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Ausgabe:

1906 Nr. 1

Spalte:

7-8

Autor/Hrsg.:

Sellin, Ernst

Titel/Untertitel:

Die Spuren griechischer Philosophie im Alten Testament 1906

Rezensent:

Bertholet, Alfred

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Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. 1.

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Friedländer, M., Griechifche Philofophie im Alten Teltament.

Eine Einleitung in die Pfalmen- und Weisheitsliteratur.
Berlin, G. Reimer 1904. (XX, 223 S.) gr. 8° M. 5.40
Sellin, Dr. Ernft, Die Spuren griechilcher Philofophie im
Alten Teltament. Leipzig, A. Deichert, Nachf. 1905. (32 S.)
gr. 8° M. — 60

Ich habe mit Vergnügen Friedländers temperamentvolles
Vorwort zu feinem Buche gelefen. Nicht gleich
erfreulich ift mir feine eigentliche Lektüre geworden. Es
berührt wenig angenehm, immer wieder dem mit großer
Plerophorie vorgetragenen Gedanken zu begegnen, als
hätte es der Entdeckungen des Verfaffers bedurft, um
uns über die Zeit von Efra oder Alexander bis zu den
Makkabäern ein völlig neues Licht aufgehen zu laffen:
vgl. außer der herablaffenden Bemerkung S. 158, A. 2
z. B. S. 204: ,Sind unfere bisherigen Ausführungen richtig
, dann erhellt fich uns weithin eine Periode, die fo
lange in Dunkel gehüllt gewefen, und aus der kein
Lebenszeichen zu uns zu dringen fchien, die aber gleichwohl
Epochales {sie) leiftete: dann lebt vor unfern Augen
eine totgeglaubte Zeit auf, in der Israel wie nie vorher,
eine erftaunlich reiche Geiftesarbeit vollbracht, indem es
über Efra und Nehemia hinweg den von den großen
Propheten vorgezeichneten Weg einfehlug, der in die
Weltweisheit Griechenlands ausmündete ohne fich in ihr
zu verlieren' (vgl. auch S. 177). Diefe Erkenntnis ift teilweise
keineswegs neu — z. B. hat fie der Referent in
feinem Buche über die Stellung der Israeliten und der
Juden zu den Fremden (Abfchnitt VI, Kap. 2) fchon benimmt
ausgefprochen und ift fich nicht bewußt gewefen,
damit gänzlich neue Wege eingefchlagen zu haben. Erft
recht wenig Neues bieten Friedländers Ausführungen
über Koheleth; fie laffen fogar das wichtige, gegenwärtig
ftark erörterte Problem feiner Einheitlichkeit außer Betracht
. Was in feinem Buche dagegen z. T. neu ift, die
Betonung des griechifchen Einfluffes auf Proverbien, Hiob,
Jefus-Sirach und das Gros der Pfalmen, — dafür ift er
uns den Beweis in der Mehrzahl der Fälle fchuldig geblieben
, und die zwingende Logik konkreter Gründe vermag
weder durch allgemeine Behauptungen noch durch
das Pathos, mit den fie vorgetragen werden, erfetzt zu
werden. Aber Allgemeinheiten und Pathos an Stelle
exakter Beweisführung — an diefem Grundübel krankt
m. E. Friedländers Buch.

Einen ähnlichen Vorwurf erhebt dagegen mit vollem
Rechte Sellin in feiner kleinen Gegenfchrift (urfprünglich
einer in der Wiener evang.-theolog. Fakultät gehaltenen
Dekanatsrede): ,Der fchwerfte prinzipielle Fehler, den
wir dem Verfaffer zur Laft legen müffen,' fagt er, ,ift der,
daß er, ohne fich die Mühe zu nehmen eine exakte Beweisführung
zu verfuchen (eine folche gibt er nur in Bezug
auf die Sapientia Salomonis in Anlehnung an Pflei-
derer und Siegfried S. 189), unbeftimmte Einflüffe
griechifcher Philofophie unzählige Male finden will, wo
ein anderer unmöglich folche bemerken kann. Es geht
ihm wie einem Arzte, der fich die Mitmenfchen folange
daraufhin anfleht, ob er nicht Krankheitsfymptome an ihnen
entdecken könne, bis er welche findet, fo feft fie auch
verfichern, fie fühlten fich kerngefund' (S. 14). Übrigens
hätte der ganze Abfchnitt über die apokryphe Weisheit
Salomonis in einem Buche über griechifche Philofophie
im A. T. ruhig ungefchrieben bleiben können,
abgefehen davon, daß die Einwirkung griechifcher Gedanken
auf fie nicht mehr erft bewiefen zu werden braucht.

