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Ausgabe:

1905 Nr. 4

Spalte:

121-124

Autor/Hrsg.:

Troeltsch, Ernst

Titel/Untertitel:

Politische Ethik und Christentum 1905

Rezensent:

Wendt, Hans Hinrich

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Theologifche Literaturzeitung 1905 Nr. 4.

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Goethe, ufw. — Aber wenn man fich hineinlieft, bekommt
man doch zum Teil einen andern Eindruck. Im erften
Auffatz (S. 1—265) ift zuerft ein fpekulativer Aufftieg
unternommen von Jefus, dem Sohn Gottes, bis zu dem
Sohn, der Gott ift. Von dem altteftamentlichen Mehlas
aus geht der Weg über den fynoptifchen Jefus, St.
Johannes, Paulus in die kirchliche Trinitätslehre hinauf,
die erft den vollen Abfchluß der Erkenntnis Jefu bildet.
Dabei fpielt die Hauptrolle das paulinifche Wort Gott
alles in allem, das immer wiederkehrt im ganzen Buch
als Ziel der ganzen Weltentwicklung. Sonft hebe ich
noch hervor als das Ziel des Verfaffers eine aus der
chriftlich-germanifchen Gefchichtsepoche fich entfaltende
philofophifch-germanifche Weltgeftaltungsepoche, in der
Deutfchland feinen enderlöfenden Beruf durch feine
Philofophie erfüllen wird. Sie wird nicht von der Religion
handeln, fondern fie wird felbft die endgültige Religion
aus fich heraus erzeugen. Dann erft tritt das Reich
Gottes in feiner Realität vor den philofophifch religiöfen
Geift, der die Weltgefchichte als einheitliches göttliches
Gedicht zu erfaffen fucht.

Das Buch kommt entweder 40 Jahre zu fpät oder zu
früh. Ob der Geift in diefem Buch ein Revenant im
doppelten Sinn des Wortes ift?

So fremdartig und unangenehm uns manches berührt,
fo viel Verhöhnendes ift doch wieder in dem Buch. Nicht
nur die gediegene feine Schreibweife der alten Zeit, nicht
nur die heilige Begeifterung für das Chriftentum, dem
fogar der Vorrang vor der geliebten Philofophie eingeräumt
wird, — das Ergreifendfte ift der Anlaß des
Erfcheinens felbft: Leopold von Stechow war ein Ritter-
gutsbefitzer. der, verarmt, fich viel mit folchen Studien
befaßte und bei feinem Tode 1867 diefe PVüchte feiner
Studien zurückließ. Diefe hat nun die Tochter unter
großen fchweren Opfern aus Pietät gegen den Vater
herausgegeben, ohne eine fremde Hand vorher an das
Heiligtum zu laffen. Es wäre aber doch beffer gewefen,
wenn — ich will nicht fagen, die Sachen ungedruckt
geblieben wären, aber wenn eine kundige Hand einiges
ausgelefen und ordentlich zurecht gemacht herausgegeben
hätte als ein Denkmal früheren Denkens; oder als eine
Station auf dem vor uns liegenden Wege?

Heidelberg. Niebergall.

Troeltsch, Dr. u. Prof. d. Theol. Ernft, Politische Ethik und

Christentum. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 1904.

(43 S.) gr. 80 M.'11 -

Troeltfchs auf dem Evangelifch-fozialen Kongreß 1904
in Breslau über ,das Chriftentum und die heutige Gefell-
fchaff gehaltener Vortrag erfcheint in diefer Separatausgabe
unter einem den Inhalt beffer charakterifierenden
Titel. Man kann über das Verhältnis der chriftlichen
Ethik zur Politik nichts Anregenderes und Lehrreicheres
lefen als diefen Vortrag. Es fpricht in ihm Einer, der
die ethifchen Probleme nicht bloß nach der gewöhnlichen
Schablone behandelt und der zugleich für den eigentümlichen
Charakter, die Bedürfniffe und Tendenzen der
praktifchen Politik ein aufgefchloffenes modernes Ver-
ftändnis befitzt, und zwar ein durch gründliche gefchicht-
liche Kenntniffe gefchultes Verftändnis.

T. charakterifiert treffend vier verfchiedene Typen, wie
in der Gegenwart ethifche Gedanken auf den Staat angewandt
werden: 1) die Ethik des liberaliftifchen Kultur-
intereffes, bei welcher der Rechtsftaat lediglich als das
notwendige Mittel für freie Entwicklung der geiftigen
Kultur gewürdigt wird; 2) die Ethik des Nationalismus,
bei der die opferfreudige Hingabe des Einzelnen an die
Ehre des Vaterlands als ethifch-politifchc Aufgabe erkannt
wird; 3) dieEthik desdemokratifchenPrinzips, welche
°en Gedanken der Menfchenrechte, des fittlichen Rechtes
der Perfönlichkeit, einen felbftändigen Wert für fich dar-
zuftellen, in der Politik zur Anerkennung zu bringen

