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Ausgabe:

1905 Nr. 19

Spalte:

525-527

Autor/Hrsg.:

Grotenfelt, Arvid

Titel/Untertitel:

Geschichtliche Wertmaßstäbe in der Geschichtsphilosophie bei Historikern und im Volksbewußtsein 1905

Rezensent:

Ritschl, Otto

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Theologifche Literaturzeitung 1905 Nr. 19.

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licher Gegenwart und Wirkfamkeit in der Gefchichte bez. ,Die Wertfehätzung in der Gefchichte' (Leipzig 1903) hat
Schrift'). Alle Spuren der wachfenden Einficht, daß O. , erfcheinen laffen. Während er in diefer früheren Schrift,
nicht ein Zuwiffenbekommen, fondern ,Leben und Kraft' wie er im Vorwort berichtet, ,aus methodologifchen Ge-
ift, daß O. und religiöfe Realität zufammengehören, wer- j fichtspunkten die Frage erörtert' hatte, inwiefern eine
den angelegentlich vermerkt. Als ein Verdiend der ] Wertfehätzung in der Gefchichte unvermeidlich fei', be-
,Ethifchen' in Holland wird anerkannt, daß fie diefe, von I handelt er jetzt vielmehr im fachlichen Intereffe ,das
Schleiermacher in ihrer Wichtigkeit wiederentdeckte, : Problem der gefchichtlichen Wertfehätzung'. Zunächft
hiftorifche Seite des Problems befonders in Angriff ge- I gibt er einige lehrreiche Kapitel über die Gefchichte der
nommen, während an der ftreng ref. Richtung Kuypers | verfchiedenen Gefchichtsauffaffungen und der wichtigften
gelobt wird, daß fie die dogmatifche fruchtbar bearbeitet, j Leiftungen der Gefchichtsphilofophie. Am eingehendften
Der Verf. fcheint fich in die Nähe von E. H. van Leeuwen I werden die Arbeiten des 18. Jahrhunderts befprochen.

Nur bleibt in diefen Darlegungen eine Würdigung von
Leffings Erziehung des Menfchengefchlechts zu ver-
miffen. Ferner ift der Verf., vielleicht abfichtlich, nicht
auf die Kirchengefchichtsfchreibung eingegangen. Umfo-
mehr hätte auf diefen parallelen Stoff und auf F. Chr.
Baurs noch immer nicht veraltetes Buch über die Epochen
der kirchlichen Gefchichtfchreibung (1852) gelegentlich
verwiefen werden können. Die vorwiegend referierende
Form in den erften Kapiteln geht dann mehr und
mehr in eine fachliche Auseinanderfetzung, insbefondere
über die hedoniftifchen und idealiftifchen Wertprinzipien
und die univerfaliffifche und nationale Beurteilung
, über. Dann entwickelt der Verf. feine eigene
Auffaffung, dergemäß ,vor allem die Sittlichkeit, die
pflichtgemäße Gefinnung und daneben die Religiofität,
die echte Gottinnigkeit unbedingte Werte find' (S. 167).
Freilich fchädigen ,auch diefe höchften Betätigungsformen
des geidigen Lebens fich felbft.......wenn fie

die einzigen fein wollen und andere Seiten des Kulturlebens
in ihrem Wachstum beeinträchtigen' (S. 168).
Seine Gefamtanficht fpricht der Verf. in folgenden Sätzen
aus: ,Der Kern und das eigentlich wertvolle in aller
gefchichtlichen Kultur ift nichts anderes, als die Entwicklung
eines edlen Geifteslebens in den menfehlichen
Einzelfeelen, d. h. die Ausbildung und Pflege jener Eigen-

zu (teilen.

Sein III. Teil hat uns nach den zahlreichen prinzipiellen
Erörterungen bis dahin kaum noch Unbekanntes
zu fagen. Nochmals wird die Grundidee des Worts 0.
,nach Maßgabe der Schrift und des allgemeinen Denkens'
erörtert. Nochmals werden die Unterfcheidungen gekichert
: individuelle, unmittelbare O. und: gemeinfehaft-
liche, durch Wort, Schrift und Menfchen vermittelte, oder:
.Offenbarungen' und ,die Offenbarung'; im Blick auf die
menfehliche Sünde und die göttliche Erhabenheit ift zu
unterfcheiden: fporadifche und organifche O. (ftatt rev.
naturalis und supcrnaturalis). Subjektiv kommt der O.
entgegen ein sensus divinitatis im Menfchen, eine Fähigkeit
richtiger Einficht. Die O. in Chriftus ift kurz befaßt
in dem Wort Heil, d. h. Sündenvergebung, neues, ewiges
Leben, Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes, alles durch
Chriitus. O. ift eine Sache innerlicher Wahrheit, die erfahren
werden will, nicht ein Lehrfyftem, eine Reihe von
Wahrheiten, nicht die Bibel, nicht Theologie, nicht eine
myftifche Erleuchtung ohne klare Vorftellungen, nicht
Sittenlehre. Sie fordert auch das Wunder (= alles, was
uns auffällt, was wir nicht erklären können — ein höchft
undeutlicher Begriff, dem nicht geholfen wird durch die
Parallele mit den Aggregatzuftänden des Waffers, die
die Verträglichkeit des Wirkens der verfchiedenen Gefetze
der Natur und des Wunders veranfehaulichen foll). j fchaften und Tätigkeiten der Perfönlichkeit, die wir in-

Über die Schriftfrage wird mehr erbaulich geredet, als
das Problem ernftlich angefaßt.

