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Ausgabe:

1906 Nr. 13

Spalte:

394

Autor/Hrsg.:

Schwarz, Hermann

Titel/Untertitel:

Der moderne Materialismus als Weltanschauung und Geschichtsprinzip. Fünf Vorträge 1906

Rezensent:

Rolffs, Ernst

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Seite 1

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393

Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. 13.

394

Auch ,Luther und die Anwendung von Gewalt',
Xuther und Hutten und die revolutionäre Adelspartei'
hat Walther fo klargeftellt, daß fie aus dem Zeughaus
der Polemik, wenn diefe nicht rückftändig oder böswillig
fein will, verfchwinden muffen.

Für die ehrliche Polemik bleiben immer noch Fragen
offen. Unter ihnen ift unftreitig die fchwierigfte der
heffifche Ehehandel. ' Was Walther hier bietet, ift
dankenswert, aber eine allfeitig befriedigende Löfung ift
bis jetzt nicht möglich. Sicher hat Walther recht, wenn
er Nik. Paulus gegenüber das Beichtgeheimnis fefthält.
Aber man möchte zuerft fragen, warum Luther und
Melanchthon die Klagen des lüfternen Landgrafen über
feine Gattin als bare Münze nahmen, und doch gewinnt
diefe Frau durch ihr Verhalten während Philipps Ge-
fangenfchaft und im Interim untere Achtung. Noch
fchwieriger ift die richtige Wertung des heffifchen Berichts
über Luthers Äußerungen in Eifenach am 17. Juli
1540. Gewiß darf mit Walther die Einfeitigkeit jenes
Berichts und wohl auch die Minderwertigkeit des
.Huldericus Neobulus' (Köftlin Kawerau 25 530 ff.) hervorgeheben
werden. Aber es bleibt hier ein dunkler
Punkt. Faft fcheint das der Fluch der böfen Tat des
Heffenfürften zu fein, daß eine fo grundehrliche, innerlich
wahre Perfönlichkeit wie Luther für einen Augenblick
in der Frage der zweiten Ehe und in der Frage
der dissimulatio verwirrt und durch altteftamentliche
Beifpiele geleitet werden konnte.

Auch die Frage der Intoleranz Luthers hat Walther
gründlich behandelt und namentlich auch den eigentlichen
Sinn der Proteftation zu Speier gegenüber von

Schwarz, Privatdoz. Dr. II., Der moderne Materialismus als

Weltanfchauung und Gefchichtsprinz.ip. Fünf Vorträge
. Leipzig, Dieterich'fche Verlagsbuchh. 1904.
(IV, 128 S.) gr. 8° M. 2—; geb. M. 2.60

In fünf Vorlefungen, die er im apologetifchen In-
ftruktionskurfus des Zentralausfchuffes für innere Miffion
am 4.—6. Oktober 1904 gehalten hat, gibt der Verf. eine
vernichtende Kritik des modernen Materialismus, die
allerdings noch eindrucksvoller fein würde, wenn fie mehr,
als es gefchieht, die Wahrheitsmomente der materialifti-
fchen Weltanfchauung, fowie die berechtigten Motive
ihrer Entftehung würdigte. Überzeugend wird in der
erden Vorlefung die erkenntnistheoretifche Schwäche des
Materialismus aufgedeckt: feine Anfchauung von den
Atomen beruht auf der Hypoftafierung eines abftrakten
Begriffs und bedeutet eine Verleugnung feiner empirifti-
fchen Vorausfetzungen. Die zweite Vorlefung will die
Frage beantworten: Ift der Materialismus dem Denken
gegenüber notwendig? Sie bietet eine Entwicklungsge-
fchichte des Atombegriffes, um deffen innere Wider-
fprüche nachzuweifen. Dabei hätte noch ftärker betont
werden dürfen, daß die Bildung diefes widerfpruchsvollen
Begriffes durch die Bedürfniffe der Naturwiffenfchaft bedingt
war und ihr wefentliche Dienfte geleiftet hat. Der
Schwerpunkt der ganzen Darftellung liegt in der dritten
Vorlefung ,Die materialiftifche Weltanfchauung im Lichte
der Pfychologie', deren überreicher Stoff in zwei Abfchnitte
gegliedert wird: die amechaniftifche Pfychologie in der
Defenfive und in der Offenfive. Im erften Abfchnitt wird
die phyfiologiftifche Theorie der Bewußtfeinsvorgänge

