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Ausgabe:

1905

Spalte:

91-92

Autor/Hrsg.:

Mezger, Paul

Titel/Untertitel:

Rätsel des christlichen Vorlsehungsglaubens 1905

Rezensent:

Niebergall, Friedrich

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Seite 1

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Mezger, Prof. D. Paul, Rätsel des christlichen Vorsehungsglaubens
. Eine dogmatifch-apologetifche Studie. Bafel,
Helbing &Lichtenhahn 1904. (V, 95 S.) gr. 8° M. 1.60

Der Vorfehungsglaube befiehl in der Überzeugung
des feines Heiles gewiffen Chriften, daß Gott die Natur
und den Gefchichtsverlauf zu feinen ewigen Zwecken
lenkt. Er trägt ethifche Art an fich und fchließt die
perfönliche Wechfelbeziehung zwifchen Gott und Menfch
und das Bittgebet ein (S. 1—12). Ihn bedrücken theore-
tifche Schwierigkeiten, die fich auf die formale Seite des
göttlichen Waltens, und praktifche, die fich auf den Inhalt
beziehen. Zu den erfteren gehört die Frage nach der
Willensfreiheit (S. 15—22); aber Gott handelt durch die
menfchliche Freiheit hindurch; ferner die Frage nach den
Wundern (S. 23—74) im Sinne des miraculum, alfo des
freien Eingreifens Gottes in den Ablauf der Welt. Diefen
Begriff vom Wunder behauptet M. als die notwendige
Vorausfetzung des Vorfehungsglaubens und weift die
Harnackfche Forderung ab, den unabänderlichen Naturlauf
durch innere Erhebung des Geiftes zur Förderung
unterer ewigen Lebenszwecke ,umzubiegen', weil dabei
die individuelle Proportionalität zwifchen Widerfahrnis
und Lebenszweck verloren gehe (S. 42. 43). Freilich ift
uns Gott im Wunder nicht näher als fonft; das Wunder
ift oft unerkennbar, die Art des göttlichen Eingreifens
verbirgt fich uns, und es fchadet nichts, wenn fich ein
Wunder nachträglich noch kaufal erklärt, wenn es nur
ein unerwartetes und außerordentliches Ereignis ift. Aber
trotzdem muß man am Wunder im ftrikten Sinn feilhalten
. M. verteidigt es gegen den Einwand vom ge-
fchloffenen Naturverlauf durch die Gewißheit des Glaubens,
daß der letzte Weltgrund der geiftige Gott ift, und mit
den neueren Beweifen gegen das Gefetz von der Erhaltung
der Kraft (S. 54—73).

Die praktifchen Rätfei in Natur, Menfchenleben und
Gefchichte laffen fich nur auf Grund perfönlicher Glaubenserfahrung
praktifch löfen durch den Blick auf das
chriftliche Perfönlichkeitsideal und die jenfeitige Vollendung
, indem die teleologifche Deutung des eigenen Lebens
dem Gläubigen die Gewähr für die Löfung der großen
Welträtfel bietet. —

M. fagt viel Schönes und Gutes, zumal am Schluffe
über die praktifchen Lebensrätfel, wovon nicht weiter
gefprochen werde. Aber eine eingehende Beachtung verdient
der Abfchnitt über die Wunder, der auch fchon
äußerlich einen großen Raum einnimmt. Der Kern des
Buches liegt in dem bekannten Beitreben, durch einen
fpekulativen Ausbruch aus der böfen fubjektiviftifchen
Enge in das Freie zu gelangen oder, anders ausgedrückt,
itatt in Glaubensdeutungen zu leben, feiten objektiven
Grund unter die Füße zu bekommen. Man ahnt etwas
von der angekündigten Zukunftsallianz zwifchen orthodoxer
und liberaler Spekulation, die die fubjektiviftifche
Mitte erdrücken foll. Aber M. überzeugt nicht, weil er
noch zu viel von dem Gegner in fich hat. Seine oben
unter ,Freilich' angeführten gutmütigen Zugeftändniffe
bringen die ganze Ausführung um ihre Kraft. Denn der
Beweis für die Möglichkeit des Wunders gehört in einen
ganz anderen Zufammenhang, nämlich in den unge-
fchwächten Supranaturalismus, während er fich hier fehr
fonderbar ausnimmt. Außerdem intereffiert er uns nicht,
weil uns an einem nachgewiefenen Wunder mehr liegt
aus an taufend möglichen. Auf den Gottesglauben zurückzugehen
, um gegen die Lehre vom gefchloffenen
Naturzufammenhang die Möglichkeit des göttlichen Eingreifens
zu behaupten, ift eine peütio principii. Die prak-
tifch-perfönliche Löfung der praktifchen Rätfei ift von
der abgelehnten Umbiegung fchwer zu unterfcheiden. Und
warum foll fich gerade in diefer Umbiegung nicht die
vermißte Proportionalität offenbaren d. i. dem Erleben
auffchließenf Gewiß ift der gefchloffene Naturzufammenhang
die Anfchauung eines Glaubens. Aber wenn man

