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Ausgabe:

1906 Nr. 11

Spalte:

336-338

Autor/Hrsg.:

Arnal, André

Titel/Untertitel:

La Personne du Christ et le Rationalisme allemand contemporain 1906

Rezensent:

Lobstein, Paul

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Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. II.

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auf prüft er die governmental theory des Hugo Grotius;
das nun folgende Kapitel über eine Reihe neuerer Theologen
, welche dem Standpunkt der penal satisfaction zugetan
find, berichtet über die Löfungsverfuche amerikani-
fcher Theologen Shedd f 1894, Strong, Hodge f 1878,
fchottifcher Theologen Smeaton und Crawford, endlich
über Dale, Forreft, Denney; auch das Kapitel modern
ethical satisfaction theories führt eine Reihe von Werken
an, die zum Teil eine ftattliche Zahl von Auflagen erlebt
haben, in den Kreifen deutfcher Theologen aber fich
einer viel geringeren Bekanntfchaft erfreuen. In dem
Kapitel über ,moderne fubjektive Theorien' begegnet uns
wieder eine beträchtlichere Schar deutfcher Theologen
(Schleiermacher, C. J. Nitzfeh, Rothe, Hofmann, Ritfehl),
zu denen aus dem franzöfifchen Proteftantismus Bouvier
und Sabatier, aus dem englifch-amerikanifchen Maurice,
Caird, Jowett; Bufhnell, Mulford, Clarke hinzutreten. Selbft-
verftändlich kann über diefe in reicher Mannigfaltigkeit
auftretenden, manchmal nur durch Nuancen fich unter-
fcheidenden Verfuche in diefer fummarifchen Anzeige
nicht näher berichtet werden.

Das den dogmenhiftorifchen Teil zufammenfaffende
Kapitel (239—266) bildet zugleich den Übergang zum
letzten ,aufbauenden' Teil. Aus der Umficht und Gründlichkeit
, mit welcher der Verf. die verfchiedenen Beziehungen
des Verföhnungswerkes einer eingehenden dog-
matifchen Betrachtung unterwirft, erhellt, daß St. die
fcharffinnigen und vielfeitigen Unterfuchungen des 3. Bandes
von Ritfchls Hauptwerk gebührend zu Rate gezogen
und zugleich felbftändig verwertet hat. St. ftellt zunächft
die Grundzüge des chriftlichen Gottesbegriffs feft; er
läßt dann ein Kapitel über die Perfon Chrifti folgen,
den er in erfter Linie als Vertreter und Offenbarer Gottes
fchildert; die weiteren, wieder mit reichem biblifchen Stoff
ausgeflutteten Ausführungen über die Sünde fchildern
diefelbe ihrem Prinzip nach als widergöttliche Selbftfucht.
Die der Natur und dem Zweck der Strafe, fowie dem
Wefen der Sündenvergebung geltenden Abfchnitte bewegen
fich durchaus auf der Linie des evangelifchen
Verftändniffes des Heilswerkes, das nicht in ftarrer Objektivität
, fondern in fteter Beziehung auf den Glauben
betrachtet wird. Um die Wichtigkeit der im Folgenden
behandelten Probleme anzudeuten, wird es genügen, den
Gegenftand der weiteren Kapitel anzugeben: die Beziehung
Chrifti zur Menfchheit, die Beziehung Chrifti zur menfeh-
lichen Sünde, die Notwendigkeit des Todes Chrifti, die
in dem Werke Chrifti Gott geleiftete Genugtuung (wird
von dem Verf. zurückgewiefen: vielmehr God confirmed a
love whicli he alreaäy cherished for us in the fact tliat
Christ died for us, Rom V, 8 p. 429), ewige Verföhnung,
Erlöfung durch die Gemeinfchaft mit Chriftus, der chrift-
liche Charakter (ein Kap., das die edle Irenik des Verf.s
aufs fchönfte illuftriert), Erlöfung und Gottesreich (nicht
bloß individuelle, fondern foziale Tragweite des chriftlichen
Heils), Erlöfung und menfehliche Beftimmung
(efchatologifche Ausblicke: die Erziehung durch die göttliche
Gnade fetzt fich im Jenfeits fort 527). Die letzten
Seiten bringen den Ertrag des Ganzen in zehn ausführlichen
Thefen zu lichtvollem Ausdruck.

