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Ausgabe:

1906 Nr. 12

Spalte:

361-362

Autor/Hrsg.:

Jaeger, Paul

Titel/Untertitel:

Zur Ueberwindung des Zweifels 1906

Rezensent:

Niebergall, Friedrich

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Seite 1

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361

Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. 12.

362

laffen durch die Zeichnung Jefu als eines Kindes feiner
Zeit oder eines uns unverftändlichen Ekftatikers; denn
ein ficherer Hauch feines Geiftes berührt uns in den
literarifchen Niederfchlägen feines Wefens und Wirkens.
Diefer Gedanke macht uns auch gefeit gegen den Ver-
fuch, den idealen gegen den hiftorifchen Jefus aus-
zufpielen, der doch nicht Offenbarungsquell fein könne,
denn nicht auf fein Lebensbild, fondern auf fein Inneres
kommt es an, das klar durch die Urkunden hindurch-
ftrahlt. Diefen zentralen Funkt in den großen Zufammen-
hang der Religions- und Geiftesgefchichte zu rücken
und das Ganze unter dem Gefichtspunkt des inneren
Erlebens zu verfolgen, ift der befte Weg zu einer
Apologetik.

Mit diefer ganz befonders fleißigen und gründlichen
Schrift füllten fleh alle eingehend befchäftigen, die ein
Intereffe an der Parole ,Gott in Jefus Chriftus' haben.
Ich ftimme S. völlig und freudig zu und bin dankbar
für die gute und gediegene Begründung der Lofung unferer
theol. Gruppe. Man kann feinen Gedankengang einfacher
auch fo geftalten (Zeitfchr. für Th. und K. Jahrg. 11
S. 269), daß man noch entfehiedener, als er es tut,
den Begriff des Willens in den Mittelpunkt (teilt. Dann
bekommt die göttliche Bekundung an dem Willen Gottes
einen klaren Inhalt und der Begriff der Offenbarung ein
ebenfo einfaches wie allgemeingültiges Kennzeichen. Bei
Jefus kommt es dann auch zuerft auf den Willen an; in
ihm die Offenbarung Gottes zu fchauen, wird dann der
imftande fein, der fo hoch fteht, daß er im Willen Jefu,
kraft der religiöfen Kategorie des Glaubens, den Willen
Gottes zu erkennen vermag. Eine folche Erörterung
wird noch viel mehr pfychologifch, alfo mit dem Begriff
der Deutung und ihren Motiven arbeiten, als es S. tut.
Freilich wird fie mit der Bezeichnung ,wiffenfchaftlich'
nicht fo ficher umgehen, wie es S. bei feiner ge-
fchichtsphilofophifchen Methode vermag.

Heidelberg. Niebergall.

Jaeger, Paul, Zur Ueberwindung des Zweifels. (Lebensfragen
.) Tübingen, J. C. B. Mohr 1906. (VIII, 73 S.)
gr. 8° M. — 90

J. beginnt mit einigen treffenden Bemerkungen über
das Recht und die Gefahr des Zweifels, um dann nach
kurzer Erwähnung der durch die gefchichtliche Kritik
und die Naturwiffenfchaft hervorgerufenen Schwierigkeiten
fein Augenmerk auf die fchlimmfte Gefahr, den
naturaliftifchen Illufionismus, zu richten. Als feine Aufgabe
bezeichnet er richtig und gut die Ablehnung des
naturwiffenfehaftlichen Wirklichkeitsbegriffes, wenn mit
ihm jede andere, nämlich geiftige Wirklichkeit aus-
gefchloffen werden foll. Um die Überzeugung von
einer folchen anzubahnen, wird vorläufig auf das große
Geheimnis des Unendlichen verwiefen, das uns allenthalben
umgibt; der Nachdruck aber liegt auf dem Gedanken
, daß, wie all unfer Wiffen, fo auch das um die
höchfte Wahrheit eine Sache des Willens ift, fodaß der
Zweifel, wie er in ihm begründet ift, auch nur im Willensleben
überwunden werden kann. Alfo bedarf es nicht
nur des Willens zur Wahrheit, fondern auch des Willens
zum Glauben an die Wahrheit. Das ausgeprägte Willensleben
, befonders aber in der Geftalt einer neue Werte
fchaffenden Perfönlichkeit erhebt den Anfpruch auf
felbftändige Realität, ja fogar auf Die Bedeutung, Ziel
und Mittelpunkt der ganzen Welt zu fein. Die größte
Perfönlichkeit aber ift Jefus, die um unfer Vertrauen
wirbt, jedoch nur, um es auf die Macht weiter zu lenken,
ohne die er nichts fein wollte, den Vater. Darum muß
man Willen zum Glauben faffen und die Zweifel über
Bord werfen. Völlig überwunden werden fie freilich
nur durch die Tat; als folche wird nach längeren allgemeinen
Erwägungen knapp angegeben: ,Behandle Gott
als Vater, fo wird er dir zur Wirklichkeit, als Vater!'

