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Ausgabe:

1905 Nr. 20

Spalte:

552-553

Autor/Hrsg.:

Geist, Hermann

Titel/Untertitel:

Das freie Reingöttliche im Menschen als das Grundelement aller echten Moral 1905

Rezensent:

Mayer, Emil Walter

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55i

Theologifche Literaturzeitung 1905 Nr. 20.

552

Gottesbegriff eine fo fcharffinnige Kritik übt. Lipfius
operiert bei der Charakteriftik diefes Prinzips bald mit
Fichtefchen, bald — und zwar vorwiegend —■ mit Hegel-
fchen Gedanken, wodurch in die Darftellung einige Un-
ficherheit kommt. Auch kann man darüber in Zweifel
geraten, ob die als Ausgangspunkt benutzte Allgemeingültigkeit
des Kaufalitätsgefetzes auf Erfahrung beruhen
folle oder auf dem Bewußtfein, daß es notwendig und
.wertvoll' iff, dem Kaufalitätsgefetz gemäß zu verknüpfen.
Aber fchließlich deutet Verf. felbft durch die Kürze, mit
der er feine pofitiven Thefen behandelt, an, daß für ihn
das Schwergewicht nicht in diefen liege, fondern in den
kritifchen Abfchnitten.

Hier wird in der Tat viel Wiffen und großer Scharf-
finn entfaltet, und manchem wird man rückhaltlos zu-
ftimmen können. Zwar den Einwänden, die gegen die
Denkbarkeit eines perfönlichen Schöpfers erhoben werden,
dürfte nicht allzugroße Bedeutung beizulegen fein: pro
und contra find ja da fchon oft erörtert worden. Dagegen
ift Ref. durchaus der Anficht, daß eine den Gegen-
fatz von Geifl und Materie zu überwinden fuchende Meta-
phyfik ihr Ziel nie erreichen wird ohne Glaubenselemente
oder, modern ausgedrückt, Werturteile mit in Anfchlag
zu bringen. Ebenfo ift gewiß, daß das biologifche Argument
kein eigentlicher Beweis genannt werden kann: nur
war dies Refultat vielleicht billiger und bequemer zu erlangen
, als mittels der etwas weitfchweifigen und koft-
fpieligen Erwägungen des Verfaffers Auch die Lotzefche
Beweisführung und verwandte Betrachtungen gibt heutzutage
, vielleicht Bolliger ausgenommen, kaum jemand
mehr für voll genügend aus.

Wie aber fteht es mit der Kritik der fogenannten
,Gefühlstheologie'? Mag es auf fich beruhen, ob Herrmann
es fich gefallen zu laffen braucht, als ein Vertreter
derfelben bezeichnet zu werden: ganz undenkbar ift das
wohl nicht. Gewiß ift aber, daß die gegen fie vorgebrachten
Einwände nicht ausreichend find. Was Lipfius
geltend macht, ift die Thefe, daß es keine Gefühle gebe
abgefehen von den die Empfindungen begleitenden. Dadurch
wird wohl Schleiermachers Theorie getroffen, der
in der Glaubenslehre außer den ,finnlichen' Gefühlen ein
fpezififch religiöfes Gefühl ftatuiert, nicht aber eine Theorie
wie beifpielsweife diejenige A. Ritfchls, der keineswegs
verkennt, daß die Gefühle immer nur Begleiterfcheinungen
von Empfindungen find, der aber trotzdem daran feft-
hält, daß gerade die den Wahrnehmungen parallel laufenden
Wertgefühle die Quelle befonderer, nämlich, der
religiöfen Vorftellungen und Urteile find. Demgegenüber
mußte zunächft lediglich feftgeftellt werden ob die
Ritfchlfche Religions-Pfychologie richtig fei, d. h. ob die
religiöfen Vorftellungen und Urteile wirklich in der angegebenen
Weife entftehen oder nicht. Dann erft war
die Frage am Platz, ob die Theologie, richtiger ge-
fprochen, die Dogmatik, und noch genauer, die Apologetik
oder Religionsphilofophie die Wahrheit der religiöfen
Vorftellungen und Urteile behaupten und dartun
könne oder nicht. Die Entfcheidung diefer Frage ließ
fich natürlich auf verfchiedene Weife herbeiführen, je
nach dem erkenntnistheoretifchen Standpunkt des Verfaffers
: etwa durch Unterfuchungen darüber, ob die Theologie
die religiöfen Vorftellungen und Urteile nachträglich
durch Anknüpfung an die letzten Ergebniffe der
Erfahrungswiffenfchaften zu ftützen vermöge; oder aber
durch Unterfuchungen darüber, ob die Theologie fie
durch metaphyfifche Spekulation zu beweifen imftande
fei. Oder aber die Aufmerkfamkeit wurde darauf gelenkt,
ob den religiöfen Vorftellungen und Urteilen irgendwie
Notwendigkeit zukomme, und fie deshalb in ihrer Art
ebenfo wahr feien wie die wiffenfchaftlichen Vorftellungen
und Urteile, deren Geltung in letzter Inftanz ja auch auf
ihrer Notwendigkeit beruht.