Ney feftgeftellt und auf das von den Altgläubigen her- einer eingehenden Kritik unterzogen mit dem Ergebnis,

vorgerufene harte Gefetz gegen die Täufer hingewiefen,
wie gegen N. Paulus den grundfätzlichen Unterfchied
von Luthers und Melanchthons Anficht betont und in
dem zweiten Univerfitätsgutachten den wichtigen Unterfchied
von ,follen' und ,mögen' aufgezeigt. Auch wird
von katholifcher Seite jetzt zugeftanden werden müffen,
daß Luther keineswegs das ,Lehren wider allgemein angenommene
Glaubensartikel' mit dem Tod beflraft
wiffen wollte und an Servets Hinrichtung fein Wohlgefallen
bezeugt hätte (N. Paulus). Aber die zwei Uni

daß fie nicht einmal die einfachften Erfcheinungen des
Empfindungslebens ausreichend zu erklären vermag, fondern
fchon im Anfatz falfch ift, indem fie die Großhirn-
rindenltruktur nach Art der Phrenologie pfychologifch
deutet, anftatt das Gehirn als einen ,nervöfen Apparat'
aufzufaffen, ,der ausfchließlich auf die Peripherie des Körpers
, auf die Sinnesorgane und Muskeln zu beziehen
ift und fchlechthin nur biologifch gedeutet werden kann'
(S. 59). Im zweiten Abfchnitt wird befouders aus der
Finheit des Bewußtfeins fowie aus der Mannigfaltigkeit

verfitätsgutachten verraten doch allzufehr Melanchthons der Bewußtfeinsinhalte der Beweis für die völlige Unzu
Geift und Feder. Eine Hinrichtung wegen Irrtümern in länglichkeit der mechaniftifchen Pfychologie geführt,
.geiftlichen Sachen', auch bei ,groben falfchen Artikeln', Leider verliert fich die Beweisführung zu fehr in phyfio-
war gegen Luthers Prinzip. 1530 mag die Kunde von logifche Einzelheiten, anftatt die fchwerwiegenden Ein-
Auguftin Baders Königreich Luther zu dem Gedanken wände zu berückfichtigen, die fich aus den Tatfachen
gebracht haben, die Täufer wollen ,regna mundi zer- der Narkofe wie der das Geiftesleben zerftörenden Gehirn-
ftören'. Aber diefer Gefichtspunkt follte in feinen Schluß- krankheiten gegen die amechaniftifche Pfychologie erheben

laffen. Die vierte Vorlefung kritifiert den Materialismus
als Gefchichtsprinzip, ohne jedoch das relative Recht der
materialiftifchen Gefchichtsauffaffung genügend zu würdigen
. Am fchwächften ift die letzte Vorlefung, die das Proworten
des Gutachtens allein ftehen.

Auch Luthers Derbheit und feine leidenfchaftliche
Sprache im Kampf gegen Zwingli und Ökolampad
bilden den Erdgeruch feiner Arbeit, während für ruhige

Lefer die Anftöße in Luthers Grundfätzen über Ehe, ETie- 1 blem der Willensfreiheit behandelt; fie dringt fo wenig in
fcheidung und Ehehinderniffe durch Walther gründlich be- den eigentlichen Kern der Frage ein, daß das Ganze nur
feitigt find. Wir freuen uns, daß es möglich ift, mit ! gewinnen würde, wenn fie fehlte. Die Korrektur könnte
Hilfe des Handbuchs uns rafch über die immer neu vor- | forgfältiger fein; hier fei nur einiges wenige angemerkt:

S. 16 Z. 9 v. o. .preisgeben' ft. .preisgegeben'. S. 41
Z. 12 v. u. ,phyfifche' ft. .pfychifche'. S. 62 Z. 8 v. u.
,ge[enftändlichen'. S. 77 Z. 12 v. u. ,dem' ft. ,den'. S. 105
Z. 6 v. o. .Studien' ft. ,Stadien'.

Osnabrück. Rolffs.

gebrachten Klagen gegen Luther zu orientieren und fie
zu würdigen.

An kleinen Verfehen fei notiert: Weislinger war wohl
Jefuitenfchüler, aber nicht Jefuit, fondern ein Landpfarrer
(S. 617 Z. 2). Georg Helt in Forchheim ift nicht
richtig (S. 719, Z.30). Er war aus Forchheim, lebte aber
in Deffau. S. 396 Anm. hat Janffen das Recht, die 1

Kenntnis der irrcgularitas perfectae saevitatis bei feinen ' Schian, Paft. Lic. Dr. M., Die Predigt. Eine Einführung

evangelifchen Lefern vorauszufetzen

Nabern. G. Boffert.

n die Praxis. (Praktifch-theologifche Handbibliothek,
herausgegeben von F.Niebergall. II. Band.) Göttingen,
Vandenhoeck & Ruprecht 1906. (VIII, 226 S.) 8°

M. 3—; geb. M. 3.60

Ich begrüße das Erfcheinen diefes Büchleins mit
Freuden, da es durch feine ebenfo warme als frifche
Darftellungsweife wohl geeignet ift, für das homiletifche