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Ausgabe:

1906

Spalte:

281-283

Autor/Hrsg.:

Kirn, Otto

Titel/Untertitel:

Grundriß der Theologischen Ethik 1906

Rezensent:

Wendt, Hans Hinrich

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Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. 9.

282

felbft bewußtes und wollendes Ich hervor' (216). Von
diefem durch den johanneifchen Prolog gefchärften Blick
in die ewigen Verhältniffe aus, wendet fich Sch. der Heils-
gefchichte mit zwei Fragen zu: 1.) weshalb die Menfchwer-
dung des Sohnes Gottes? fie hat ihren durchfchlagenden
Grund in der Sünde; 2.) welches ift die Art der Menfchwer-
dung? ,Es handelt fich um eine allmächtige Umfetzung
der Seinsweife des Logos durch Gott ... Die Evangelien
erzählen uns die Thronbefteigung eines Königs. Das drücke
ich in meiner Weife aus: die Gefchichte Jefu bis zur Erhöhung
ift der Hergang, in welchem Jefus die Weltherrfchaft
empfing, die ihm gebührte, die ihm gehörte'' (220.
222). Auf die weitern Feinheiten diefer Konftruktion
braucht nicht näher eingegangen zu werden. Haben wir
noch feftgeftellt, daß das Kind, das Gottmenfch ift, vom
Vatergott voll zur gottmenfchlichen Perfönlichkeit aus-
geftaltet wurde, daß Jefus in fich ohnmächtiger Mcnfch
war, weder allwiffend, noch allgegenwärtig, noch allmachtig
, daß er aber der ewige Sohn, aus Gott lebte und
über Gottes Macht verfügte, daß der Nerv des Todes
Jefu in dem momentanen Aufhören des Seins Gottes in
ihm beftand, fo haben wir die wefentlichften Gedanken
des Verf.s wiedergegeben. Es fei ausdrücklich bemerkt,
daß Sch. zur Begründung derfelben fich nicht mehr auf
die Methode hiftorifcher Unterfuchung beruft: er bewegt
fich in der Kategorie des ,Übergefchichtlichen'. Angefichts
der abenteuerlichen Kombinationen diefer dogmatifchen
Phantafie, kann man nicht umhin es zu bedauern, daß
Sch. das Feld feiner Darfteilung nicht etwas erweitert
hat. ,Abfichtlich unterlaffe ich die Auseinanderfetzung
mit der Theologie Ritfchls und der Männer, die prinzipiell
genommen noch feine Schüler find. Diefe Theologie ift
nicht mehr modern' (160—161). In diefer Haft, mit welcher
Sch. die Ritfchlfche Theologie als veraltet von der
Tagesordnung abfetzt, regt fich vielleicht die dunkle
Ahnung, daß fie die Formel liefern könnte, womit das
unheimliche Gefpenft der in angeblich moderner Tracht
aufgeputzten Schäderfchen Chriftologie zu bannen und
in das Grab einer längft erftorbenen Scholaftik zurück zu
jagen wäre.

2. — Der Beitrag Schlatters ,Atheiftifche Methoden
in der Theologie' knüpft an den von P. Jäger in der
Chriftlichen Welt (1905, Nr. 25) veröffentlichten Artikel
,Das atheiftifche Denken der neueren Theologie' an. Die
vier Fragen, in welche er feinen Auffatz zerlegt: ,Soll
auch die Dogmatik atheiftifch fein? Warum foll die Re-
ligionsgefchichte atheiftifch fein? Was verlieren wir mit
der atheiftifchen Methode? Was gewinnen wir mit der
atheiftifchen Methode?' werden fchwerlich das hier aufgeworfene
Problem fördern, deffen unklare Stellung in
dem von Jäger akzeptierten Schlagwort ,Atheismus'
feinen Grund hat. Bezeichnet doch diefer Ausdruck felbft
eine fcharf prononzierte dogmatifche Pofition, während
er angeblich eine gegen den Gottesgedanken neutrale
Haltung ausfagen foll; in der Prägung des Begriffs Atheismus
liegt alfo keineswegs die Bürgfchaft für die Uberwindung
der dogmatiftifchen Methode. Vielleicht hat die
richtige Wertung diefer Tatfache den Verf. gegen die in
"er Jägerfchen Thefe enthaltene Wahrheit eingenommen
und ihm nicht geblattet, dem Gegner volle Gerechtigkeit
widerfahren zu laffen.

Straßburg i. E. P. Lobftein.

Kirn, Prof. D. Otto, Grundriß der Theologifchen Ethik.

