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Ausgabe:

1905 Nr. 25

Spalte:

668-670

Autor/Hrsg.:

Wiener, Harold M.

Titel/Untertitel:

Studies in Biblical Law 1905

Rezensent:

Volz, Paul

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Theologifche Literaturzeitung 1905 Nr. 25.

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nach der Anfiedlung entftand, um in der Weife eines
Gewohnheitsrechts die fittliche und kultifche Ordnung
des Volkes feftzufetzen. Der Dekalog hat feiner fchrift-
lichen Geftalt nach eine lange Gefchichte, feine jetzige
Faffung liegt nicht vor der prophetifchen Periode, feine
ältefte primitive Faffung ift älter als die Einwanderung,
und fein fittlicher Gehalt geht auf den Urfprung der
israelit. Religion, d. h. auf Mofe zurück, wenn auch Mofe
nicht felbft der Kodifikator ift. (Ich meine, wenn dem
Mofe doch einmal gefchichtliche Wahrheit und religiöfe
Urkraft beigemeffen wird, dann dürfte ihm wohl auch
der Buchltabe, nicht bloß der Geift der dekalogifchen
Kernworte übertragen werden.) Auch die prophetifche
Predigt ift eine Phafe des israelit. Gefetzes, fowohl unmittelbar
als dann vor allem mittelbar dadurch, daß fie das
Deuteronomium gefchaffen hat. Verf. fchreibt die Einführung
des Deut, den Nebiim zu, die durch dasfelbe das
der prophetifchen Predigt entfprechende Israel fchaffen
wollten, den rechten Kult und die rechte Sittlichkeit. Ob
die Nebiim wirklich eine ausgefprochene bürgerliche und
kirchliche Verfaffung einrichten wollten, fleht dahin, jedenfalls
beginnt mit der Veröffentlichung des Deut, eine
Epoche, die des Nomismus: ,Tora' wird gefchriebenes
Gefetz. Auch die israelit. Theologie hebt mit dem Deut,
an, die Gedanken über Gott und über feine Heilspläne
mit der Menfchheit, die Idee des Bundes, die in ihren
Anfängen nicht einen juridifchen Kontrakt, fondern ein
fittliches Verhältnis darfteilt. Eingehend wird der Charakter
der deuttronomiftifchen Ethik befprochen, ihr Zu-
fammenhang mit dem Prophetismus, ihre utilitariftifche,
dem menfchlichen Vermögen angepaßte Art, ihr Begriff
der Frömmigkeit als Erfüllung der Gebote und der Sünde
als Übertretung eines Gebots. Während das Deut, weder
in feiner kultifchen noch in feiner fittlichen Reformation
Erfolg hatte, gelang es der nachfolgenden priefterlichen
Gefetzgebung, den prophetifchen Glauben und die von
den Propheten verlangte Gerechtigkeit zum Gemeinbefitz
zu machen. Verf. hat ein günfliges Urteil über diefe
priefterliche Gefetzgebung (Ezech., Heiligkeitsgefetz und
Priefterkodex). Sie hat keineswegs bloß kultifchen Zweck,
fondern ift durchdrungen von dem fittlichen Geift, den
der Prophetismus gewollt hatte, fie fetzt fich nicht an
Stelle des Bisherigen, fondern ergänzt dasfelbe, nicht der
Kult ift ihr die Hauptfache, fondern das Gefetz, und die
kultifche Übung ift eben wertvoll als Gehorfam gegen
das Gefetz. Die Obfervanzen des täglichen Lebens, eingeführt
teils unter dem Einfluß der babylonifchen Religion,
teils als Erfatz für den Tempelgottesdienft, haben den
Zweck, das gefamte Leben des Menfchen an die Gottheit
zu knüpfen. Der Hauptinhalt auch diefer priefterlichen
Gefetzgebung ift der Glaube an den einen Gott, der Gehorfam
gegen den göttlichen Willen, die Liebe zum
Nächften, der große Gegenfatz der Sünde und der Gnade,
während der Gedanke der Verdienftlichkeit ihr noch
fremd ift; nicht fie hat die geiftige, freie und fittliche
Religion der Propheten getötet, der Levitismus endigt
nicht durch fich felbft im Pharifäismus. Auch die der
priefterlichen Gefetzgebung zeitgenöffifche und unmittelbar
folgende Literatur beweift, daß der Geift eines Esra
dem Prophetismus verwandt war und die levitifche Gefetzgebung
dem prophetifchen Wefen Verbreitung ver-
fchaffte. Es war dem Pharifäismus vorbehalten, die Ge-
fetzesfrömmigkeit zu einem Gift für die Menfchen zu
machen, dem minutiöfen Buchftaben zu dienen, das zeremonielle
Gefetz zur Herrfcherin zu machen, unmögliche
Laften aufzulegen, eine Werkfrömmigkeit einzuführen, bei
der das egoifhfche Herz tun konnte was es wollte, den
Bund mit Gott in einen juridifchen Kontrakt zu verwandeln
, den Begriff und die Werke des Überverdienftes zu
fchaffen. Allerdings fei zuzugeben, daß das N.T. den
Pharifäismus zu dunkel malt, und daß einzelne edle
Naturen auch innerhalb der pharifäifchen Bewegung Banden
; ebenfo beweifen die Stillen im Lande, der Täufer

