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Ausgabe:

1905 Nr. 26

Spalte:

692-694

Autor/Hrsg.:

Schiaparelli, Giovanni

Titel/Untertitel:

Die Astronomie im Alten Testament 1905

Rezensent:

Volz, Paul

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Theologifche Literaturzeitung 1905 Nr. 26.

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zur Erklärung der Übereinftimmung nicht auskomme, daß
man vielmehr Entlehnung oder beffer Wanderung der
Sage vom einen Volk zum andern anzunehmen habe.
Ihren Urfprung fucht er in babylonifch-affyrifchen Vor-
ftellungskreifen, daher denn allerdings die von Hugo
Winckler herausgegebene Sammlung ,ex Oriente lux' für
Wünfches Schrift der gewiefene Platz war.

Aber hat er den Beweis für feine Annahme erbracht?
Ich kann das nur in relativem Maße gelten laffen. Nicht
zu zweifeln ift felbftverftändlich an der Wanderung der
Legende von dem teils vom Baum des Lebens, teils vom
Baum der Erkenntnis flammenden Kreuzholz Chrifti, welche
er in ihrer gefchichtlichen Entwickelung während des
Mittelalters in der lateinifchen, mittelhochdeutfchen, nie-
derdeutfchen, altfranzöfifchen und altenglifchen Literatur
fowie in der Neuzeit bei fpanifchen Dichtern und in der
deutfchen Literatur forgfältig verfolgt (S. 23—55). Eben-
fowenig ift zu bezweifeln, daß die Sage vom Lebensquell,
den Alexander auffucht, aus der helleniftifchen Literatur
zu Arabern und Perfern übergegangen (S. 77ff.) oder daß
das weitverbreitete Märchen vom heilenden Waffer, von
dem zu fchöpfen der kranke König feine drei Söhne aus-
fchickt, vom einen Volk zum andern gewandert ift
(S. 90fr.). Und dabei zeigt fich denn natürlich, was
Wünfche zunächft zur Legende vom Kreuzholz bemerkt,
,wie fich in den verfchiedenen lyrifchen, epifchen und
dramatifchen Bearbeitungen im Laufe der Zeit immer
neue Zufätze und Einfchiebfel ankriftallifiert haben und
bald diefer bald jener Zug weiter ausgefponnen und in
neue Beleuchtung gerückt wird' (S. 54).

Daß der chriftliche Lebensbaum aus der jüdifchen
Vorftellungswelt flammt, ift klar, und daß der jüdifche
auf babylonifche Vorftellungen zurückgeht, mag zugegeben
werden. Aber wie verhält fich dazu der weiße
Haomabaum der Zarathuflrareligion (übrigens kennt, wovon
Wünfche nicht fpricht, die eranifche Theologie zwei
oder drei derartige wunderbare Bäume) und erft recht der
indifche Lebensbaum, andererfeits dann wieder der Apfelbaum
der griechifchen Hefperiden oder der Kelten? Daß
fich allerdings in der nordifchen Sage die Vorftellung
von der Weltefche Yggdrafü unter dem Einfluß chrift-
licher Gedanken gebildet habe, ift bekanntlich nach den
Unterfuchungen Bugges, der freilich wohl wieder über
das Ziel hinausfchießt, wahrfcheinlich gemacht. Aber
zwifchen andern Kulturgebieten bleiben die Übergänge
der Vorftellungen erft noch zu beweifen, und das hat
Wünfche auch nicht einmal verfucht. Er hat überhaupt
der Tatfache nicht gebührend Rechnung getragen, daß
die Vorftellungen vom Lebensbaum und vom Lebenswahrer
an den verfchiedenften Orten wiederkehren. Sein
Material bedürfte ohne Zweifel noch großer Bereicherung.
Ich trage nur Einiges nach: Nach ägyptifchem Glauben
fleht im Often des Himmels jene hohe Sykomore, auf
der die Götter fitzen, der Lebensbaum, von dem fie leben'
(Erman, die ägypt. Religion, S. 93). Merkwürdig ift die
Tatfache, die ich in Orellis Religionsgefchichte (S. 793
A. 1) erwähnt finde, daß die Mexikaner das Kreuz, das
Symbol ihres Regengottes Tlaloc, den ,Baum des Lebens'
nannten. Als ein Beifpiel, wie fchon Naturvölker von
einer Lebensquelle wiffen, erwähne ich den Glauben der
Haytier, daß auf ihrer Infel Boiuca oderBimeni der Jugendbronn
fprudle. Vom .Lebenswaffer' ift auch die Rede
in der Heldenfage der minuffinifchen Tataren (rhythmifch
bearbeitet von A. Schiefner, Petersburg 1859, S. 62f.).
Zum indifchen Lebenswaffer vgl. noch Rig-Veda I 154, 5:
,an Vifchnus höchftem Ort ift der Somabrunnen'. Zur
Ergänzung des jüdifch-chriftlichen Stoffes führe ich an:
flav. Henoch, Kap. 8; V Esra 212; Evgl. Evae (vgl. Hennecke
, Ntl. Apokryphen 42 A lj; Schultheß, chriftlich-
paläftinenfifche Fragmente S. 125. — Zum heilenden
Honig, den im Kalewala das Bienchen holen muß (S. 88 f.),
vgl. den von der Yggdrafil-Efche fließenden Honig, von
dem fich die Bienen nähren (Bugge, Studien über die

I Entftehung der nordifchen Götter- und Pleldenfagen
! S. 441).

