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Ausgabe:

1905 Nr. 21

Spalte:

579-580

Autor/Hrsg.:

Nieweg, Jakob

Titel/Untertitel:

Frederick William Robertson 1905

Rezensent:

Schian, Martin

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579

Theologifche Literaturzeitung 1905 Nr. 21.

580

wiffenheit ab, welche die Konflikte des individuellen
Willens mit der allgemeinen fittlichen Ordnung entfliehen
laffe (76). Er findet, daß in Ritfchls Chriflologie ,die fitt-
liche Hoheit und die religiös praktifche Bedeutung Chrifti
zu einer wertvollen und fcharf ausgeprägten Äusfage
kommt. Allein die chriftliche Frömmigkeit kann fich
doch nicht damit begnügen, das Verhältnis Chrifti zum
Vater bloß aus feiner fittlichen Größe zu erfchließen, fie
muß von der Einheit ihres Willens zu der wefentlichen
Einheit ihres Lebens fortgehen und diefe als den Grund
jener betrachten' (90). Gegen Ritfehl, der als Objekt der
Rechtfertigung die Gemeinde denkt, bezieht K. die
justificatio auf den einzelnen Gläubigen (107). Die Einwendungen
, welche R. gegen den Begriff der unio mystica
erhebt, treffen nach K. ,nicht die Sache felbft, die biblifch
begründet und ein wefentliches Element aller lebendigen
Frömmigkeit ift, fondern nur eine verkehrte Be-
feftreibung derfelben mit den Mitteln einer naturaliftifchen
Metaphyfik' (108).

Auch zur modernften Wendung der dogmatifchen
Probleme nimmt K. klar und benimmt Stellung: fo
äußert er fich über die religionsgefchichtliche Stellung des
Chriftentums (13—14), über die Beweisführung für die
Wahrheit des Chriftentums (28—32), über das Verhältnis
des Entwicklungsgedankens zum Schöpfungsglauben
(50—52). In der Befprechung diefer Punkte wie in der
Behandlung der übrigen dogmatifchen Probleme führt
K. die Abficht durch, die er fowohl den wiffenfehaft-
lichen als den kirchlichen Intereffen allein entfprechend
findet. ,Überzeugt, daß die Heilslehre der Reformatoren
— vornehmlich Luthers — dem echten Sinn des Evangeliums
Jefu und feiner Apoftel gemäß ift, möchte ich
fie ohne Verkürzung ihres religiöfen und fittlichen Gehaltes
von einem uns fremd gewordenen, ungefchicht-
lichen Schriftgebrauch ablöfen und fie mit der Auf-
faffung der biblifchen Offenbarung und ihrer Zeugniffe
verbinden, die der heutigen biblifch-theologifchen Wiffen-
fchaft entfpricht' (VI).

Wollten wir nun zu der im Bisherigen gegebenen
Charakteriftik des gehaltvollen und anregenden Grundriffes
eine eingehendere Kritik hinzufügen, fo müßten wir
die uns hier gezogenen Grenzen ungebührlich über-
fchreiten. Der Hauptdiffenfus, durch welchen zum größten
Teil die übrigen Ausheilungen bedingt find, dürfte in
einer verfchiedenen Stellung zur Schrift liegen, da Ref.
die Grenze zwifchen dem Offenbarungsgehalt der biblifchen
Urkunden und den individuellen Gedankenbildungen
des Verfaffers in nicht feltenen Fällen anders beftimmen
würde: diefe Differenz würde befonders im chriftologifchen
und foteriologifchen Lehrftück hervortreten. Aber auch
fonft ließe fich über manche Einzelfragen rechten: irreführend
und bedenklich ift z. B. die Bezeichnung der Be-
kenntnisfehriften als ,Normen für das Glaubensverftändnis
der Heiligen Schrift' (27). Doch es kann nicht davon
die Rede fein, in das Detail einer Diskuffion einzutreten:
wir danken dem Verf. für feine wertvolle Gabe und find
der Überzeugung, daß diefelbe auch außerhalb des Zu-
hörerkreifes, dem fie zunächft gelten foll, Dienfte leiften
und Segen ftiften wird.

Straßburg i. E. P. Lobftein.