fucht; 4) die Ethik des konfervativen Prinzips, welche
wegen der tatfächlich vorhandenen und hiftorifch entwickelten
Verfchiedenheiten unter den Menfchen die Au-
toritäts- und Unterordnungsverhältniffe in Staat und Ge-
fellfchaft für wichtig und unentbehrlich hält. T. erörtert
dann den Einfluß chriftlicher Ideen auf die politifche Ethik.
Von Haus aus habe das Chriftentum keine politifchen
Gedanken, fondern nur Privatmoral. Aber indirekt habe
es doch Bedeutung für die Politik. Das zeige fich an
feinen Beziehungen zu jenen Typen der politifchen Ethik.
Das Prinzip des Nationalismus freilich habe mit chriftlicher
Ethik nichts zu tun. Aber die PLthik des der
Kultur dienenden Rechtsftaats hänge gefchichtlich eng
zufammen mit der Forderung der Freiheit der Kirche
und des Gewiffens vom Staate. Und Zufammenhang
habe das Chriftentum auch mit den ethifchen Prinzipien
fowohl der Demokratie wie des Konfervatismus. Mit
dem demokratifchen Prinzip fei es verbunden durch
feinen Gedanken des abfoluten Wertes der menfchlichen
Perfönlichkeit; mit dem konfervativen Prinzip durch
feinen Gedanken der Ergebung in Gottes natürliche Weltordnung
. Aber freilich feien in der Demokratie und im
Konfervatismus diefe chriftlichen Gedanken mit fremdartigen
Elementen verquickt. Der chriftliche Perfönlich-
keitsgedanke, der die religiös begründete Gleichheit der
Perfönlichkeiten vor Gott meine, fei im demokratifchen
Ideale verquickt mit einem aus dem Naturrecht und der
Stoa flammenden Individualismus, der die Selbftändigkeit
des Individuums einfach als Ausfluß feiner natürlichen
Befchaffenheit betrachte und eine natürliche Gleichheit
der Individuen konftruiere. Der chriftliche Gedanke der
Ergebung in die natürliche Weltordnung Gottes fei im
Konfervatismus verquickt mit einer Tendenz auf Vergöttlichung
älterer Machtverhältniffe und auf Verewigung
des Gegebenen. Allein von diefen fremdartigen Bei-
mifchungen könne die chriftliche Ethik gelöft" werden.
Wenn das gefchehe, fo ergebe fich ein Zufammenfchluß
chriftlich-politifcher Prinzipien: des Prinzips des Dienftes
des Staates für die ideale Welt, des Prinzips des Wertes
der Perfönlichkeit und des Prinzips der Fügung in die
natürlich-gefchichtlichen Ordnungen. Mit diefen chriftlich-
ethifchen Ideen fei freilich nicht die ganze politifch-fo-
ziale Ethik erfchöpft. Der Staat habe noch feine felb-
ftändige, aus feinem eigenen Wefen erwachfende, nicht
aus dem Chriftentum ableitbare fittliche Idee: die des
Nationalismus, d. i. der Vaterlandsliebe und politifchen
Ehre. Aber diefe rein politifche Sittlichkeit könne vertieft
und ergänzt werden durch jene in der chriftlichen
Ethik vvurzelnden politifchen Prinzipien.

T. hebt mit befonderem Nachdrucke hervor, einer-
feits daß diefe chriftlichen .Beiträge' zur politifchen Ethik
nicht aus der Zentralidee des Chriftentums, fondern aus
Begleitgedanken derfelben fließen; andrerfeits daß das
Grundelement einer politifchen Ethik nicht aus dem
Chriftentum, fondern aus anderen, neben der chriftlichen
Ethik anzuerkennenden fittlichen Prinzipien herzuleiten
ift (S. 34f.). Ich wundere mich darüber, daß T. fo fchnell
und radikal darauf verzichtet, der fittlichen Zentralidee
des Chriftentums einen Einfluß auf die Geftaltung der
, politifchen Ethik zuzugeftehen. Ohne Zweifel hat er
I darin recht, daß der Grundgedanke der chrifllichen Ethik:
,die Vollendung und Läuterung der Perfönlichkeit in der
Liebe zu Gott und die Beweifung einer gotterfüllten Gerinnung
in der Bruderliebe' zunächft nur ein ,Ideal des
I inneren Menfchen und der perfönlich-menfchlichen Beziehungen
' ift (S. 34), und daß fich aus der chriftlichen
Liebe nicht einfach Staat und Gefellfchaft ableiten laffen
(S. 35)- Der Staat hat feine natürliche Bafis in der prak-
tifchen Intereffengemeinfchaft folcher Menfchen, welche
durch StammesverwandtfchaftundSprachgleichheit, durch
geographifche Bedingungen, durch wirtfchaftliche Bedürfniffe
, durch hiftorifche Entwicklung mit einander verbunden
und auf einander angewiefen find. Bald kann mehr