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Ausgabe:

1906 Nr. 7

Spalte:

207-209

Autor/Hrsg.:

Koeniger, Albert Michael

Titel/Untertitel:

Burchard I. von Worms und die deutsche Kirche seiner Zeit (1000 - 1025) 1906

Rezensent:

Keller, Siegmund

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Theologifche Literaturzeitung 1906 Nr. 7.

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rechnen, daß er fich im großen und ganzen durchaus
auf die Refultate der bisherigen Literaturerzeugniffe be-
fchränkt und neue eigene Hypothefen aus feinem Buche
verbannt hat, fo nahe ihm auch manchmal die Ver-
fuchung gelegen haben wird. Denn fogerne wir auch gelegentlich
ein Buch lefen, wie uns in jüngfter Zeit Andreas
Heusler eines mit feiner Verfaffungsgefchichte geboten
hat — es ift, methodifch angefehen, der größte und
fchärffte Gegenfatz zu W., ein meifterliches Bild der
deutfchen Verfaffung, wie es frch nach faft halbhundertjähriger
Befchäftigung mit dem Gegenftande im Kopfe eines
Neftors der germaniftifchen Rechtswiffenfchaft zeichnet,
aber unter gänzlichem Verzicht auf die jüngeren wiffen-
fchaftlichen Ergebniffe — fo dankbar begrüßen wir ein
fo feiten es Buch wie das von W., in dem, unter faft
gänzlicher Zurückdrängung aller fubjektiven Ideen und
tiefgreifenderer Neuerungsverfuche, auf dem foliden
Fundamente aller von der Kritik anerkannten Spezial-
forfchungen .der letztverfloffenen Dezennien eine er-
fchöpfende Überficht über diefe gewaltige Geiftesarbeit
geboten wird. Wir fehen dem zweiten Bande, der die
Verfaffung der Kirche vom X. bis XV. Jh. umfaffen
foll, mit Spannung entgegen.

Bonn. Siegm. Keller.

Koeniger, D. Albert Michael, Burchard I, von Worms und
die deutfehe Kirche Feiner Zeit (1000—1025). Ein kirchen-
und fittengefchichtliches Zeitbild. (Veröffentlichungen
aus dem kirchenhiftorifchen Seminar München. Herausgegeben
von A. Knöpfler. II. Reihe Nr. 6.) München,
J. J. Lentner 1905. (XII, 244 S.) gr. 8° M. 4.80

Aus dem kirchenhiftorifchen Seminar in München,
das uns fchon manche treffliche Arbeit gebracht hat, ift
eine neue hervorgegangen, die fich ihren Vorgängerinnen
ebenbürtig anfchließt. Wer fich über Burchards I. von
Worms Wirken und Schaffen unterrichten wollte, war
bisher meift auf Boos angewiefen, der im erften Bande
feiner Gefchichte der rheinifchen Städtekultur zum Teil
wörtliche Auszüge in Überletzung aus Burchard gibt,
jedoch ein tieferes Eingehen auf die zahlreichen kirchenhiftorifchen
und kanoniftifchen Probleme und auf den
inneren Zufammenhang der Burchardifchen Reformationen
mit dem gefamten Kulturleben feiner Zeit gar fehr ver-
miffen läßt. Wir machen Boos damit keinen Vorwurf;
fein Werk follte einen populären Charakter tragen, weshalb
er notgedrungen an der Oberfläche blieb. Wer fich
bei Boos nicht Rats erholen konnte, der griff zu Haucks
Uber decretorum, einem an und für fich vortrefflichen
Auffatze der Publikationen der fächfifchen Gefellfchaft.
Aber auch Hauck hat wefentlich andere Ziele im Auge,
als eine Darftellung der kirchlichen und fittlichen Ver-
hältniffe Deutfchlands im erften Viertel des XI. Jahrhunderts
zu geben.

Diefe Lücke ift jetzt von Koeniger ausgefüllt
worden durch eine ebenfo umfangreiche als forgfältige
Quellenarbeit, die in abfehbarer Zeit wohl nicht mehr
überboten werden wird. Ich habe nur zwei prinzipielle
Bedenken. Zunächft fcheint mir der unbedingte Verlaß
auf die Quellen, oder kurz gefagt: auf die Quelle, nämlich
die Kanonenfammlung Burchards, fehr gewagt. Denn
wir befitzen noch keine kritifche Ausgabe des Burchardifchen
Dekrets. Wir find noch immer auf die fehr un-
zuverläffige Kölner Druckausgabe von 1548 angewiefen,
die 1549 in Paris, 1560 abermals in Köln, und zuletzt
von Migne {Patr. lat. 140) nachgedruckt wurde.

