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Ausgabe:

1906

Spalte:

5-6

Autor/Hrsg.:

Köberle, Justus

Titel/Untertitel:

Sünde und Gnade im religiösen Leben des Volkes Israel bis auf Christum. Eine Geschichte des vorchristlichen Heilsbewußtseins 1906

Rezensent:

Steuernagel, Carl

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Seite 1

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s

Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. 1.

6

Sie nehmen auf Arbeiten von Budde, Giefebrecht, ! behandelt als die Gnade. Viele Seiten werden mit Zu-
Guthe und befonders Sellin, fowie auf v. Orellis eigene j fammenftellungen von Ausfagen über die Sünden Israels
Arbeiten Bezug und zeigen bisweilen eine etwas freiere I gefüllt, obwohl hier ein paar charakteriftifche Stellen
kritifche Stellung als der Text; z. B. wird zugegeben, ! genügt hätten. Sehr ausführlich wird erörtert, was als

daß Ex. 2024 nicht, wie Robertfon meint, von zeitlich
aufeinanderfolgenden Heiligtümern redet, fondern von
volkstümlichen Lokalheiligtümern, die unbefchadet der
Einheit des Nationalheiligtums geftattet werden (S. 299
Note 1).

Halle a. S. C. Steuernagel.

Köberle, Prof. Lic. theol. Juflus, Sünde und Gnade im reli-
giöfen Leben des Volkes Israel bis auf Chriftum. Eine
Gefchichte des vorchriftlichen Heilsbewußtfeins. München
, C. H. Beck 1905. (VIII, 685 S.) gr. 8° M. 12.—

An monographifchen Unterfuchungen über die Gefchichte
des religiöfen Lebens Israels herrfcht noch immer
ziemlicher Mangel. Man wird daher Köberles eingehende
Unterfuchung über eins der zentralften Stücke
des religiöfen Lebens Israels mit Dank und Freude begrüßen
, und das um fo mehr, als fie durch verfchiedene
Vorzüge ausgezeichnet ift. Dahin ift vor allem zu rechnen
, daß K. nicht eine Lehre über Sünde und Gnade
entwickelt hat, fondern im Rahmen einer Gefchichte des
religiöfen Lebens die bunte Mannigfaltigkeit der An-
fchauungen und Stimmungen, die uns in den Quellen
entgegentreten, zu fchildern und ihre Bedeutung für das

Ganze des religiöfen Lebens einer jeden Periode zu | faffung des Ebed die kurze Angabe genügt, daß K. ihn

Sünde aufgefaßt ift, was als fittliche oder religiöfe Pflicht
gilt, wie man fich zur Sünde der Väter und zur eigenen
Sünde ftellt, wie man fich die Vergeltung Gottes denkt etc.
Uber die Bedingungen und Motive der Gnade hört man
viel weniger. Bei der Behandlung des fpäteren Judentums
kommen auf Sünde und Vergeltung die S. 415—597,
auf Buße und Gnade S. 597—638. Bei der Behandlung
Deuterojefajas heißt es (S. 240) einfach: ,Daß die Wiederkehr
der Gnade Jahwaes an fittliche Bedingungen geknüpft
ift, war dem Verfaffer von Jef. 40fr. felbftverftänd-
lich, er hofft ja auch, daß gerade die Erlöfung Israel zur
fittlichen Umkehr führen werde 4422'. — Sehr häufig
find ferner Probleme erörtert, die mit dem Thema nur in
fehr lofem Zufammenhang ftehen. Auch dadurch fchwillt
die Darftellung bisweilen fo an, daß man den Hauptfaden
faft aus den Augen verliert. Bei der Befprechung Deuterojefajas
wird z. B. erwähnt, daß der Hinweis auf die
Schöpfung zum Erweife deffen dienen folle, daß Jahwae
die Macht habe, Israel zu erretten; wozu mußte in diefem
Zufammenhang erörtert werden, wie fich die Schöpfungs-
vorftellung Deuterojefajas zu der babylonifchen verhält
(S. 238 t.)? Wozu der lange Exkurs über die Ebed-Jahwae-
Frage (S. 240—245)? Genügte es nicht, daß die literar-
kritifche Beurteilung fchon auf S. 233 in einem Satz
angegeben war, und hätte nicht auch betreffs der Auf-

