo darf man fich über den Erfolg
des Blattes gewiß freuen. Aus den acht Jahrgängen des
Chretien francais druckt nun B. eine lange Reihe von Aus-
trittserklärungenab(4i —127),die faft aus allen Diözefen und
allen Rangftufen des Klerus ausgewählt, die verfchie-
denften Seelenftimmungen zum Ausdruck bringen. Unter
diefen Briefen find die einen chriftlichen Inhalts, die anderen
rückfichtslos ungläubig; andere find pietätvoll,
noch andere heftig; die einen voller Schmerzen und
Trauer, andere hochfahrend, ein Freudenruf ob der erlangten
Freiheit. Diefe mannigfachen Äußerungen des-
felben Grundgedankens werden auch bei den Lefern ge-
mifchte Gefühle hervorrufen, immerhin würden fie manche
Beiträge zu einer Pfychologie der Bekehrung liefern,
fofern fie in wirklich religiöfe Erlebniffe und innere Gewiffenskämpfe
einen Blick tun laffen. — Höchft dankenswert
find die weiteren Mitteilungen über das Zufluchtshausund
dasStellenvermittelungsbureau(i25—132), welche
den Evades überaus wichtige Dienfte geleiftet und mehr als
einen aus der materiellen Not errettet und vor dem geldlichen
Untergang bewahrt haben. Bei der Erörterung der
Beziehungen einer Anzahl von Prieftern zu den prote-
ftantifchen theologifchen Frakultäten, namentlich zur Pa-
rifer Schule, wird der deutfchen Wiffenfchaft rühmlich
gedacht und diefelbe als eine Hauptwaffe gegen den
zu bekämpfenden Feind gepriefen. Als Schluß oder
als Zufammenfaffung der neunjährigen Beftrebungen
für die .religiöfe Reform' gibt B. den letzten Bericht,
der durch die Franzöfifche Evangelifationsgefellfchaft
ehemaliger Priefter veröffentlicht wurde: er verbreitet
über .Freunde und Feinde' der von B. vertretenen Sache
ein helles, auch nach den vorhergehenden Mitteilungen
gewiß willkommenes Licht. Eine fchöne Auswahl von
Ordinationspredigten und anderen Reden bildet den
Abfchluß des ganzen Buches. — Über die Zukunft der
hier gefchilderten Bewegung ein Urteil abzugeben, wäre
ein Wagnis. Sollte indeffen der Erfolg den Erwartungen
des tapferen Kämpfers für die Sache des Evangeliums
und der Freiheit nicht entfprechen, fo ift dadurch fein
Unternehmen felbft nicht gerichtet. In der großen
Schilderhebung gegen die Feinde von rechts und links
welche oft ganz vergeffen, daß ,die Politik nicht
genügt, um an die Stelle des fehlenden Gewiffens zu
treten' (232), hat Bourrier feinen Mann geftellt; deshalb
wird auch in der Schar der Edeln, denen die Wahrheit
aller Opfer wert erfchien, fein Name unvergeffen bleiben.
Straßburg i. E. p. Lobftein.

Djuvara, Marcel T., Wiffenfchaftliche und religiöfe Welt-
anficht. Ein Vortrag. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht
1906. (40 S.) gr. 8° M. 1 —

Diefer Vortrag, der an das Auffaffungsvermögen der
Zuhörer hohe Anforderungen ftellte und auch die geiftige