An eine kritifche Neuausgabe dachte man fchon
darum nicht, weil felbft in Fachkreifen alle Handfchriften
für verloren galten (fo wenigftens noch Grofch, Bifchof
B. I v. Worms, 1890). Der Verfaffer weift aber nicht
weniger als IO HSS nach, in der Vaticana, in München,
Freiburg, Wien, Olmütz u. a. Er felbft benützt aus-

I fchließlich den Druck von 1548, ja er verfchmäht es
überhaupt, auch ungedrucktes Quellenmaterial heranzuziehen
. Diefer offenkundige Mangel ift allerdings wett-

I gemacht durch forgfältige Benützung vieler anderer
Quellen, an denen fonft Kirchenhiftoriker und Kanoniften
vielfach achtlos vorübergehen. So viel ich fehe, ift die
untere Zeitgrenze durch die Vita Sancti Ulrici (982) gegeben
, die obere durch die Visionen Othlos (1072). —
Ein zweites, wie ich glaube, gewichtigeres Bedenken,
das hauptfächlich den zweiten Teil von K.s Buch trifft,
ift das: läßt fich nach einem Beichtfpiegel (fpeziell dem
corrector et medicus Burchards) überhaupt ein ,Zeitbild'
konftruieren, das darauf Anfpruch erheben kann, die
mittlere Linie der kulturellen Zuftände eines Volkes
innerhalb einer beftimmten Epoche vorzuftellen; eine
Linie, auf der nur feiten Streiflichter aufgefetzt find, die
das Alltägliche grell durchzucken? Man denke, was da
herauskommen würde, wenn in fpäteren Jahrhunderten
einmal jemand auf den Gedanken käme, auf grund eines
modernen katholilchen Beichtfpiegels eine deutfcheKultur-
gefchichte zu fchreiben! K. verkennt diefe Schwierigkeit
nicht. ,Man darf nicht daraus — fo fagt er S. 224 —
daß Burchard zur Behandlung des Mordes und Aberglaubens
, des Meineids, der Unmäßigkeit und Unkeufch-
heit je ein eigenes Buch verwendet, fchon kurzerhand
auf die fchlimmften Zuftände in diefen Dingen fchließen.
Eine folche Einteilung nach den Hauptftücken war in

1 Bußbüchern von jeher üblich und B. hat fie womöglich
in den einzelnen Büchern feines Dekrets beibehalten.
Nur da, wo er außerdem in feinem corrector oder genauer
in feinen Beichtfragen einer Sünde erhöhte Auf-
merkfamkeit fchenkt, ift ein unmittelbarer Rückfchluß auf
die realen Verhältniffe geftattet. Den eigentlichen Prüf-
ftein werden aber immer anderweitige Tatfachenberichte
abgeben'. Jedoch wird, wenigftens m. E., auch in diefen
,Tatfachenberichten' meift nur das außergewöhnliche
regiftriert, fo daß gar leicht die Ausnahme Regel, die
Regel Ausnahme erfcheint, was K. mehr als einmal
verkannte.

K. hat fein Buch in vier Abfchnitte zerlegt: kirchlich-
hierarchifche Verhältniffe, kirchlich-disziplinäre, kirchlich-
kultifche und kirchlich-foziale. Das erfte Kapitel ift das
ausführlichfte und das befte zugleich; dem V. ift es ge-
I glückt, mit Zugrundelegung von B.s Schriften und unter
1 Heranziehung einer Fülle verwandter Quellen ein ziemlich
vollftändiges Bild der damaligen Kirchenverfaffung in
Mitteldeutfchland zu geben. In der ,Kirchendisziplin'
kommt, wie nicht anders zu erwarten, B. am reinften zum
Ausdrucke, wenn auch andererfeits hier nicht allzuviel
! neues gebracht werden konnte. Immerhin wird es als
j befte Zufammenfaffung z. Z. gelten können. Von hier
ab beginnt die Schrift abzuflauen. Die Abfchnitte über
Eherecht (S. 150 ff. 204 ff.) find nur matte Ergänzungen
zuWeinholds bekanntem Buche, beziehungsweife Wiederholungen
aus Freifen, noch dazu vielfach falfch, wie das
über Ehetrennung gefagte. Bereits der Stifter der Kirche
hat fich die altjüdifche Auffaffung vom Rechte zur Ver-
ftoßung des Eheweibes ,um der Unzucht willen' zu eigen
gemacht; die altdeutfche oder gar die altrömifche Auffaffung
bleibt darum außer Spiel, zum minderten brauchen
wir keinen ftrengeren Maßftab anzulegen (gegen S. 205!).
Das letzte Kapitel, das fchließlich doch in erfter Linie
den Titelbeifatz eines ,fittengefchichtlichen Zeitbildes'
rechtfertigen follte, ift entfehieden zu mager ausgefallen.
Über Volksmoralität, befonders Aberglauben und feine
Bekämpfung, öfters aber auch feine Unterftützung feitens
der Kirche wäre doch noch etwas mehr zu fagen gewefen,
als in den letzten paar Seiten des Buches enthalten ift
(S. 223—240). Des Intereffanten gibt es hier genug. So
unfehön es war, wenn die Geiftlichen z. B. das Chrisma
zu allerlei Humbug verkauften, fo verföhnend und ver-
ftändig klingt es wieder, wenn man erfährt, daß Burchard
nur einen Aberglauben körperlich ahnden ließ: er ver-