ihn damit befeitigt hat, dann bleibt doch die fo gering-
fchätzig behandelte Regelmäßigkeit übrig. Wie die Be-
feitigung jenes Zufammenhanges noch nicht ohne weiteres
die Wunder einfchließt, fo fchließt diefe Regelmäßigkeit
fie aus. Beffer als der Verfuch, in der alten Weife die
Freiheit und die Vorfehung, die Wunder und die von
Gott gegebenen Naturzufammenhänge zufammenzuquälen,
ift immer noch die alte Auskunft, die verfchiedenen Betrachtungsweifen
mit ihren Nötigungen und Ausdrucksmitteln
(Bilderrede) organifch mit einander zu verknüpfen.
Der vorliegende fpekulative Verfuch macht wenig Mut
zur Nachfolge.

Heidelberg. Niebergall.

Ragaz, Leonhard, Du sollst. Grundzüge einer fittlichen
Weltanfchauung. Zweite Auflage. (Neue Pfade zum
alten Gott. 7.) Freiburg i. B., P. Waetzel 1904. (VIII,
181 S.) gr. 8° Geb. M. 2.40

Der intereffante und fpannende Gedankengang des
klar und feffelnd, ftellenweife hochpoetifch gefchriebenen
Buches ift folgender: Der erfte ,Not und Sehnfucht' über-
fchriebene Teil bietet eine prächtige und packende
Schilderung der gegenwärtigen Lage auf dem ethifchen
Gebiet; zuerft kommen die auflötenden Mächte — die re-
ligiöfe Krifis, der Naturalismus mit feiner alles relativierenden
Tendenz und Nietzfche, dann die Verfuche einer
Neubildung — Auguft Comte, wiederum Nietzfche und Tol-
ftoi, wobei die pofitive Wertung Nietzfches ganz befon-
ders intereffant ift. Hoch und groß klingt der Abfchnitt
aus in die Schilderung des Sehnens unferer Zeit nach
dem neuen Menfchen, der eine Perfönlichkeit ift (Nietzfche
), der neue Liebe (Comte und Tolftoi) und neuen
Glauben hat (Thode). ,Wir fuchen das Heilige'. Um
dicfes zu finden, kämpft der zweite Teil zuerft dem
Naturalismus das Recht der Moral überhaupt, dann dem
Pofitivismus das der idealiftifchen Moral ab; diefe aber
kann nur in religiöfer Umrahmung beftehen (Plato, Kant),
j Die Anerkennung des Wertcharakters aller Sittlichkeit
macht die Verteidigung ihrer Grundlagen gegen den
Evolutionismus nicht überflüffig; darum wird dem Gewiffen
und der Freiheit ihr Recht zu wahren gefucht. So ge-
fchickt und umfichtig R. das auch tut, ich bin das Gefühl
nicht losgeworden, daß hier ein fchwächerer Teil des
Buches liegt, wenn man nicht den leichten Charakter der
Beweisführung auf Rechnung der auf Allgemeinverftänd-
lichkeit berechneten Art der ganzen Sammlung fetzt.
Klar und ftark tritt aber die Grundlofung /Zurück zu
Kant!' hervor. Das hieraus folgende Bedürfnis nach einer
religiöfen Umrahmung der Sittlichkeit leitet zum dritten
Teil über, der gefchichtlich im ganzen richtig, warm und
frei die Religion und Moral Jefu behandelt, gegen andere
Syfteme abgrenzt und Bedenken gegen fie zerftreut. Die
chriftliche Sittlichkeit hat manche fremden Beftandteile
nicht nur mit Unrecht dazu gefügt, denn das Evangelium
ift nur ein Beitrag zur Schöpfung der Menfchenfeele,
aber Jefus ift und bleibt, wenn er als Geift und Leben
und nicht als Gefetzgeber verftanden wird, das ent-
fcheidende fittliche Erlebnis der Welt. Ein Schlußteil
zeigt, wie in diefem Evangelium alle berechtigten Be-
ftrebungen der Gegenwart ihre Erfüllung finden. So kehrt
die Darflellung wieder zum Anfang zurück, und das Buch
klingt harmonifch und tiefbefriedigend aus. Für alle,
die noch tin Gewiffen haben, ift diefes Bändchen ein
Weg zur Würdigung der Sittlichkeit, aber auch ein Weg
zu Chriftus und Gott.

Heidelberg. Niebergall.