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Ausgabe:

1905 Nr. 2

Spalte:

36-37

Autor/Hrsg.:

Orelli, C. von

Titel/Untertitel:

Der Prophet Jesaja. 3., neu durchgearb. Aufl 1905

Rezensent:

Volz, Paul

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Theologifche Literaturzeitung 1905 Nr. 2.

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gröberen Form oder im ahnenden Gemüt fchon die fpäter
klar (ich zeigende Idee verborgen liegt (vgl. Unfterblich-
keitsidee). Aber andererfeits geht er in der Annahme
von der Einheit der biblifchen Lehre und von der Lehrausprägung
der biblifchen Gedanken überhaupt zu weit;
er findet in Stellen wie Gen. 2 7, die doch gewiß nur
Anflehten eines Einzelnen neben anderen Anflehten ausdrücken
wollen, allgemeingültige biblifche Lehren, er
konftruiert die ganze ifraelitifche Frömmigkeit in das
Bundesverhältnis hinein, das doch nur eine Auffaflung
neben anderen war. Nicht bloß die Entwicklung, fondern
die ungemeine Mannigfaltigkeit der religiöfen Anfchau-
ungen, die fich nicht zu der Einheit einer bibl. Lehre
zufammenzwängen laffen, wird bei der dogmatifchen Behandlung
notwendig verkürzt, und das, trotzdem der
Verf. mit klarem Verftändnis ausführt, wie alle Ausfagen
des AT nicht wiffenfehaftlich, fondern religiös, nicht
theoretifch, fondern praktifch gerichtet fein wollen. Eine
weitere Schattenfeite ift die, daß um der dogmatifchen
Überficht willen der ganze Stoff unter wenige Gefichts-
punkte gruppiert und dadurch teilweife in einen unrichtigen
Zufammenhang gerückt wird. Am deutlichften ift
dies bei der Lehre von der Erlöfung. Einmal ift diefe
im AT keineswegs von Anfang an vorherrfchend genug,
um fich zu einem Hauptabfchnitt zu eignen, und dann
ift vor allem die Unterordnung des ganzen Kultinftituts
unter diefen Oberbegriff verhängnisvoll. Es wird hiebei
der Begriff der Erlöfung und der Verföhnung einfach
zufammengenommen; abgefehen davon aber ift der Kult,
zum minderten in der älteren Zeit, nicht bloß, nicht einmal
in erfter Linie mit dem Zweck der Erlöfung oder
Verföhnung eingerichtet. Gerade beim Kult erweift fich
die dogmatifche Behandlung als fchwierig; hier verfagt
vor allem auch jene theologifche Methode, die nur die
wertvolle, allgemeingültige Lehre feftftellen will, und bezeichnenderweife
wird nicht klar ausgefprochen, daß der
kultifche Apparat an fich etwas Unterprophetifches ift.
Endlich ift im Zufammenhang mit dem ganzen dogmatifchen
Plan der Ausgangspunkt für den Verf. nicht fo
fehr das exegetifche Material, aus dem die theologifche
Lehre fich bildet, fondern die dogmatifche Spekulation;
er zieht (nicht feiten unter Zuziehung des NT) die dogmatifchen
Grundlinien, erwähnt die verfchiedenen dogmatifchen
Möglichkeiten und zeigt dann, welche unter
ihnen in der biblifchen Lehre ausgeführt ift.

Das Bisherige hat feine Berechtigung oder Begründung
in der ganzen, vom Verf. mit Vorbedacht gewählten
dogmatifchen Methode. Es ift aber noch einiges zu erwähnen
, was mit diefer Methode nicht zufammenhängt.
Die etwas zwanglofe Art, in der diefe Abhandlungen
verfaßt find, mutet den deutfehen Lefer fremdartig an,
fo fehr unfre Theologen die früher beliebte fchwere
Rüftung mit dem anmutigen, leicht anliegenden Gewand
zu vertaufchen fich bemühen. Insbefondre müßte gerade
eine biblifche Dogmatikin ihrem Gedankengang ftraff und
in ihrer Dispofition forgfältig fein. Hier aber werden
nicht feiten längere Exkurfe über biblifche Schriften ein-
gefchoben, die zwar zum Bellen des Buchs gehören, aber
den Lauf des Ganzen ftören; auch ift der Lehre von der
Unfterblichkeit, die im AT doch fehr unklar und vereinzelt
bleibt, ein viel zu großer Raum gegeben. Endlich
aber fragen wir uns, ob der Herausgeber, der die Schwierigkeit
feiner Aufgabe deutlich erkannte, nicht doch beffer
daran getan hätte, das Werk feines Freundes gründlich
und mit pietätsvoller Energie, wenigftens in formaler
Hinficht, durchzuarbeiten, die Überfchriften in .Einklang
mit dem nachfolgenden Inhalt zu fetzen, die regelmäßigen,
oft ganz wörtlichen Wiederholungen zu ftreichen, das
Verftreute zu fammeln und das Ganze in eine klare Gedankenfolge
zu bringen. Es ift eben immer ein eigenes
Ding um folche nachgelaffenen Werke; die Pietät der
Schüler verehrt fie und liebt fie in der Form, aus der
ihr der verehrte Lehrer entgegentritt; die kühle Wiffen-

fchaft verlangt, daß das öffentlich gewordene Buch ihrem
ftrengeren Maßftab gerecht werde.