Auch fonft fcheint mir Sellin in feiner Kritik Friedländers
großenteils das Richtige zu treffen; nur würde
ich z. B. im Urteil über die Pfalmendichter (vgl. S. 23)
fehr viel zurückhaltender fein. Im ganzen aber unter-
fchreibe ich, was er S. 28 zufammenfaffend fagt: ,Beein-
fluffungen durch den griechifchen Kaufmann können wir
wohl auch in Prov. 1—9 und Hiob konftatieren, den Kaufmann
, der die Waren feiner guten wie fchlechten heimatlichen
Kultur importiert und dazwifchen auch mit der
Bildung feines Volkes daheim und deffen Weifen, fo gut
er fie verfteht, renommiert; aber Einflüffe der eigentlichen
griechifchen Philofophie fuchen wir im A. T. bis
auf Koheleth vergeblich. Die haben fich nur in Alexandrien
ftärker geltend gemacht. Immerhin muß auch jenes
Moment mehr betont und berückfichtigt werden als gemeiniglich
gefchieht'. Dabei ift Sellin durchaus die Möglichkeit
zuzugeben, daß fich griechifche Einflüffe in Pa-
läftina auch fchon vor den Tagen Alexanders gemeldet
haben; nicht freilich als fpräche dafür Hef 27, 13, worauf
er fich beruft (S. 29); denn Hef 27, 9 b—25 a ift m. E.
fekundär; wichtiger aber ift die Hindeutung auf den älteren
Import ganz eigenartiger griechifcher Waren, wie
er z. T. durch Sellins eigene Funde erwiefen worden ift,
ohne daß ich darin indeffen die minderte Veranlaffung
zu einer früheren Datierung von Prov., Hiob und den
meiften Pfalmen zu fehen vermag. Endlich ift Sellin
(S. 30) felbftverftändlich im Rechte mit feinem Proteft
gegen Friedländers Behauptungen (S. 205. 208), daß die
Weisheitsliteratur die Schöpferin der Weltreligion, das
Chriftentum die Schöpfung des Allerweltjudentums fei.

Im Einzelnen hätte ich gegen Friedländers Darfteilung
noch manchen Einwand zu erheben, vor allem den,
daß er allen Univerfalismus im Judentum viel zu aus-
fchließlich als ein Produkt helleniftifchen Geiftes in An-
fpruch nimmt (vgl. z. B. S. 124), daß er den Gegenfatz
zwifchen Frommen und Gottlofen feiner Entftehung nach
viel zu einfeitig aus dem Zufammentreffen der jüdifchen
Kultur mit der helleniftifchen herauswachsen läßt (vgl.
z.B. S. 15), als hätte er nicht latent fchon zuvor beftanden,
man denke nur an den Kampf eines Efra und Nehemia
mit den fremdenfreundlichen Elementen ihrer Zeit! Ferner
legt er ein zu großes Gewicht auf den Anfang diefes
Zufammentreffens, während die eigentlichen Parteigegen-
fätze doch wohl erft akut auseinandertraten, als fich die
Juden mit dem konzentrierten Hellenismus, wie er fich ihnen
im zweiten Jahrhundert aufdrängte, auseinanderzufetzen
hatten: damit hängt zufammen Friedländers Tendenz,
Verfchiedenes zumal in den Pfalmen, wofür die Makka-
bäerperiode die natürlichfte Entftehungszeit ift, in vor-
makkabäifche Zeit zu datieren (vgl. z. B. S. 17). Materiell
zeichnet er den Gegenfatz der Parteien, fpeziell
der gottlofen, m. E. zu ftark intellektualiftifch (z. B. S. 31 f.
43. 50.) Die Unbekanntfchaft mit gewiffen neueren
Werken wie z. B. Duhms Pfalmenkommentar, in welchen
Friedländer über den Kampf der Parteien auch einiges
hätte finden können, wird durch das Prunken mit einer
ermüdenden Menge endlofer wörtlicher Zitate noch bei
Weitem nicht gut gemacht. Eine fremde Note, die zu
ftark nach Tendenz klingt (vgl. S. 11 f), wird in die Auf-
faffung Hiobs hineingetragen, wenn Fr. fagt, nicht blos
gegen die alten, in die neue Zeit nicht mehr paffenden
Überlieferungen ziehe er mit rückfichtslofer Energie zu
Felde, fondern noch mehr gegen die neue mit der weltlichen
Philofophie aufgekommene, alle feften und Schutz
gewährenden Dämme wegflutende Richtung (S. 94). In
Prov. foll die <Tn:ö ,Perfonifikation des zügellofen ftracks
zum Abfall führenden neuen Geiftes' fein, das Gegenftück
zu der ,auf allen Straßen predigenden Frau Chokma'
(S. 72). Fr. beruft fich für diefe Deutung auf die älteften
Exegeten, den Talmud, die früheften Kirchenlehrer, ja
fchon die griechifchen Bibelüberfetzer, und Sellin gibt
ihm Recht (S. 7). Ich weiß nicht, wie fich diefe Auffaf-
fung angefichts von Prov. 7, fpez. V. 19 f. durchführen
läßt, und kann darin nur einen Rückfall in die verpönte
frühere allegorifierende Auslegungsweife fehen. Für verfehlt
halte ich die Datierung Ruths in die griechifche Zeit
(S. 222) und der Sapientia in den Beginn des zweiten
vorchriftlichen Jahrhunderts (S. 187).

Bafel. Alfred Bert hol et.