Eine folche Behandlung des Themas verbaut fich der
Verf. freilich dadurch, daß er keinen Unterfchied macht j

zwifchen Religion einerfeits und Theologie andererfeits.
Diefer Fehler gibt feiner Neigung, keine andere Erkenntnis
zu ftatuieren als die wiffenfchaftliche, einen trügerifchen
Halt. Denn daß die theologifche Erkenntnis nichts taugt,
wenn fie nicht auf gleiche Weife entftanden ift, wie das
wiffenfchaftliche Erkennen überhaupt, verfteht fich von
felbft: will doch die Theologie Wiffenfchaft fein. Die
religiöfen Vorftellungen und Urteile dagegen berufen fich
auf einen andern Urfprung als die wiffenfchaftlichen. Es
wäre billig gewefen, zunächft durch eine religionspfycho-
logifche Analyfe ihre Auslagen zu prüfen und ihre Ent-
ftehungsart feftzuftellen und dann erft die Diskuffion über
ihre Gültigkeit zu eröffnen.

Die gemachten Ausftellungen bezeugen das Intereffe,
mit dem Ref. das Buch gelefen hat. Sie verraten zugleich
, worin des letzteren Hauptbedeutung befteht. Darin,
daß es mit Gelehrfamkeit und Scharffinn, mit rückfichts-
lofer Offenheit und unerbittlicher Konfequenz den Standpunkt
eines radikalften Intellektualismus vertritt, eines
noch viel radikaleren, als felbft der eines Biedermann
war. Das ift immerhin ein Verdienft, weil durch folche
ungefchminkte Ausfprache unter allen Umftänden etwas
beigetragen wird zur Klärung theologifcher Probleme, die
wichtig bleiben, obgleich fie neuerdings durch Probleme
der Hiftorie etwas in den Hintergrund gedrängt
worden find.

Straßburg i. E. E.W.Mayer.

Geilt, Dr. Hermann, Das freie Reingöttliche im Menfchen
als das Grundelement aller echten Moral. Weimar, H.
Böhlaus Nachf. 1902. (XXII, 225 S.) gr. 8° M. 6 —

Der Verf. will das .Reingöttliche', d. h. ,die be-
fondere reine, gewaltige Kernkraft, welche in allem exi-
ftierenden Leben, in der ganzen Weltwirklichkeit, in allen
Beziehungen und Verhältniffen des Lebens, in der natürlichen
und fittlichen Weltordnung die entfcheidende Vollkraft
ift', als ,den konkreten Lebensquell aller echten
freien fittlichen Gefinnung, aller echten freien perfönlichen
, fozialen und politifchen Moralität' nachweifen.

Zu diefem Zweck entwickelt er zunächft feine Theologie
. Der ,göttliche Urquell alles Lebens' ift einerfeits
von der ,Weltwirklichkeit' unterfchieden, anderfeits mit
ihr eins. Er wird durch folgende formale Eigenfchaften
gekennzeichnet: Lebenseinheit, Geiftigkeit, Lebensdrang,
Unendlichkeit, Siegeskraft, Unfterblichkeit. In materialer
Hinficht find für ihn charakteriftifch: Wahrhaftigkeit, Liebe,
Freiheit, Heiligkeit, Notwendigkeit, Übereinftimmung mit
fich, Vollkommenheit, Selbftändigkeit, Selbftgefühl, Glück-
feligkeit und endlich der Umftand, daß er Selbftzweck ift.

Was dieKosmogonie betrifft, fo ift die Weltfchöpfung
zu denken als ,das Entftehen des göttlichen wirklichen
Lebens durch die Selbftentfaltung des göttlichen Wefens.
Sie ift die unmittelbare lebendige Wirkung der aus fich
felbft entfpringenden Urfache alles Lebens'. Sie ift zugleich
eine Tat der Freiheit, der Notwendigkeit und der
Liebe.

Aus diefen Beftimmungen über die Weltfchöpfung
allein fchon ergibt fich, daß Gott nicht außerhalb der
Welt ift, fondern in ihr. ,Die Körperwelt an fich ift die
von ewigen göttlichen Triebkräften befeelte, ewig wech-
felnde, in der Entwicklung fich verändernde äußere Form
des Leibes Gottes'. Was nun für die Welt im allgemeinen
gilt, das gilt auch für den Menfchen im einzelnen: ,das
Reingöttliche gehört zum konkreten Wefen des Menfchen,
ift in ihm als feine fefte urfprüngliche, eigene göttliche
Natur lebendig und tätig, die felbftändige Kraft der
Menfchennatur'. Das höchfte und herrlichfte Beifpiel
aber ,der Erkenntnis des dem Menfchen als heilige Auto-
| rität eingeborenen lebendigen Göttlichen ift Chriftus'. Das
Übel und Böfe in der Welt erklärt fich teils daraus, daß
,das Niedrige, Unreife, Unfreie', das ,als Entwicklungs-
I ftufe der göttlichen Weltwirklichkeit in fich vollberechtigt