Stevens' Buch gewährt einen höchft lehrreichen Blick
in die fruchtbare Tätigkeit, welche die Theologie eng-
lifcher Zunge zur Erforfchung des Heilswerkes Chrifti
entfaltet hat. Er felbft gehört in die Reihe der Theologen
, die in Clarke und Tymm ihre bedeutendften
Führer anerkennen (vgl. S. 532). Gegen jede Reprifti-
nation der juriftifchen Verföhnungslehre, wie fie mit be-
fonderem Erfolg von Dale verfucht wurde, erklärt fich St.
mit einem religiöfen und fittlichen Pathos, das in den
Ausfagen Jefu feine feftefte Stütze findet. Daß er zum
guten Teil in der Schule deutfcher Wiffenfchaft gebildet
worden, ift bereits bemerkt. Doch hat er aus dem
eigenen Schatz zu den überkommenen Gütern wertvolle
Beiträge hinzugefügt: die ftete Richtung auf das Praktifchc

als das eigentliche Gebiet religiöfer Betätigung, der
Widerwille gegen unfruchtbare fpitzfindige Scholaftik
(wie treffend fertigt er die altproteftantifche Lehre vom
ordo salutis ab!), die innige Verbindung des Religiöfen
I und Ethifchen als das Merkmal echten gefunden Chriften-
j tums, befonders auch die klare und lebendige Form der
Darfteilung, das find Vorzüge, die St.s Werk in hohem
Maße auszeichnen und, abgefehen von den reichhaltigen
I Belehrungen über die englifch-amerikanifche Theologie,
auch uns wefentliche Dienfte leiften und nachhaltige Förderung
gewähren können. ■— Die wunderfchöne Aus-
ftattung der Sammlung der International theological library
(Clark, Edinburgh) ift rühmlichft bekannt.

Straßburg i. E. P. Lobftein.

Arnal, Lic. en theo). Andre, La Personne du Christ et le
Rationalisme allemand contemporain. Paris, Fischbacher
1904. (423 p.) gr. 80 fr. 7.50

Unter dem deutfehen Rationalismus der Gegenwart
meint der Verf. die Theologie Biedermanns, Pfleiderers und
Liplius', die er nach ihren gemeinfamen oder verwandten
Seiten darfteilen will, ohne die Unterfchiede zu verkennen
, welche zwifchen diefen Theologen obwalten.
A. ift mit den Werken der genannten Religionsphilo-
fophen und Theologen genau bekannt, und führt fie in
ziemlicher Vollftändigkeit auf (8—11). Freilich begegnet
ihm ein fchlimmes Verfehen, wenn er verfichert, daß
Pfleiderers Dogmatik in keinem überfichtlichen Gefamt-
werk zufammengefaßt ift, denn Pfleiderers Grundriß der
chriftlichen Glaubens- und Sittenlehre ift feit dem Jahre
feines Erfcheinens (1880) oft genug aufgelegt worden,
um die Aufmerkfamkeit eines Kritikers, der fich fpeziell
mit ihm abgeben wollte, auf fich zu lenken. Auch die
für fein Thema fo wichtige Kontroverfe Pfleiderers mit
P. Schmidt über die kirchliche Anbetung Chrifti (Proteft.

| Kirchenzeitung, 1880. Nr. 20. 22. 25. 26. 28) ift
dem Verfaffer offenbar entgangen. Dasfelbe gilt von
Biedermanns äußerft charakteriftifchem Vortrag, Unfere
Stellung zu Chriftus 1882, fowie von dem Vortrag,
der den entfeheidenden Wendepunkt in der Bewegung
Lipfius' von Biedermann zu Ritfehl bezeichnet, Die Bedeutung
des Hiftorifchen im Chriftentum 1881.

Sonft bietet die Schrift weniger und mehr als die
Überfchrift zu verheißen fcheint. Einerfeits gibt der
Verf. nicht eine zufammenhängende Darfteilung der
Grundgedanken jener drei ,Vertreter des deutfehen Rationalismus
in der Gegenwart'; höchftens deutet er in
feiner Einleitung auf die Entftehungsgründe und die
charakteriftifchen Eigentümlichkeiten der drei Syftemehin.
So kommt z. B. die berühmte Biedermannfche Unter-
fcheidung von Perfon und Prinzip in der Erfcheinung
Chrifti erft fpät und ganz gelegentlich zur Sprache
(279 sq). Ebenfowenig gewinnen wir in die Fortbildung
der Lipfiusfchen Chriftologie einen genügenden Einblick.
Endlich erfahren wir kaum etwas von der Virtuofität,
mit welcher Pfleiderer die altkirchlichen Formeln zu deuten
und deren religiöfen Gehalt zu lebendiger Anfchauung
zu bringen weiß. — Andererfeits gibt A. einen vollftändigen
Entwurf feiner chriftologifchen Auffaffung, indem er zunächft
vom gefchichtlichen Chriftus ausgehend eine Reihe wichtiger
Probleme aus dem Leben Jefu befpricht, um dann
nach regreffiver Methode zu den fogen. metaphyfifchen
Fragen, Präexiftenz, Trinität, ufw. aufzufteigen. Dem von
ihm felbft, nach feinen perfönlichen Überzeugungen und
Grundfätzen gezeichneten Rahmen fügt er dann einzelne
aus Biedermann, Lipfius und Pfleiderer entlehnte Notizen
ein, die er oft genug nach einem durchaus atomiftifchen
Verfahren aus dem Zufammenhang reißt und deshalb
nicht mehr in ihrer urfprünglichen Tragweite und Bedeutung
wiedergibt. Zuweilen gefchieht es auch, daß
bei der Entwickelung feiner eigenen chriftologifchen An-

I ficht er feine Vordermänner ganz aus den Augen ver-