Intereffant aber, wertvoll und anziehend bleibt diefe
Abfchiedsgabe des fchottifchen Theologen; intereffant

1 dadurch, daß die dogmatifche Behandlung der ATlichen
Religion in ihren Vorzügen und Schattenfeiten an ihr
fichtbar wird; wertvoll durch das tiefe religiöfe Verftändnis
für den prophetifchen Geift des AT und für
das darin fich offenbarende Leben Gottes, anziehend
durch eine Menge feinfinniger und tiefgründender Einzel-

I bemerkungen. Diefe letzteren machen die Lektüre des
etwas umfangreichen Buches doch zu einem Genuß, und
der religiöfe Geift, der darin fich ausfpricht, gibt dem
Lefer eine nachhaltige Förderung.

Leonberg. P. Volz.

Orelli, Prof. D. C. von, Der Prophet Jesaja, ausgelegt.
Dritte, neu durchgearbeitete Auflage. (Kurzgefaßter
Kommentar zu den heiligen Schriften Alten und
Neuen Teftamentes, fowie zu den Apokryphen, herausgegeben
von Hermann Strack und Otto Zöckler.
A. Altes Teftament. Vierte Abteilung, erfte Hälfte.)
München, C. H. Beck 1904. (VIII, 227 S.) Lex. 8°

M. 3.50; geb. M. 4.50

Zwifchen der 2. und der jetzigen Auflage diefes
Kommentars (1891—1904) ift auf dem Gebiet der Jefaja-
fchriften eine bedeutende Arbeit geleiftet worden. Verf.

I hat diefelbe mit lebhafter Anteilnahme verfolgt und es
ift ihm willkommen, in der neuen Auflage feine Stellung
zu den neueren Behauptungen kennzeichnen zu können.
In der Einzelexegefe bekennt er vielfache Förderung
erfahren zu haben, in der Gefamtanfchauung aber ift er
durch die eigene Weiterarbeit und durch den Verlauf
der fremden Arbeit nur beftärkt worden. Zu diefer
Gefamtanfchauung gehört einmal das, daß die prophetifchen
Schriftfteller wirklich als Propheten erkannt werden

j muffen und nicht etwa ihre religiöfe Größe durch das äftheti-
fterende Urteil verdeckt oder geftört werden darf; weiter
daß die vorliegende literarifche Befchaffenheit des Jefaja-
buchs mehr Vertrauen verdient, als man ihr jetzt meift
entgegenbringt; endlich daß neben all dem literar- und
textkritifchen Beftreben eine folche Bibelauslegung Recht
und Wert hat, die den nun einmal gegebenen Inhalt
des biblifchen Buchs erforfchen und religiös zu verwerten
fucht. So will der Kommentar hauptlächlich folchen
dienen, denen neben dem religiöfen Gehalt des Buchs
das hiftorifche Verftändnis und der Einblick in die ur-
fprüngliche Textbefchaffenheit nebenfächlich erfcheint.

Die Auseinanderfetzung des Verf. mit den neueren
literarkritifchen Anflehten, die ftreng genommen nicht
zu dem Zweck des Kommentars gehört, aber durch kleinen
Druck ohne Beladung des Buchs ermöglicht wurde, ift
immerhin bemerkenswert. Energifch wendet fich der
Verf. gegen die Wegnahme der Meffiasfprüche, gegen das
Übermaß vermeintlicher Interpolationen, das das Jefajabuch
zu einer Anthologie machen würde und fich mit der Ehrfurcht
der alten Zeit vor dem prophetifchen Buch nicht
vereinigen laffe, gegen die überaus fpäte Datierung umfänglicher
Einfchübe, gegen den literarkritifchen Gebrauch
des Metrums und fonftiger formaler, oft fo fubjektiver
Indizien, gegen die willkürliche Umftellung von Verfen
und Abschnitten. Er felbft ift in der Annahme fremder
Beftandteile zurückhaltend; er behauptet nichtjefajanifchen
Urfprung nur bei Kp. 24—27 (5. od. 4. Jahrh., mit Aufnahme
jef. oder fonft vorexilifchen Stoffs), Kp. 34h (exi-
lifch), Kp. 36—39 (wohl unter Manaffe) und mit Zaudern
bei Kp. 131"., das jedenfalls das fpätefte jef. Stück wäre;
bei 11, 10ff., 12, 19, 21 1-10 gibt er den Bedenken gegen
jef. Urheberfchaft Raum, läßt fie aber fchließlich nicht
gelten; 2 a—4 hat Jef. aus einer älteren eigenen Vorlage