und dergl., daß die phariläifche Bewegung in jener Zeit
nicht alles war (wogegen der Effenismus der Superlativ
des Pharifäismus ift). Das helleniftifche Judentum endlich
geht hinfichtlich des Gefetzes feinen eigenen Weg und
vereinigt es mit den Grundfätzen des ftoifchen Rationalismus
; dadurch fchafft fich das Gefetz in der helleniftifchen
Welt viele Freunde und Anhänger, die .Gottesfürchtigen'.
ja auch etliche zum Judentum übertretende ,Profelyten'.
Jefus hat das Gefetz tatfächlich abgetan durch die Gabe
eines neuen Lebensprinzips; fein Gefetz ftellt fich nicht
bloß gegen den Buchftabendienft, fondern gegen das
mofaifche Gefetz überhaupt. Die Nachfolger Jefu tun
teils einen Schritt zurück, fo die Jerufalemer Gemeinde
(wobei aber nur die Judaiften den extremen pharifäifchen
Sinn fortfetzen), teils einen Schritt zuweit, fo Paulus mit
feiner rein negativen Beurteilung. Das Pleidenchriftentum
erinnert in feiner Auffaffung des Gefetzes an das helle-
niltifche Judentum; der neue Legalismus im 2. Jahrh. fo-
dann ift durch pädagogifche Beweggründe entftanden.

Es ift eine reichhaltige Brofchüre. In den Grund-
anfchauungen bietet fie, wie man fieht, nichts wefentlich
Neues, aber was fie bietet, ift felbftändig erworben; ihre
Stärke befteht in dem pfychologifchen Erfaffen des Inhalts

j der einzelnen Gefetzbücher, in der liebevollen, feinen
Darftellung der charakteriftifchen Züge und Unterfchiede
derfelben. Nur ift mir fraglich, ob den Gefetzbüchern

| eine folche führende Kraft in der Entwicklung der israe-
litifchen Menfchheit zuzufchreiben ift, ob nicht vielmehr
die Gefetzbücher eben allemal der Niederfchlag der be-

| deutungsvollen Zeiterfcheinungen, der Abfchluß eines

| geiftigen Prozeffes waren. Den meiften Widerfpruch habe
ich gegen die Trennung des Buchs in die zwei Abfchnitte
zu erheben: Urfprung und Entwicklung des mofaifchen
Gefetzesund: feine Rolle im Judentum und im I. Chriften-
tum, bzw. konkret gegen die Trennung zwifchen Altjuden-

- tum und Pharifäismus. Diefe Trennung rührt von einem

I Fehler her, den der Verf. felbft grundfätzlich vermeiden
wollte, von der Befchränkung auf das Kanonifche. Verf.
fieht das .mofaifche Gefetz', d. h. die im A. T. enthaltene
Gefetzgebung als eine in fich abgefchloffene Einheit an,

j die dann in der Folgezeit eine .Rolle' fpielte. Aber die
Tradition der Schriftgelehrten, dann fpäter die Mifchna,

I der Talmud, bzw. das urchriftliche Gefetz und die nova
vita der apoftolifchen Väter find genau ebenfo Phafen der
Entwicklung des gottgegebenen Gefetzes wie das Bundesbuch
, das Deut. ufw. In allem rächt fich die Überfchätzung

1 der Buchreligion, in der der Verf. noch befangen ift.

j Auch ift es gefchichtlich unwahrfcheinlich und unrichtig,
die Gegenfätze Altjudentum (d. h. die Zeit bis zu der

j von Esra inaugurierten Periode einfchließlich) und Pharifäismus
fo fchroff auf einander ftoßen zu laffen. Auch
der Pharifäismus hat als eine lebendige, in feiner Zeit
notwendige Kraft angefangen, nur ift er teilweife auf
Abwege geraten und als gefchichtlich bedingte Erfcheinung
fchließlich durch Wichtigeres verdrängt worden. Verf.
erkennt es felbft, daß die N.T.liche Schilderung des Phari-

| fäismus polemifch ift, trotzdem hat er fich von ihr zu fehr
beeinfluffen laffen.

Alles in allem aber ift diefe Brofchüre durch die
Selbftändigkeit und Belefenheit, die fich darin bekundet,
durch den vornehmen Ton und die pfychologifche Feinheit
ausgezeichnet und als Jugendarbeit, wie der Verf. fie
nennt, freudig zu bewillkommnen.

Leonberg. Volz.

I Wiener, Harold M., M. A., LL.B., Studies in Biblical Law.

London, D. Nutt 1904. (XI, 128 p.) 8° s. 3. 6

Verf. ift Jurift und unterfucht das mofaifche Gefetz
nach der technifch juriftifchen Seite. Es fällt ihm auf,
S daß der israelitifche Kodex im Unterfchied von den andern
antiken Syftemen nicht als das Refultat einer Gefetzgebung
oder der Gewohnheit oder der richterlichen Eint-