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Ausgabe:

1906 Nr. 7

Spalte:

215-218

Autor/Hrsg.:

Hall, Stanley G. (Ed.)

Titel/Untertitel:

The American Journal of Religious Psychology and Education 1906

Rezensent:

Vorbrodt, Gustav

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Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. 7.

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Kantifchen Werkes hält, dürfte folgende, allerdings fehr !
fummarifche Überficht veranfchaulichen.

Erfter Teil: In der menfchlichen Vernunft liegt die :
Idee eines den Staat überbietenden ethifch-bürgerlichen
Gemeinwefens als einer Gegenwirkung gegen das Böfe
(Kap. I). Ein derartiges Gemeinwefen ift nur zu denken
,als ein Volk unter göttlichen Gefetzen, d. i. als ein
Volk Gottes, und zwar nach Tugendgefetzen' (Kap. II).
Die Idee eines folchen Volkes Gottes verwirklicht fich
zunächft in der Form einer fichtbaren Kirche (Kap. III).
Dabei allein aber kann es unmöglich fein Bewenden
haben. Das letzte Ziel ift vielmehr eine unfichtbare
Kirche, in der das Prinzip eines freien fittlichen Vernunftglaubens
herrfcht (Kap. IV). Wichtige Schritte
zur Realifierung diefer Größe find bereits durch Jefus
und im 18. Jahrhundert fpeziell durch Kant unternommen
worden (Kap. V). Auch vom Standpunkt des Vernunftglaubens
aus ift eine Würdigung einzelner über-
fchwenglicher religiöfer Geheimniffe möglich (Kap. VI).

Zweiter Teil: Ein doppeltes Verhalten ift denkbar
gegenüber der fichtbaren Kirche: entweder man wertet
fie als Selbftzweck oder als Mittel zur Herftellung der
unfichtbaren (Kap. I). Demgemäß kann auch im N. T.
entweder der hiltorifche .Kirchenglaube1 oder die Vernunftreligion
als die Hauptfache eingefchätzt werden
(Kap. II). Richtig iß immer nur die zweite Betrachtungsweife
(Kap. III). Das beße Schutzmittel gegen eine verkehrte
Auffaffung und Entwicklung beßeht darin, daß
allezeit von dem moralifchen Prinzip der Religion ausgegangen
wird (Kap. IV). Nur fofern fie diefem Grund-
fatz gerecht werden, haben die ,Gnadenmittel' einer
fichtbaren Kirche Wert (Kap. V).

Charakterißifch für die Schrift iß die fehr energifche
Ablehnung der Anfchauung, daß Kants Religionslehre von
1793 ein bloßer Akkommodationsverfuch an das kirchliche
Dogma oder gar ein Spätling von untergeordneter Bedeutung
fei. Sie wird vielmehr als Krönung und Vollendung der
kritifchen Philofophie und als eine Leißung von unvergänglichen
! Wert aufgefaßt und beurteilt. Paulfen und
andere werden wegen abweichender Meinung ernßlich
abgekanzelt. Der zuverfichtlichen Überzeugung des Verf.s
von den unvergleichlichen Vorzügen des von ihm behandelten
Stoffs verdanken wir es denn auch, daß er mit liebevoller
Sorgfalt eine bis auf die kleinßen Details eingehende
Analyfe des Kantifchen Werks vollzieht. Das iß das
Verdienfl des Buchs, das bereitwilligß anerkannt werden
foll. Was dagegen das fich kundgebende Verßändnis des
gefchichtlichen Chriflentums und des Proteßantismus betrifft
, fo geht das wohl kaum über das von Kant erreichte
hinaus. Obwohl der Autor fich in der modernen Theologie
umgefehen hat, fo iß doch die ganze mühevolle
Arbeit, die fie verrichtet hat, um eine tiefere Einficht in
das Wefen des Evangeliums und fpeziell des Rechtfertigungsprinzips
zu erfchließen, für ihn umfonfl ge-
wefen. Das iß die Kehrfeite der Medaille.

Straßburg i. E. E.W. Mayer.

The American Journal of Religious Psychology and Education,

herausgegeben von Prof. G. Stanley Hall unter Mitwirkung
von Jean du Buy, George A. Coe, Theodore
Flournoy, James H. Leuba, Kdwin D. Starbuck, R. M.
Wenley u. Anderen. Worcester Mass., L. N. Wilson,
(feit 1904.) Jährlich 3 Hefte. $ 3.50

