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Ausgabe:

1905 Nr. 19

Spalte:

530-531

Autor/Hrsg.:

Busse, Ludwig

Titel/Untertitel:

Die Weltanschauungen der großen Philosophen der Neuzeit 1905

Rezensent:

Mayer, Emil Walter

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529 Theologifche Literaturzeitung 1905 Nr. 19. 530

durchgegangen und mit freiem Blick für ihre Vorzüge
wie für ihre Schwächen begabt, befitzt er ein mitfühlendes
Verftändnis der feelifchen Zuftände und Wandlungen,
die der junge Schleiermacher erfahren mußte. Damit
verbindet er eine gründliche Kenntnis der Literatur.
Die Aufzeichnungen Schleiermachers und feines Freundes
Okely nutzt er in noch vollerem Maße als Dilthey. Zumal
aus dem Nachlaß Schleiermachers bringt er manches

Busse, Prof. Dr. Ludwig, Die Weltanschauungen der großen
Philosophen der Neuzeit. (Aus Natur und Geifteswelt.
56. Bändchen.) Leipzig, B. G. Teubner 1904. (IV,
164 S.) 8° Geb. M. 1.25

Die Schrift verfolgt den Zweck, ,weitere Kreife in
allgemeinverftändlicher Form mit den bedeutendften Erscheinungen
der neueren Philofophie bekannt zu machen

bisher Ungedruckte bei; und den gedruckten Jugend- j und dadurch in ihnen Intereffe und Verftändnis für die
briefen, die bisher zum Teil nicht oder falfch datiert Philofophie überhaupt und ihre Probleme zu erwecken',
waren gibt er das richtige Datum und die zeitliche Ord- Charakteriftifch für die Auffaffung des Verf. und für die
nung (S. I20f. 199). Zu alledem aber fügt er eine Fülle Richtung, die er der Aufmerkfamkeit des Lefers gibt, ift
von neuem Stoff, den die Hiftoriker des Chriftentums die Definition der Philofophie, die er vorausfchickt. Er
und des "elehrten Unterrichts mit gleichem Dank be- deutet fie als ,Weltanfchauung' und bezeichnet als ihre
grüßen werden. Er hat die Protokolle und Diarien der j Hauptaufgabe ,die einheitliche Zufammenfaffung aller Erkenntnis
zu einer Totalanfchauung von der Welt, welche
uns das Wefen, den Sinn und die Bedeutung des Weltganzen
verftändlich machen foll'. Die Darftellung felbft
zerfällt in zwei Abfchnitte.

Der erfte behandelt die neuere Philofophie bis Kant.
Er beginnt mit einer kurzen Schilderung der Gegenfätze:
Rationalismus und Empirismus; Dogmatismus und Skeptizismus
; Spiritualismus und Materialismus. Als Vertreter
des Rationalismus werden Descartes, die Occafionaliften

Gemeinden durchforfcht und beherrfcht neben anderen
Quellen den reichen Inhalt, den die etwas älteren Schüler
Brinkmann und Schneider fowie der etwas jüngere Fries
in ihren Tagebüchern niedergelegt haben. Die Gründung
auf diefen urkundlichen Stoff verleiht der Darftellung
faft ftets überzeugende Kraft. Außerdem ftoßen
wir auf fo viele trefflich gewählte Zitate, daß wir eine
Reihe von Lehrern und Schülern aus dem Kreis des jungen
Schleiermacher gleichfam perfönlich kennen lernen.

Der 1. Abfchnitt und der Anhang werfen zum erften- „nH Sninrt.rk.fi,.« 1
male ein genaueres Licht auf den Übergang der Eltern S^S^SdlJS^lS^l > Vertreter des Empirismus

- V.umj_* ,._ pacon und Locke. Das weitere Ringen der verfchiedenen

zur herrnhutifchen Gefinnung, der 2. fchildert das
Herrnhutertum jener Zeit. In den Hauptabfchnitten
(3.—7.) durchleben wir mit dem heranwachsenden Fritz
erft die zweimonatliche Probezeit in Gnadenfrei (April—
Juni 83), dann die gymnafiale Ausbildung im Pädagogium
zu Niesky (Juni 83—Sept. 85) und endlich das mit dem
Bruch abfchließende Studium im Seminar von Barby
(Sept. 85—April 87). Die Erlebniffe in Niesky und Barby
werden jeweils eingeleitet durch eine ausführliche Schilderung
der Gemeinde und Schule; ein Verfahren, das zwar
den Zufammenhang von Schleiermachers Entwicklung
arg zerreißt, aber fie anderfeits mit voller Wucht in die
Luft der Brüdergemeinde hineintaucht. Die letzten Abfchnitte
bilden einen wenn nicht unmittelbar zum
Thema gehörenden, fo doch intereffanten Schluß. Der 8.
bringt vor allem einen Überblick über das Leben
Albertinis feit 1787; der 9. ftellt die Beziehungen

Richtungen miteinander wird veranfchaulicht an den
Syftemen Leibniz', Berkeleys, Humes, der franzöfifchen
Senfualiften und Materialiften, Wolffs und der deutfchen
Aufklärung. Als Überwinderin der Gegenfätze erfcheint
die kritifche Philofophie.