Nieweg, Jakob, Frederick William Robertson. Proefschrift.
Groningen, J. B. Wolters 1905. (XI, 207 blz.) gr. 8°

Neue Quellen über Robertfon ftanden Nieweg nicht
zur Verfügung; er fchöpft, abgefehen von den eigenen
Schriften des großen Predigers von Brighton, faft ganz
aus Stopford Brookes Life and Letters. Das Material,
welches diefes Lebensbild, die Predigten und die Briefe
geben, hat er mit Sorgfalt verarbeitet; aber das Beftreben,
dasfelbe von eigenen, neuen Gefichtspunkten aus anzufeilen
, hat kaum irgendwo zu glücklichem Erfolg geführt
. Am wenigften Selbftändigkeit konnte natürlich der

erfte, biographifche Teil gewinnen. Es ift anzuerkennen,
daß N. fich müht, nur diejenigen Momente herauszuheben,
welche auf Robertfons Werden wirklich von Einfluß
waren; aber die kleine Skizze (39 S.) bleibt doch ein Auszug
aus Brooke ohne Anfpruch auf Selbftändigkeit. Mehr
Eigenes bringt Teil II (R. als Theologe) und III (R. als
Prediger); aber es ift die Frage, ob durch dies Eigene
die Sache gefördert worden ift. Namentlich erheben fich
große Bedenken betr. Teil II. Robertfon war abfolut
kein Syftematiker; er war Prediger, er war ein religiöfes
Genie, er war ein Denker, — aber niemals ein Syftematiker
. Nieweg konftatiert felbft, daß wir bei ihm oft
über denfelben Gegenftand fehr verfchiedene Meinungen
finden, die einander nicht ausfchließen, die fich aber auch
nicht decken; daß feine Äußerungen oft mehr offenherzige
Mitteilungen find mit dem Zweck, vor lieh felbft
und vor anderen zu größerer Klarheit zu kommen. Und
nun bringt er trotzdem R.s theologifche Anflehten auf
117 Seiten in ein wohlgeordnetes dogmatifches Schema
nach den Hauptgefichtspunkten: Allgemeine und behendere
Offenbarung, Gotteslehre, Chrifiologie, Soterio-
logie, allgemeine Auffaffung vom Dogma— und nach vielen
fchönen Unterabteilungen! Eine fchreckliche Art, die
Anfchauungen eines Mannes wie R. darzulegen! Geradezu
zum Prokruftesverfahren führt diefer Schemafanatismus.
Von irgendwelcher tieferen Erfaffung von R.s Eigenart
ift dabei natürlich nicht die Rede. Es hätte fich gehört,
daß eine kurze Skizze, welche dann freilich eben diefe
Eigenart und nur fie kongenial nachzeichnen mußte, in
die Darfteilung der Predigtweife R.s eingegliedert worden
wäre; da war fie an ihrem Platz. Diefe Darftellung
(Abfchn. III) hätte dadurch zugleich an Gefchloffenheit
gewonnen. Sie mußte doch recht eigentlich die piece de
resistance des Buches bilden. Sie bot auch trotz allem,
was fchon über R. getagt ift, immer noch Gelegenheit,
in die Tiefe gehendes eigenes Verftändnis und Selbftändigkeit
der Auffaffung zu zeigen. Ein Anlauf dazu
ift genommen; aber etwas Ordentliches, Gründliches ift
dabei nicht herausgekommen. Nachdem R.s Anfchauungen
über das Predigtamt (ganz nach Brooke) wiedergegeben
find und einige Urteile bedeutender Männer über
ihn als Prediger aufgezählt lind, werden vier Hauptfaktoren
feiner Predigt genannt: 1. die intellektuelle
Kraft; 2. die künftlerifche Anlage; 3. die Kenntnis der
menfehlichen Seele; 4. der perfönliche Charakter feines
religiöfen Lebens. Das find ganz richtige Beobachtungen;
aber auch fie find z. T. fchematifch durchgeführt und —
was die Hauptfache ift — fie zeigen durchaus nicht er-
fchöpfend die Art des Predigers, der fo gewaltigen Einfluß
geübt hat. Es find einzelne Züge; aber fie geben
kein Gefamtbild, fie ermöglichen kein wirkliches Verftändnis
. Form und Inhalt mußten ganz anders mit einander
in Beziehung gefetzt, beides noch ganz anders aus
der Perfönlichkeit heraus erklärt und zugleich mit der
Zeit, in der diefe Perfönlichkeit wirkte, und mit den Ver-
hältniffen und den Menfchen, die fie zu beeinfluffen fuchte,
in Verbindung gebracht werden, wenn ein wirkliches Bild
des Mannes und des Predigers vor dem Lefer erftehen
follte. Was wir vor uns haben, ift nur ein Verfuch, ein
Anlauf, nicht mehr.

Mag diefe Groninger theologifche Doktordiffertation
vielleicht in Holland, wo übrigens Hofftede de Groot vorgearbeitet
hat, noch weitere Kreife auf Robertfon auf-
merkfam machen, unfer Studium des großen Engländers,
den wir in den letzten Jahrzehnten lieben gelernt haben,
wird durch diefelbe nur wenig gefördert.

Görlitz. M. Schian.