Leipzig, A. Deichert Nachf. 1905. (M, 72 S.) gr. 8°

M. 1.40; geb. M. 2 —

Diefer .Grundriß der Theologifchen Ethik' foll ebenfo
wie der ein Jahr zuvor veröffentlichte .Grundriß der Evan-
gelifchen Dogmatik' zunächft den akademifchen Hörern
des Verf.s eine kurze Überficht über den im Kolleg behandelten
Stoff geben und die Hauptergebniffe der Be-
fprechung vergegenwärtigen. Er ift für diefen Zweck

gewiß fehr praktifch. Er Hellt ein fchönes Zeugnis dafür
dar, wie der Verf. mit aufgefchloffenem Verftändnis für
die modernen ethifchen Probleme feinen Hörern eine
befonnene chriftliche Stellungnahme zu denfelben zu
vermitteln fucht. Den Fachgenoffen wird an einem derartigen
Grundriffe vor allem die Dispofition interefrieren.
Denn es ift nicht leicht, den Stoff der theologifchen Ethik
fo anzuordnen, daß einerfeits die fpezififch ethifchen Ge-
fichtspunkte, die in einer theologifchen Ethik ebenfo wie
in einer philofophifchen berückfichtigt werden müffen,
und andrerfeits auch die fpezififch chriftlichen Gefichts-
punkte, durch die der ethifche Stoff einer einheitlichen
chriftlichen Gefamtanfchauung untergeordnet wird, gehörig
zur Geltung kommen.

Im erften Teile entwickelt K. die .ethifche Prinzipienlehre
' in vier Kapiteln, die vom Subjekt der Sittlichkeit,
dem Wefen des Sittlichen, der Begründung des Sittlichen
und den ethifchen Prinzipien des Chriftentums handeln.
Hier habe ich mich darüber gewundert, daß das Gewiffen
erft in der zweiten Hälfte des dritten Kapitels, d. h. am
Schluffe aller prinzipiellen Erörterungen über das Sittliche
im allgemeinen befprochen wird, während es m. Er. an
den Beginn diefer Erörterungen gehörte. Wenigftens
wenn man mit K. das fittliche Handeln definiert als ,die
praktifche Anerkennung unbedingt verpflichtender Normen
und unbedingt aufgegebener Zwecke' (§ 13) und
wen man andrerfeits mit ihm anerkennt, daß alle Gewiffensbildung
,an ein urfprüngliches — — Gefühl für
die unbedingten fittlichen Forderungen und Werte anknüpft
' (§ 18), kann man das Wefen des Sittlichen doch
wohl nur mittelft einer Unterfuchung des Gewiffensinhalts
recht erkennen. Die von K. in § 11 und 12 gegebenen
Ausfagen über das formale und das materiale Wefen
des Sittlichen fcheinen mir mit der fpäteren Anerkennung
des im Gewiffen gegebenen Gefühls für die unbedingten
fittlichen Forderungen und Werte nicht recht auseinandergefetzt
zu fein.

Im zweiten Teil beginnt K. feine .fyftematifche Dar-
ftellung des chriftlich-fittlichen Lebens' damit, daß er in
zwei Kapiteln den .Ausgangspunkt der chriftlich-fittlichen
Lebensbewegung (Sünde und Erlöfung)' und ,das Werden
der chriftlich-fittlichen Perfönlichkeit' behandelt. In diefen
Abfchnitten müffen die Verbindungslinien zwifchen der
Dogmatik und der theologifchen Ethik gezogen werden.
Es muß gezeigt werden, daß das neue Leben, das fich
in dem auf dem Boden der göttlichen Heilsgnade flehenden
Chriften entwickelt, ein folches wahrhaft ,fittliches'
Leben ift, welches den vorher gegebenen Beftimmungen
des Wefens des Sittlichen entfpricht. Diefe Verbindungslinien
fcheinen mir nicht kräftig genug gezogen zu fein.
Die großen Probleme, inwiefern für den Chriften im
Gnadenftande unbedingt verpflichtende Normen gelten
und worin für ihn die treibenden Motive zur Anerkennung
und praktifchen Befolgung diefer unbedingten Normen
liegen, finden keine fcharfe Beantwortung. Ein Satz wie
der, ,daß das fittliche Leben des Chriften feine maßgebenden
Antriebe und Ziele aus der göttlichen Gnadenoffenbarung
fchöpft, die ihre fittliche Norm in fich felbft trägt'
(§ 27)i verhüllt die Schwierigkeit diefer Probleme mehr,
als daß er fie aufklärt.

Im dritten und vierten Kapitel diefes zweiten Teils
fchildert K. die Entfaltung der chriftlich-fittlichen Perfönlichkeit
und die Betätigung der Sittlichkeit in der
Gemeinfchaft. Obgleich er vorher in § 23 erklärt hat,
die Einteilung des ethifchen Stoffs in Güter-, Tugend-
und Pflichtenlehre fei ungeeignet, weil fie dazu nötige,
denfelben Stoff nur unter verfchiedenem formalen Ge-
fichtspunkt dreimal zu behandeln, erfcheinen jetzt doch
Tugendlehre und Pflichtenlehre neben einander. Die chriftliche
Sittlichkeit wolle 1) als bereits gewordener fittlicher
Charakter, d. h. als Tugend, und 2) als noch zu leidende
fittliche Arbeit, d. h. als Pflicht betrachtet fein (§ 34).
Die Pflichtenlehre wird nach allgemeinen Erörterungt n