Der zweite Abfchnitt behandelt die neuere Philofophie
feit Kant. Die in den Kreis der Betrachtung gezogenen
Repräfentanten des Idealismus find Fichte, Sendling,
Hegel, Schopenhauer, Hartmann; die des Realismus Herbart
und Lotze. Der Neukantianismus findet Berück-
fichtigung in einer auffallend knappen Befprechung F.
A. Langes. Der Pofitivismus wird erläutert an den
Syftemen Comtes, Mills und Spencers.

In beiden Abfchnitten bedient fich der Verf. für die
Dispofition mit einer gewiffen Vorliebe des Schemas:
theoretifche Philofophie — praktifche Philofophie. Die
Afthetik und die Religionsphilofophie fallen fo gut wie

des fpäteren Schleiermacher zur Gemeinde und feine ganz aus. was allerdings einige empfindliche Lücken

Äußerungen über ihre Eigenart chronologifch zufammen
Endlich im Anhang folgen außer den genannten Stücken
über den Vater die wichtigften Notizen über das weitere
Leben Brinkmanns und ein Urteil des Freiherrn Fr. K.
v. Mofer über die Gemeindeerziehung (1776).

Zu der Darbietung und überfichtlichen Gruppierung
des reichen Stoffes kommt ein zweites Verdienft. M. zeigt
weit klarer und genauer, als es je bisher gefchehen ift,
einzelne Linien, auf denen fich fpäterhin bei Schleiermacher
der Einfluß der Brüdergemeinde geltend macht.
Am wichtigften bleibt die innerliche Tiefe und die alle
Lebensäußerungen befeelende Kraft der Frömmigkeit;
daneben aber flehen vorzüglich feine Ideale von Gottes-
dienft und geiftiiehem Amt, von religiöfer Gemeinfchaft
und Kirchenverfaffung. Auch feine ftaunenswerte Viel-
feitigkeit wie feine praktifch-pfychologifche Fähigkeit
weifen in das Leben von Niesky und Barby zurück (z. B.

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zur

Folge hat. Daß beifpielsweifeSpinozas theologifch-politi-
fcher Traktat überhaupt nicht namhaft gemacht wird, dürfte
zwar angefichts der Grenzen, die fich die Schrift Buffes
felbft gezogen hat, durchaus begreiflich fein. Schwerer
wird man es verwinden, daß die Kritik der Urteilskraft
gleichfalls nicht zur Sprache kommt, daß von derSchleier-
macherfchen Philofophie und anderem mit keiner Silbe
die Rede ift.

Dagegen hängt die Beurteilung der Charakteriftik,
die von der Gedankenwelt Kants im allgemeinen entworfen
wird, mit vom Standpunkt und Gefchmack des
Rezenfenten ab. Es ift nicht zu leugnen: Buffe wider-
ftrebt der modernen weit verbreiteten Neigung, die Philofophie
des großen Königsbergers unter einfeitiger Betonung
der Konfequenzen, die fich aus den fundamentalen
Anfchauungen ergeben, als ein einheitliches riß- und
fprunglofes Ganzes zu reproduzieren. Es waltet bei ihm

S. 43f. 45f. 57t 130. 153m 258fr.). Mit diefer Erkenntnis s vielmehr die Tendenz ob, an der urfprünglichen Formu

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wächft zugleich unfere Einficht in die Entwicklung des
neueren Chriftentums: der Zufammenhang unferer Frömmigkeit
und Theologie mit den mährifchen Brüdern, dem
Pietismus und der Perfon Zinfendorfs wird wenigftens in
einigen Punkten geklärt.

Daß ein fo inhaltreiches Buch einzelne Fragezeichen
herausfordert, ift felbftverftändlich (vgl. die Skizze von
Schleiermachers Entwicklung S. 240 oder die Deutung
der Monologenftelle S. 243f.); im ganzen aber verdient

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ierung haften zu bleiben, ohne daß die Schwächen be-
feitigt, die rudimentären heterogenen Elemente ausge-
fchieden, die Widerfprüche aufgedeckt und ausgeglichen
würden. Zieht man zum Vergleich die glänzende und
geiftreiche Darftellung des Kantifchen Syftems heran, die
uns jüngft Simmel gefchenkt hat, eine Darfteilung, in der
mit bewußter Rückfichtslofigkeit einzelne als wertlos
empfundene Linien verwifcht, andere als wertvoll beurteilte
verftärkt werden, fo daß vor den Augen des Lefers

es freudigen Dank. das blendende Bild einer harmonifchen Einheit erfteht

Leipzig. _ H. Stephan. I dann flicht gewiß die anfpruchslofe und — sit venia