Man kann den Standpunkt des Verf. charakterifieren

tuitiv als befonders wefentlich und wertvoll fchätzen.
Infolgedeffen hat das gefchichtliche Kulturleben der
Menfchheit Wert nur, wenn die Kultur verinnerlicht

als den eines anti-intellektualiffifch, anti-myftifch, für das wird, wenn fie eine Erziehung der Völker zu gefitteter
praktifch-innerliche Verftändnis der O. intereffierten Theo- | Denkweife und höherer Intelligenz, zu verfeinerten und
logen, der mit befonnenem Urteil, aber ohne wirkliches i menfehenfreundlichen Gefühlen, zu geiftigen Beftrebungen
Erfaffen der modernen Probleme der pfychologifchen , bedeutet. Dazu gehört, daß der Kulturprozeß, das ganze
und hifforifchen Entwicklung, in einem an Beck erinnern- ! gefchichtliche Leben, immer vernünftiger, menfehlicher,
den naiven Biblizismus und mit der etwas formaliftifchen gerechter werde' (S. 179). Den Einfluß der Individuen
begrifflich-logifchen Gewandtheit des reformierten Syfte- ! auf den Verlauf der gefchichtlichen Entwicklung erkennt
matikers feinen Gegendand behandelt. Mir fcheint auch I der Verf. in feiner Wechfelwirkung mit den allgemeinen
diefe Unterfuchung wieder zu zeigen, daß wir bei dem Bedingungen und Zeitverhältniffen in treffenden Ausgegenwärtigen
Stand der Dinge methodifch beffer tun, ! führungen an (S. 177). Auch ift er fich klar darüber,
das in dem Begriff O. liegende Problem: wie wirkt Gott ; daß nur das Gefühl und der Wille Werte fchafft (S. 178)

auf die Menfchen in der Gefchichte und heute, und wie
vermögen wir fein Wirken zu erkennen und feiner Realität
gegenüber die kritifche Vernunft in ihre Grenzen
zu verweifen, von unten her, pfychologifch und erkennt-
nistheoretifch, ftatt von oben, ,biblifch-dogmatifch' anzu

und daß feine Überzeugung, die gefchichtliche Kulturarbeit
fei nur gefund und echt, wenn fie für die Verwirklichung
höchfter und unbedingter Werte etwas leifte,
,ein Glaube oder ein Poftulat, kein auf gefchichtlicher
Beobachtung und theoretifchem Denken begründetes

faffen. Für die letztere Weife, die ,einft wiederkommen' ; Wiffen' fei. ,Wir fuchen felbftverftändlich unferen Glauben
wird, find wir heute noch zu fehr beladet mit Auseinan- foweit möglich auf gefchichtliche Beobachtung zu grün-
derfetzungen mit Gefchichtswiffenfchaft und Philofophie j den oder mit unferem empirifchen gefchichtlichen Wiffen
und noch zu fehr mit dem Herausarbeiten notwendiger j in Einklang zu bringen, einen Beweis für unfere ÜberPrinzipien
für jene Arbeit befaßt; wir find pfli chtm äßig, [ zeugung können wir nicht geben' (S. 187).
wenn auch nicht ,atheidifch' (wie behauptet wird), fo doch Vorbehaltlich meines methodologifchen Diffenfus1

durch die vviffenfehaftliche Lage augenblicklich ganz be- j von dem Verf., den auch diefer S. 7 f. berührt, indem er
fonders ,exo-theologifch' engagiert. unter dem Beg"ff Gefchichtswiffenfchaft auch das mit

Simmern (H.). Alfred Zilleffen. ! einbegre.fen will, was mir, befonders an den zufammen-

__LJ_._._ faffenden Gefchichtsdardellungen, vielmehr als ein künd-

Grotenfelt, Arvid, Geschichtliche Wertmaßstäbe in der Ge- lerifches Moment erfcheint, dimmeich feinen Darlegungen
Schichtsphilosophie bei Historikern und im Volksbewußt- j 'n dem™f„f™?e" Buche in fehr weitem Umfange bei

sein. Leipzig, B. G. Teubner 1905. (VI, 211 S.) gr. 8°

M. 5 —

Vorliegende Arbeit id die Fortfetzung und Ergänzung
einer früheren, die der Verf. unter dem Titel

Es id mit großer Kenntnis, rühmlicher Umficht und
gutem, befonnenen Urteil gefchrieben und bekundet

1) Vgl. meine Schrift: Die Caufalbetrachtung in den Geifteswiffen-
fchaften, Kap. 2, S. 13 fr.