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Ausgabe:

1905 Nr. 22

Spalte:

601-602

Autor/Hrsg.:

Alphandéry, P.

Titel/Untertitel:

Les idées morales chez les Hétérodoxes Latins au début du XIIIe siècle 1905

Rezensent:

Lempp, Eduard

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Seite 1

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6b I Theologifche Literaturzeitung 1905 Nr. 22. 5o2

Hellas, Judentum und Ägypfertum nebeneinander, gewohnheitsmäßig
überlieferte Übung allein ift am Werk.
Selbftändige kunftlerifche Regungen find völlig untergegangen
in der ftumpfen Alltäglichkeit einer Kultur, aus
der altheidnifcher Aberglaube und glühender nationaler
Haß alle Keime einer höheren Weltanfchauung getilgt
haben und das Chriftentum kaum imftande ift, die Mafien
im Zaume zu halten.' ,Die Fragmente gewinnen aber'
— und das ift ein wichtiger, von Strzygowski mit Recht
ftark betonter Gefichtspunkt — .dadurch weit über den
Rahmen der ägyptifchen Lokalforfchung hinaus Wert,
daß fie einer beftimmt nachweisbaren Gattung von Ge-
fchichtsliteratur, den Weltchroniken angehörten, die
ihren Weg von Alexandria aus, wie etwa auch der Phy-
fiologus, in alle Welt nahmen. Wir können unmöglich
heute fchon abfehen, welche Fäden fich von unferm
Miniaturenzyklus aus nach dem byzantinifchen und
abendländifchen Mittelalter ziehen. Es muß weiteren
Studien vorbehalten bleiben, diefen Faden auszufpinnen.'
Wandsbeck. Johannes Dräfeke.

Alphandery. P., Les idees morales chez les Heterodoxes
Latins au debut du Xllle siede. (Bibliotheque de l'ecole
des hautes etudes, Sciences religieuses, vol. XVI, fasc.
1.) Paris, E. Leroux 1903. (XXXIV, 199 p.) gr. 8°
Es ift ein Problem, das fchon viele zum Nachdenken
gereizt hat, woher die vielen Sekten in der höchften
Blütezeit der mittelalterlichen Kirche kamen, und was
etwa ihre gemeinfamen Wurzeln und Ideen gewefen fein
mögen. Freilich bei Behandlung des Problems läuft man
Gefahr, daß man unter Mißachtung der Verfchiedenheit
der Sekten zu Gefchichtskonftruktionen greift, und fie ift
zurzeit auch noch fchr erfchwert, da es an wirklich genügender
und vollftändiger gefchichtlicher Erforfchung
diefer Erfcheinungen fehlt. A. ift überzeugt, daß die
Sekten alle eine moralifche Reform erftrebten (S. XIII), und
daß diefe nötig war, weil die Kirche fich um den gemeinen
Mann zu wenig kümmerte (S. XXXIII). Ich glaube, der
Verfaffer hätte das Gemeinfame der Reformbewegung
noch kräftiger und eingehender hervorheben dürfen, als
er es tut S. igöff., ich darf vielleicht auf meinen Verfuch
in den Theol. Studien aus Württemberg 1889 S. 223—284
hinweifen. Er hätte dann freilich fein Buch anders fchrei-
ben muffen: entweder hätte er die Gefchichte der Sekten
als bekannt vorausfetzen und fich damit begnügen mülfen,
die denfelben eigenen moralifchen Ideen hervorzuheben,
oder er hätte fich den Grund erft felbft fchaffen und
eine ganze Gefchichte der Sekt-n fchreiben müffen, eine
ungeheuere Arbeit, die er anfeheinend für notwendig hielt,
aber die ihm zu groß werden mußte.

Nehmen wir z. B. die Katharer. Wir haben immer
noch keine Arbeit, die die histoire des Cathares von
Schmidt aus dem Jahr 1848/49 überholt hätte, und auch
A. fußt ganz auf ihr. Wenn A. gleich zu Anfang fagt: le
catliarisme est la negafion cibsolue du catliolicisme; dest un
Systeme ouplutöt um- foi pliilosophiquc (S. 35 f.), fo ftimmt
das freilich ganz mit der Anfchauung Schmidts, der von
der dualiftifchen üogmatik der Katharer ausgeht. Nach
meiner Anficht verfchließt man fich aber damit geradezu
die Möglichkeit diefe Sekte zu begreifen. Man bedenke
doch, daß diefe Sekte in kurzen Jahren faft ganz Südfrankreich
und Oberitalien eroberte, Sudfrankreich, wo
das katholifche Leben am fchönften geblüht hatte, wo
Clugny geherrfcht, wo die Kreuzzuge den ftärkften Zufluß
gefunden hatten, und Oberitalien, das durch den
Kampf mit den deutfehen Kaifern auf die engfte Bundes-
genolfenfehaft mit dem Papft angewiefen war; in beiden
Ländern war auch die Kultur und damit die Möglichkeit
und Gelegenheit zum Lebensgenuß befonders gefteigert.
Und nun füll ein halbheidnifch.es Syftem von düfterften '
Grundsätzen, das Gegenteil des Katholizismus, plötziieh