Liegt der Vorftellung vom Lebenswaffer wirklich, wie

I Wünfche meint, ein Naturmythus zu Grunde? ,Das Waffer
des Lebens ift ein Sinnbild der Lebenskraft, durch die
fich in jedem'Jahre die Natur neu verjüngt', fagt er(S. 104).

i M. E. liegt die Erklärung viel näher, ohne daß ich geleugnet
haben will, daß in der Ausgeftaltung gewiffer
Märchen naturmythifche Gedanken mit hineingefpielt
hätten (vgl. S. 92). Aber die Grundlage ift doch einfach:

Erfahrungsgemäß hat Waffer die erfrifchende, belebende

I Wirkung auf den Menfchen. Ich hörte einft Albert Reville
erzählen, wie er in der Bretagne von einer Frau, die er

j über den Grund der Heilkraft einer von Kranken viel-
befuchten Quelle befragte, die einfache Antwort erhielt:
,c'est un esprit comme cela'. Mit folcher Kraft begabt
muß Waffer auch Leben wecken können (vgl. Hi 149).
Man lefe nur in Curtiß'Urfemitifcher Religion (S. 113—115)
die Beifpiele, wie Frauen in Quellen baden, um gefegne-
ten Leibes zu werden. Ebenfo gehen, das ift erft recht
einfache, allgemeinmenfchliche Ftrfahrung, von gewiffen
Kräutern und Baumfrüchten beftimmte Wirkungen auf
den Menfchen aus, Tod und Gefundheit, d. h. Leben
bringende1; man denke nur wieder an die im engeren
Sinne Leben weckenden aphrodisiaca.

In der einfachen Verlängerung der Linie folcher

I primitiver Vorftellungen fcheint mir der Gedanke eines
Lebensbaumes und Lebenswaffers xar' ego^zjn zu liegen,
der an verfchiedenen Orten felbftändig gefaßt werden
konnte, zeigt uns doch gerade wieder moderner gefteiger-
ter Glaube an ,Naturheilkraft', wie ftark der Menfch nach
diefer Seite hin veranlagt ift. Jedenfalls halte ich es für
gänzlich verfehlt, von der primären Vorftellung des Lebensbaumes
die des Lebens- und Zauberkrautes abgeleitet

} fein zu laffen, was, wenn ich Wünfche recht vcrftehe, in
Sätzen wie den folgenden gefchieht: ,Der Lebensbaum ift
in den verfchiedenen Religionen auch zum Lebenskraut

! geworden' (S. 14); ,vom lebenerweckenden Wunderkraute
ift er zum Zauberkraut geworden' etc. (S. 21). Das ift
m. E. die Umkehrung des einfachen Verhältniffes — Alles
zur größeren Ehre der affyrifch-babylonifchen Vorftellungs-

I weit, in der Wünfche die betreffenden Sagen zuerft findet!
Dem Drucker ift S. 29 mit der unterften Zeile ein arges
Mißgefchick paffiert. S. 53 A. 1. E. Kautzfeh ftatt G. K.

Bafel. Alfred Bertholet.

Schiaparelli, Dir. Giovanni, Die Astronomie im Alten Tefta-
ment. Überfetzt von Hilfsbibliothekar Dr.WillyLüdtke.
Mit 6 Abbildungen im Text. Gießen, A. Töpelmann
1904. (VIII, 137 S.) gr. 80 M. 3.20; geb. M. 4 —

Diefe Überfetzung des im Jahre 1903 erfchienenen
italienifchen Werkes ift mit dem Original nicht ganz
identifch, fondern beruht auf einem von Sch. durchge-
fehenen Exemplar, das namentlich in der 2. Hälfte einige
Veränderungen erfahren hat; dazu kommen die Zufätze
des Überfetzers, die abgefehen von einer Tabelle der
Sternnamen in den alten Überfetzungen nicht beträchtlich
find. Verf. ift fich bewußt, daß die Hebräer auf
dem behandelten Gebiet nichts Originales oder gar Be-
deutfames gefchaffen haben, fondern daß ihre Aftronomie
ungefähr auf derfelben Stufe flehen geblieben ift, die
einige barbarifche Völker Amerikas und Polyneflens erreicht
und bisweilen überfchritten haben. Aber wir befitzen
von der hebräifchen Aftronomie genauere Kunde
als von der Aftronomie mancher hochentwickelter Völker
und außerdem nimmt die hebräifche Aftronomie
Teil an der allgemeinen Bedeutung, die wir dem Volk
der Bibel beimeffen. Das A. T. enthält freilich keine
einheitliche aftronomifche Theorie, fondern allerlei ver-

1) Wie fließend die Grenzen zwifchen den Begriffen .Gefundheit' und
,Leben' find, zeigt z. B. der Sprachgebrauch von Pt**Tl.