Denn es gibt Wirklichkeit, die fleh nur der Tat
erfchließt.

Trotz einiger zufammenfaffender Abfchnitte ift die
Lektüre und das Verftändnis der Schrift nicht leicht.
Nicht nur daß es oft an dem ganz ftraffen Fortfehritt
fehlt, eine gewiffe rhetorifche Fülle macht zugleich mit
einer gewiffen Knappheit an den Hauptknotenpunkten
das Verftändnis oft auch für folche fchwierig, die fich
viel mit folchen Gedankengängen zu befahlen pflegen.
Wir müffen doch alle noch ganz anders lernen, unfer
befonderes Denken an das allgemeine anzufchließen!
Inhaltlich ftimme ich im ganzen mit J. völlig überein.
Nur folgendes hätte ich noch hinzugefügt. Welche
Motive follen denn den Willen zum Glauben an die
Wahrheit bewegen? Bei J. tritt nicht genügend hervor,
daß es fich um Leben und Beftand der fittlichen
Perfönlichkeit und um ein ihr entfprechendes Welt-
verftändnis handelt. Ferner hätte ich mich nicht damit
begnügt, in dem Perfonenleben eine der naturwiffenfehaftlichen
gleichwertige und überlegene Welt aufzuzeigen
; denn Nicht-Natur ift noch nicht Gott; fondern
ich hätte dazu angeleitet, in ihm das Prinzip der religiöfen
Deutung der Welt zu erkennen und zu begründen. Denn
um Deutung handelt es fich im Glauben, um Deutung
mittels des Gedankens ,Gott'. Denn wir kommen nicht
eher zur Ruhe, bis wir unfere Werte in den Schutz der
Allmacht geftellt wiffen. Der Gedanke ,Erkenntnis durch
Tat' wäre m. E. ftatt mit fo vielen abftrakten Erörterungen
beffer fo ausgeführt worden: es handelt fich um das
Wagnis, um die praktifche Plypothefe, Leben und Welt
unter dem Gefichtspunkt ,Der Vater Jefu ift Gott und
mein Gott' anzufaffen. Diefe Hypothefe wird bewahrheitet
durch die folgerichtige Durchführung diefes Gedankens
im Leben, die ein umfaffendes Verftändnis der
Welt, Kraft und Frieden gibt. So habe ich die mir mit J.
gemeinfame voluntariftifche Grundauffaffung des öfteren
auszubauen verflicht. Denkgewohnten und denkfrohen
Lefern wird die Schrift ohne Zweifel willkommene Arbeit
und erwünfehte Förderung geben.

Heidelberg. Niebergall.

Spitta, Friedrich, „Ein feite Burg üf unfer Gott". Die Lieder
Luthers in ihrer Bedeutung für das evangelifche
Kirchenlied. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht
1905. (VIII, 410 S.) gr. 8° M. 12—; geb. M. 13.20

Der Nebentitel des Werkes gewinnt feine Rechtfertigung
und Erläuterung in Kapitel VI (S. 354L): ,Luther
der Begründer des evangelifchen Kirchenliedes' mit den
drei Abfchnitten: ,Luthers geiftliche Lieder. Das evangelifche
Kirchenlied der Reformationszeit. Die Folgerungen
für die Praxis der Gegenwart'. Den hauptfächlichen Inhalt
der vorhergehenden Kapitel bildet die Unterfuchung
über die Entftehungszeit der geiftlichen Lieder Luthers,
und in diefer Unterfuchung nimmt die Ausführung über
die Entftehungszeit von ,Ein fefte Burg' die vornehmfte
Stelle ein.

Der herkömmlichen Anficht über die Entftehungszeit
der geiftlichen Lieder Luthers liegt eine unrichtige Deutung
der Äußerungen Luthers in der Fortnula Missae 1523
[poetae nobis de sunt, aut nondum cogniti sunt, gut pias et
spirituales cantilenas [ut Paulus vocat) nobis conciunent
quae dignae sint in ecclesia Dei frequentari. cf. Ed. Francop.
Upera tat. var. arg. VII 17) und in dem Briefe an Spa-
latin aus dem Anfange 1524 (de Wette 2 saof. Enders 4273 f)
^gründe (consilium est ... . psalmos vemaculos condere

1 Pro vulp° • ■ ■ Quaerimus itaque undique poetas . . . oro.

j ut nobjscum in hac re labores . . . Ego non habeo tantum

I grattae, ut tale, quid possem quäle vellem). Luther habe,
u8tj°an' da er geschickte Dichter nicht gefunden, felbft
Hand ans Werk gelegt und für den praktifchen Kultus-

! zweck die Lieder gemacht, die 1524 in dem Achtlieder-