diefe Lande im Sturm erobert haben! Nein, die Erfolge
der Katharer in diefen gut katholifchen Ländern, die ohne
philofophifche Neigungen hauptfächlich dem Lebensgenuß
huldigten, laffen fich nur verliehen, wenn man
von den praktifchen Forderungen diefer Sekte ausgeht,
und diefe laffen erkennen, daß das Katharertum eine eminent
katholifche Sekte ift; das Lebensideal ift in der
Kirche, wie in der Sekte dasfelbe, hier nur in extreme
Konfequenzen verfolgt: das Ziel: Los von der Welt! die
Grundlage die Lehre von den zweierlei Menfchen, auch
die einzelnen Anfchauungen der Katharer über Ehe, Be-
fitz u. dgl. find durchaus nur Übertreibungen der katholifchen
Anfchauungen jener Zeit. Und weil nun die Vollkommenen
der Katharer diefe die ganze Chriftenheit be-
herrfchenden Anfchauungen nicht nur vorpredigten, fondern
vorlebten, was man von dem damaligen katholifchen
Klerus nicht lagen konnte, deshalb fanden fie in diefen
Ländern foviel Anklang. Es ift deshalb auch m. E. nicht
richtig, das Verhältnis zwifchen dem Katharertum und
Franz von Aflifi fo darzuftellen, wie A. S. 99 im An-
fchluß an Sabatier es tut. Die Bettelorden gruben den
Katharern das Waffer ab, indem fie die von beiden vertretene
Ethik nach ihrer Art eben fo vollkommen oder
vollkommener betätigten wie die Sektierer. Übrigens
wären auch fie fchwerlich mit den Sekten fertig geworden
, wenn nicht die Gewalt ihnen zu Hilfe gekommen
wäre, wie denn fchon von Antonius von Padua gerühmt
wird, daß er .einen beftändigen Platzregen von Verfolgung
wider die Ketzer erregt habe'.

Freilich ob die Anfchauung A.s oder die meinige
die hillorifch richtige ift, das zu entfeheiden würde eine
fo weit greifende, das ganze politifche, kirchliche, foziale
Leben jener Zeit umfpannende Arbeit erfordern, daß fie
faft nur im Rahmen einer Gefamtdarftellung jener Zeit
möglich wäre.

Die Gefchichte der Waldenfer ift in den letzten Jahrzehnten
Gegenftand eindringender Studien gewefen, die
A. wohl bekannt find und von ihm verwertet werden.
Auch hier hatte ich nur den Wunfeh, daß das Charakte-
riftifche an diefer Erfcheinung kräftiger und klarer hervorgehoben
worden wäre, es ift das nach meiner Meinung
das Streben nach apoftolifcher Predigt und apoftolnchem
Leben, wobei aber das Neue Teftament noch ganz in
mittelalterlich-katholifcher Weife gefetzlicii aufgefaßt wird.

Die übrigen Sekten werden forgfältig behandelt, aber
wir find über diefelben fo mangelhaft und einfeitig unterrichtet
, daß es fehr fchwer ift, ihre moralifchen Ideen zu
befchreiben oder über fie ein Urteil abzugeben.

Darin aber hat A. wohl recht, wenn er zum Schluß
fagt, daß ohne die lange, weitverzweigte Arbeit der ver-
fchiedenen Sekten die Erfolge der Bettelorden unmöglich
gewefen wären.

Das Buch A.s ift — das möchte ich noch hervorheben
— eine Frucht eindringendfter Quellenftudien,
das niemand ohne reichen Gewinn aus der Hand legen
wird, auch wenn er vielleicht in den Hauptgelichtspunkten
dies und das vermiflen wird.

Stuttgart. E. Lempp.

Schnürer, Guftav, Franz von Assisi. Die Vertiefung des
religiöfen Lebens im Abendlande zur Zeit der Kreuzzüge
. (Weltgefchichte in Karakterbildern, heraus-
gegeb. von F. Kampers, S. Merkle und M. Spahn.
Dritte Abteilung: Übergangszeit.) München, Kirchheim
1905. (136 S. m. 73 Abbildgn.) Lex. 8° Geb. M. 4 —

Die Weltgefchichte in Charakterbildern, die von
Merkle, Spahn u. a. herausgegeben wird, ift durch die
vorliegende Schilderung um ein treffliches Glied reicher
geworden. Die Ausftattung und die befonders kunft-
gefchichtlich wertvollen Abbildungen find ebenfo fchon
und vornehm, wie die Sprache, in der ich nur die häufig