In dem Programm, das der Herausgeber an die
Spitze diefer im abgefchloffenen erßen Bande vorliegenden
Zeitfchrift gehellt hat, knüpft er an die Unterfuchungen
über Bekehrung an, die namentlich von Starbuck und
Leuba in Fluß gebracht find. Die damit bezeichneten
feelifchen Veränderungen auch auf dem außerchrißlichen
Gebiete des menfchheitlichen Geißeslebens feien Mark-
ßeine in der Entwicklung des Individuums von der auf

das Selbß gerichteten Kindheit zum Altruismus der Reife,
und deren L-rforfchun gen geeignet, die Kluft zwifchenWiffen-
fchaft, bez. Leben und Religion auszufüllen. Es werde
dabei gewiffenhaft von den übermenfchlichen Faktoren
abgefehen, die er jedoch in feinen tiefgehenden Erörterungen
über The Jesus of history and of thc passion
versus the Jesus of the resm-rection auf S. 30—64 wohl zu
würdigen verßeht, und in der Religionspfychologie lediglich
Form, Folge und Gefetz der feelifchen Erfcheinungen
berückfichtigt. Von hier aus habe man die religiöfe Pathologie
zu bearbeiten begonnen, die dann in dem vorliegenden
Bande S. 217—247 mit einem Auffatz von Jof.
Mofes, Honorary Fellow in Clark University über The
Pathology of Religions und in gewiffer Weife S. 248—267
mit der Studie von Rev. Charl. Fred. Robin fon
über Some psychological elements in famous superstitions
in Angriff genommen wird. Aus dem weiten Bereiche
der Religionspfychologie, das Leuba, Associate Professor
of Psychology and Education in feiner Arbeit diefes
Journals über: The field and the problems of the psychology
of Religion S. 155—167 wohl gegen Metaphyfik bez.
Erkenntnistheorie und Gefch'ichte abfleckt, aber m. E.
noch nicht überfichtlich genug zu ordnen vermag, fand
I die religiöfe Pathologie auch in Deutfchland am meiffen
Verßändnis und Behandlung, nicht nur vor etwa einem
Jahrzehnt bei der Kontroverfe von ,Pfychiatrie' und ,Seel-
forge', fondern auch inbezug auf die noch ßrenger von
der Pathologie abzulötenden abnormen Zuflände, von
! denen bei uns, wenn auch allmählich das Problem auf-
j geßiegen iß: War Jefus Ekßatiker? Der Herausgeber
des religionspfychologifchen Journals weiß im Zufam-
menhange mit der Pathologie ebenfalls auf die Frage
nach Infpiration, Ekßafe und den Sonderformen der
Telepathie als den Aufgaben der jungen, zum Teil noch
ungeklärten Disziplin hin.

Ferner werden einzelne chrißliche Lehren dogmati-
fcher wie ethifcher Art, die bisher zu konfeffionell oder
äßhetifch bearbeitet feien, im Lichte der Religionspfychologie
als Phafen bez. Mittel der individuellen und
menfchheitlichen Entwicklung angedeutet, für welch letz-
j tere dann der die Zeitfchrift eröffnende Auffatz von J.
du Buy, Dozent in Comparative Religion über Religiöfe
Entwicklungsßufen von vier nichtchrifllichen Religionen
einen Beleg bildet. Es kommen dem Herausgeber für
die Pfychologie chrißlicher Dogmen in Betracht das
Übel, bez. Sünde und Rechtfertigung, Mitleid, Glaube,
heilige Schrift, Gebet und eine ganze Reihe von Lehrkategorien
, die mit neuem Inhalte zu füllen find; gleich-
fam in den Mittelpunkt all diefer Unterfuchungen flellt
Herausgeber die Biologie. Von diefer ,anthropologifchen'
Seite, an deren Betonung es die Theologie zu oft
habe fehlen laffen, fei die gefchichtliche Kritik und Exe-
gefe ßreng zu fcheiden und im Sinne des Herausgebers
auch die nur auf äußere Daten bedachte Religions-
gefchichte, wenn er ausdrücklich die Theologie feit
Schleiermacher und noch mehr feit Ritfehl bloß als
Vorbereitung für die Religionspfychologie einfehätzt;
er vermißt bei allen Erörterungen, die in den Gleifen
der Kantfchen Theorien laufen, die religiöfe Erfahrung,
die allein den Weg zu Gott bedeutet.

Der padagogifche Gefichtspunkt foll im weiteßen
Sinne des Wortes in der vorliegenden Zeitfchrift berückfichtigt
werden; dahin gehört die Pädagogik von Jefus,
Paulus, der modernen Homiletik (vergl. L. W. Kline,
Thc sermon: a study in Social Psychology S. 288—300)
wie der Milfionstätigkeit; für die Pfychagogik der letzteren
gibt ein aus der Praxis gefchöpfter Auffatz von
Lombard, Fellow in Clark University: Notes lipon a
study in the pedagogy of Missions eine Probe.

In den Auffätzen felbß herrfcht vorläufig noch die
objektive Methode vor, d. h. die komparative der Reli-
gionsgefchichte fowie der Umfrage, welch letztere man in
Deutfchland als experimentelle anfprechen würde, fowie