charakterifieren bemüht gewefen ift; er definiert nicht i kollektiv = Israel deutet? ■— Vor allem aber vermißt
Begriffe, fondern fchildert die lebendige Wirklichkeit. ! man eine fcharfe Charakterifierung der einzelnen Perioden
Damit hängt es zufammen, daß die Darftellung nicht ! und der Gedanken einzelner Perfonen oder Parteien. Frei-
fyftematifch, fondern nach Perioden gegliedert ift (vor- | lieh hat K. die zahllofen Einzelheiten unter allgemeinere
prophetifche Zeit, die Zeit der Schriftpropheten, das Gefichtspunkte^ zu ftellen verfucht, er hat öfter Zufammen
ältere Judentum und das fpätere Judentum, letzteres von
etwa 300 bis zur neuteftamentlichen Zeit). In der An-
fetzung der Quellen, nach denen eine jede Periode behandelt
wird, ltimmtK. mit den Ergebniffen der modernen
Einleitung im ganzen völlig überein. Anerkennung verdient
es auch, daß K. alles, was irgendwie zu feinem
Thema in Beziehung fleht, herangezogen hat und daß er
die vorhandene Literatur in reichem Maße berückfichtigt
hat, wie man überall auch da merkt, wo er fich nicht
ausdrücklich mit ihr auseinanderfetzt. Faft durchgängig
kann ich auch der Beurteilung zuftimmen, die er den
einzelnen Zeugniffen zuteil werden läßt. Auch der Ge-
famteharakter der einzelnen Perioden fcheint mir im allgemeinenrichtig
gezeichnet zu fein. Hervorheben möchte
ich in diefer Beziehung befonders die Charakteriftik des
Judentums, als deffen Zentralidee K. die der Erwählung
Israels betrachtet. Der damit gegebene Partikularismus
des Judentums fcheint mir freilich etwas Mark übertrieben
zu fein, wenn K. behauptet, das Judentum, ins-
befondere die pharifäifche Richtung, habe keine eigentliche
Propaganda unter den Heiden getrieben, fondern
höchftens die fich herandrängenden Heiden nicht ab-
gewiefen, und wenn er dem Satze Bouffets, das Judentum
zeige eine Entwicklung zur Kirche, den andern
gegenüberftellt, es entwickele fich zur Raffe (S. 410fr.).
Sehr dankenswert ift es endlich, daß K. das Judentum
befonders eingehend behandelt hat, da auf diefem Gebiet
erft wenig gearbeitet ift.

Trotz alledem hinterläßt die Lektüre des Buches
keinen befriedigenden Eindruck. Daß man nicht jedem
einzelnen Urteil K.s zuftimmen kann, ift bei der übergroßen
Fülle der zu beurteilenden Dinge felbftverftänd-
lich, und niemand wird dem Verf. daraus einen Vorwurf
machen. Unbefriedigt aber bleibt man vor allem in
formaler Beziehung. Die Darfteilung ift fehr breit an
Punkten, wo fie viel knapper hätte fein können, zu knapp
an andern, wo man ausführlichere Darlegungen wünfehen
möchte. Ganz allgemein ift die Sünde viel eingehender

faffungen des Einzelnen gegeben, und er hat hier und da
auch die Perioden mit einander verglichen. Aber das
alles reicht nicht aus. Denn das Markante ift nicht
genügend unterftrichen: das Wefentliche fleht fo fehr auf
einer Stufe mit dem Nebenfächlichen, daß es fich nicht
klar abhebt. Es ift freilich anzuerkennen, daß K. nicht
darauf ausging, die Entwicklung der theoretifchen Begriffe
,Sünde' und ,Gnade' zu zeichnen; aber es ift doch auch
nicht zu verkennen, daß je länger defto mehr den religiöfen
Stimmungen klare Anfchauungen und Begriffe zugrunde
liegen, die aus der Fülle der Einzelausfagen herauszuarbeiten
gewefen wären. Diefe Arbeit hat K. nur
fehr unvollkommen getan. Es ift charakteriftifch, daß
wir nirgends eine Darlegung über die verfchiedene Bedeutung
der Worte jn, non, DWl; »»B, nstan, Jiy etc.
erhalten. In einem fo umfangreichen Buche follte" eine
Erörterung über die einfehlägigen Termini doch nicht
fehlen. Wieviel hier fehlt, zeigt am beften das Sach-
regifter (S. 677—682). Stichworte wie ,Güte' und .Mitleid'
fehlen ganz; für ,Buße' wird außer auf die jüdifche Literatur
nur auf Hofea verwiefen; daß die Bundesvorftellung
für die Gnade eine Bedeutung hat, kommt im Regifter
nur durch einen Verweis auf Jeremia und auf eine einzige
Stelle in der Behandlung des Judentums zum Ausdruck;
für ,Reue' werden nur 2 Stellen zitiert etc. Und doch
kann man nicht fagen, daß das Regifter mangelhaft gearbeitet
fei. Es fteht tatfächlich fo, daß die betreffenden
Materien faft nirgends klar und fcharf erörtert find, fodaß
man die Stellen beftimmt angeben könnte. Es fehlt an
wirklicher Verarbeitung des fleißig gefammelten Materials.

Halle a. S. C. Steuernagel.