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Ausgabe:

1905 Nr. 3

Spalte:

86-87

Autor/Hrsg.:

Egli, Emil (Hrsg.)

Titel/Untertitel:

Heinrich Bullingers Diarium (Annales vitae) der Jahre 1504-1574 1905

Rezensent:

Bossert, Gustav

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Theologifche Literaturzeitung 1905 Nr. 3.

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grafen noch andere derartige Ehen beftanden hätten.
Eine genaue Unterfuchung über die Ehen des Hofpredigers
Melander und des Frofeffors Oldendorp zeigt, daß es fich
hierbei nicht um Doppelehen, fondern um Wiederverheiratung
gehandelt hat. — Im zweiteft Teil der Abhandlung
wird die Stellung der Wittenberger, befonders natürlich
Luthers, zur Doppelehe des Landgrafen erörtert.
Um darüber zu einem ficheren Urteil zu gelangen, unterwirft
der Verfaffer alle Äußerungen, die Luther überhaupt
über diefe Angelegenheit getan hat, einer forgfältigen, bis
ins Einzelne gehenden Kritik; in erfter Linie den Brief,
den Luther im Juni 1540 über diefe Angelegenheit an
den Kurfürften gefchrieben hat, dann feine Ausfagen in
den Tifchreden, in feinen Briefen und feine Äußerungen
auf der Eifenacher Konferenz vom 15.—20. Juli 1540. Aus
allen diefen Äußerungen geht hervor, daß Luther feine
Zuftimmung zur Doppelehe des Landgrafen wegen des
Ärgerniffes, das daraus entftehen konnte, nur ungern
gegeben hat. III er doch überhaupt nie für Einführung
der Polygamie gewefen, fondern hat fich mit immer
klareren Gründen dagegen gewehrt. Daß er jene Einwilligung
trotzdem erteilte, gefchah vor allem aus Gründen
der Seelforge und infolge des politifchen Druckes,
den Philipp auf ihn ausübte. Indem aber Luther diefem |
Drucke nachgab, wollte er feine Zuftimmung nur als
Beichtdispenfation aufgefaßt wiffen, die demnach geheim
zu halten fei. Diefe Geheimhaltung glaubte er auf jede
Weife wahren zu follen, wenn nötig fogar durch eine
Lüge, die er in diefem Falle für erlaubt hielt. Mehr als
fonlt zeigt Luther in diefer Haltung feine Abhängigkeit
von der ihm überkommenen Kafuiftik und Beichtpraxis
des Mittelalters, wie dies von dem Verfaffer im Einzelnen
nachgewiefen wird. Gewiffensbedenken indes hat Luther
wegen feiner Zuftimmung zu dem Vorhaben des Landgrafen
nie gehabt und konnte er nicht haben, da ihm die
Polygamie nicht gegen das göttliche Gefetz zu verftoßen
fchien. Diefe feine Stellung zu erklären dient vornehmlich
der 3. Teil der Unterfuchung, der ,Zur Beurteilung
der Polygamie im Reformationszeitalter' uberfchrieben ift.
Der Verfaffer zeigt darin, daß unter Luthers Zeitgenoffen
eine eigentümliche Unficherheit in der Wertung der
Polygamie beftand. Befonders deutlich tritt dies in der Beurteilung
der Ehefcheidungsangelegenheit Heinrichs VIII.
durch die maßgebenden Theologen hervor. Während
von den evangelifchen Gelehrten Oecolampad und Zwingli
fich durchaus gegen eine Doppelehe des Königs aus-
fprechen, haben Luther, Melanchthon, Grynaeus, Bucer
und Capito diefen Ausweg aus den vorhandenen Schwierigkeiten
gebilligt. Luther hat, wie eine Zufammenftellung
der von ihm in den Jahren 1520—1542 über die Polygamie
getanen Äußerungen beweift, feine Anfchauungen nicht
wefentlich geändert. Niemals hat er Anfchauungen gehegt
, ,welche die Erteilung des Wittenberger Ratfchlags
hätten ausfchließen müffen'. Sehr merkwürdig ift es nun,
daß er in diefer feiner Wertung der Polygamie fich mit
feinen ärgften Feinden begegnet. Kardinal Cajetan hat,
wie der Verfaffer beweift, genau diefelbe Stellung zur
Polygamie eingenommen wie Luther, und die römifche
Kurie hat während des Ehefcheidungsprozeffes Heinrichs
VIII. ernftlich die Frage erwogen, ob nicht der König
feinen Zweck am bellen durch Eingehen einer Doppelehe
erreichen könne, ja Papft Clemens hat dem König diefen
Ausweg geradezu vorfchlagen laffen! Indem der Verfaffer
dies nachweift, will er natürlich nicht die Stellung
Luthers rechtfertigen oder fich gar deffen Gedanken
aneignen, fondern nur zeigen, wie verkehrt es ift, die
Ausfpruche Luthers losgelöft von den Anfchauungen
feiner Zeit zu beurteilen. Ein volles Verftändnis für
Luthers eigentümliche Haltung kann man nur gewinnen,
wenn man außer leiner Stellung zur Bibel auch die aus
der alten Kirche ,herübergenommene naturrechtliche Behandlung
der Eheverbote und die traditionelle Kafuiftik
betreffs der Beichtpraxis' in Betracht zieht. Denn diefe

waren für fein Verhalten von maßgebendem Einfluß. ,Die
volle Würdigung aller diefer Bedingungen, unter denen
Luther geurteilt und gehandelt hat' — fo fchlicßt der
Verfaffer feine Abhandlung — ,fichert unfers Erachtens
feinem Verhalten eine andere und richtigere Einfehätzung,
I als ihm bisher zu Teil geworden ift'. Ein genaues Sach-,
Perfonen- und Ortsregifter erleichtert die Benutzung des
vortrefflichen Buches.

Weimar. H. Virck.

Heinrich Bullingers Diarium (Annales vitae) der Jahre 1504—
1574. Zum 400. Geburtstag Bullingers am 18. Juli 1904
herausgegeben von Emil Egli. (Quellen zur Schweize-
rifchen Reformationsgefchichte, herausgegeben vom
Zwingliverein in Zürich unter Leitung von Prof. Dr.
Emil Egli. II.) Bafel, Bafler Buch- und Antiquariatshandlung
vormals Adolf Geering 1904. (XV, 145 S.)
gr. 8" M. 4 —

Das Jubiläum Heinr. Bullingers konnte der Zwingliverein
nicht würdiger begehen, als indem er dem erften
Band der Quellen zur Schweizerifchen Reformationsgefchichte
den zweiten mit dem bis jetzt nur in Auszügen
bekannt gewordenen Diarium Bullingers famt einer kurzen
Vita, die aber einige Ergänzungen zum Diarium bietet,
folgen ließ. Das ganze Werk ift von E. Egli in treftlicher
Weife bearbeitet. Bei dem Stand der Handfchriften war
die Herftellung eines zuverläffigen Textes, für welchen
das Original abhanden gekommen ift, keine leichte Aufgabe
. Aber nicht minder fchwierig war eine genügende
Texterläuterung, für welche Egli nicht nur die einfehlägige
Literatur, fondern auch die Schätze der Züricher Archive,
befonders auch der Brieffammlungen, und die Kirchenbücher
benutzt und in einer großen Korrefpondenz die
Auskünfte von Gelehrten weit und breit eingeholt hat.

Das Diarium war aber auch diefer Hingabe wert.
Denn es ift nicht nur eine Quelle erften Rangs für die
Biographie Bullingers und für unfere Kenntnis der damaligen
Züricher Verhältniffe und Familien, fondern auch
für die Gefchichte der Schweizer Reformation und ihrer
Beziehungen zu Frankreich, den Niederlanden, Großbritannien
, Polen, der Pfalz und Heffen, während für die
lutherifchen Gebiete naturgemäß nur wenig abfällt; felbft
für die Verhandlungen Bullingers mit Brenz ift die Ausbeute
nicht bedeutend. Bekannt ift fchon lange der auffallende
Studiengang Bullingers, der feinem älteren Bruder
an den Niederrhein nach Emmerich auf die Schule
und dann nach Köln auf die Univerfität folgte. Der junge
Schüler erhielt für 3 Jahre in Emmerich nur 33 fl. und
zweimal eine Kleidung, für 3 Jahre in Köln u8fl. und
einen Anzug. Abfichtlich hielt der Vater darauf, daß
der Sohn in Emmerich fein Brot vor den Türen bettle,
damit er lebenslang mit den Bettlern Mitleid fühle. Die
Produktionskraft Bullingers, der in einem Jahr faft ein
Ries Papier zu Briefen bedarf (S. 97), fcheint geradezu
unerfchöpflich, und doch hat der Mann ein Auge für
alles um ihn her. Die Witterung und die Fruchtbarkeit
der Jahre, Naturereigniffe, wie Überfchwemmungen und
Kometen, der Beginn der Kirfchblüte und des Quakens
der Fröfche, die Preife von Korn und Wein und der
Ertrag feiner jährlichen Weinbefoldung ift ihm der Aufzeichnung
wert. Das vielbefchäftigte Haupt der Züricher
Kirche, der unermüdliche Schriftfteller, der Berater von
Fürften und Städten fchenkt nach altem Brauch feinen
Befoldungswein aus und notiert z. B. 1550, daß er den
Kopf d. h. 3 Liter um 1 Kreuzer = 3 Pf. gab. wobei nicht
zu verwundern ift, daß er fchließt: ,gieng flux uß'.

Im allgemeinen ift Bullinger über die Zeitereigniffe
fehr gut unterrichtet, befonders über die Ereigniffe in
Frankreich, aber auch in den Niederlanden, in Ungarn
und Ofterreich. Ganz im Geift Zwingiis verurteilt er das
Reislaufen und die Bündniffe mit fremden, katholifchen