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Ausgabe:

1905 Nr. 19

Spalte:

519-521

Autor/Hrsg.:

Barge, Hermann

Titel/Untertitel:

Andreas Bodenstein von Karlstadt. I. Teil: Karlstadt und die Anfänge der Reformation 1905

Rezensent:

Cohrs, Ferdinand

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Theologifche Literaturzeitung 1905 Nr. 19.

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ich doch nur wenige Stellen verbeffern können. Das
Lexikon hätte ich etwas ausführlicher gewünfcht.

Kiel. Hugo Greßmann.

Barge, Hermann, Andreas Bodenstein von Karlstadt. I. Teil:
Karlfladt und die Anfänge der Reformation. Leipzig,
F. Brandftetter 1905. (XII, 500 S.) gr. 8° M. 10 —

Der Herr Verfaffer hat fich dadurch, daß er eine
neue Karlftadt-Biographie in Angriff genommen hat, den
Dank aller Freunde der Reformationsgefchichte verdient.
Denn eine folche ift feit Jahren, ja feit Jahrzehnten ein
Bedürfnis. Jägers Arbeit (Andr. Bodenftein von Carlftadt,
1856) ift, auch wenn man fie für die Zeit ihres Erfcheinens
höher einfchätzen will, als Barge für erlaubt hält, heute
jedenfalls vollftändig unzulänglich geworden. Und wenn
auch die letzten Jahre manche vortreffliche Einzelarbeit
über Karlfladt (z. B. Bauch, Karlftadt als Scholaftiker in
Zeitfchr. für Kirchengefch. XVIII S. 37fr.; Kolde-Brieger,
Wittenberger Disputationsthefen aus den Jahren 1516—22,
ebenda XI S. 448 fr. bzw. 480, ferner Auffetze von Waltz
und Schäfer, ebenda II S. 127fr. und XIII S. 311 vgl. VIII
S. 283 fr.; auch Fifcher, Zur Gefchichte der evangelifchen
Beichte, bef. I S. 127 fr. II S. 84fr. 124 fr. u. ö.), befonders
auch von dem Herrn Verfaffer der vorliegenden Biographie
felbft (z. B. Theol. Stud. u. Krit. 1901 S. 522 ff. und
vor allem die vortreffliche Bibliographie im Zentralblatt
für Bibliothekswefen 1904 S. 153 fr. 209 fr. 305 fr.) gebracht
haben, fo fehlte doch jegliche Zufemmenfaffung.

Ein wirkliches Urteil über Barges Buch wird fich ja
erft nach dem Erfcheinen des II. Bandes, das der Herr
Verlaffer in nahe Ausficht Hellt, feilen laffen. Indeffen
fleht fo viel jetzt fchon feft, daß das Buch einmal viel
Neues bringt, und vor allem, daß es hinfichtlich der Beurteilung
Karlftadts jedenfalls bedeutfame Anregungen
gibt und die Forfcher auf dem Gebiet der Reformationsgefchichte
verpflichtet, ihre bisherigen Urteile über Karlftadt
zu revidieren und ev. neu zu begründen und zu ftützen.

Selbft das Neue, das nur diefer I. Band bietet — und
der II., deffen Schlußpartien ganz auf Grund archivalifchen
Materials gearbeitet worden find, und der alle bisher
ungedruckten Quellenftücke anhangsweife darbieten wird,
Hellt noch mehr in Ausficht — läßt fich nicht im Rahmen
diefer Befprechung regiftrieren. Hingewiefen fei nur auf
die forgfältige Unterfuchung der Karlftadt aus den Jahren
1521—22 zuzuweifenden Thefen, die für die Erkenntnis
feiner damaligen theologifchen Stellung von größter
Wichtigkeit find, und vor allem auf die von Barge im
Ratsarchiv in Wittenberg aufgefundene Wittenberger
Beutelordnung von 1522, in der wir nunmehr die ältefte,
durch evangelifche Grundfätze beeinflußte Armenordnung
befitzen. Barge hat in einem Exkurs (S. 498 fr.) die Ver-
fafferfchaft Karlftadts zu erhärten gefucht, und wir ftimmen
feiner Beweisführung zu; aber felbft, wenn Karlftadt nicht
der Verfaffer der Ordnung wäre, deren vollen Inhalt uns
freilich erft der II. Band in Anlage 13 erfchließen wird,
bleibt Barges Fund doch von eminenter Wichtigkeit.

Manche Punkte, die in Karlftadts Leben bisher dunkel
und unverftändlich waren, hellt die neue Biographie auf.
Ich greife die Romreife und die Befetzung der Pfarrei
Ulftat heraus, weil auf diefe gerade als auf Karlftadts
Charakter belaftende Vorgänge die Köftlin-Kaweraufche
Lutherbiographie (S. 776 zu S. 481) befonders hinweift.
Ganz gewiß bleibt auch bei Barges Darfteilung der römi-
fchen Reife (S. 49fr.) noch ein gutes Stück Eigenwilligkeit
und Halsftarrigkeit Karlftadts zurück; er hat manche
Formalitäten nicht beachtet und hat — namentlich wohl
aus Ärger über feine juriftifchen Kollegen, auf deren miß-
günftige Beurteilung Barge m. E. mit Recht hinweift —
vor allem dem Kapitel des Allerheiligenftifts nicht die
fchuldige Rückficht bewiefen, aber direkte Unehrenhaftig-
keit kann man ihm doch wohl nicht fchuld geben. Und
noch günftiger liegt m. E. für ihn die Sache bei der

Befetzung der Ulftäter Pfarrei. Hier fcheint er doch
wirklich nur die gleichen Rechte beanfprucht zu haben,
wie feine Vorgänger, denen fie zugeftanden waren, und
fein Kopf war in diefem Falle nicht härter, als der der
Kapitelherren überhaupt. Aber auch von diefen Vorfällen
ganz abgefehen bleiben auch bei Barges Darfteilung
noch genug Unliebenswürdigkeiten Karlftadts übrig (vgl.
bef. S. 57ff), und niemand wird dem Herrn Verfaffer
deshalb den Vorwurf machen können, daß er eine Ehrenrettung
Karlftadts beabfichtigt habe.

Trotzdem wird man, je weiter man in der Lektüre
fortfehreitet, den Eindruck nicht ganz los, daß das Buch
doch etwas zu einer folchen geworden ift. Es kommt
ja zu leicht, daß richtige Momente, die bisher von anderen
nicht genug beachtet oder gar überfehen worden
waren, von ihrem Entdecker nun zu einfeitig hervorgekehrt
und übertrieben werden. Und etwas Derartiges
fcheint mir doch auch in Barges Buch zutage zu treten.
Es ift m. E. zuzugeben, daß hinfichtlich der Wittenberger
Ereigniffe in den Jahren 1521—22 das letzte Wort noch
nicht gefprochen ift. Ganz gewiß fordern fie zu immer
neuer Betrachtung und Würdigung auf. Es ift vielleicht
auch zuzugeftehen, daß fie bisher — wenigftens feitens
der lutherifchen Gefchichtsforfcher — durchweg zu fehr
unter einfeitiger Parteinahme für Luther dargeftellt worden
find. Aber bei Barge fcheinen fie mir nun zu fehr
zu einer Verherrlichung Karlftadts zu werden.

So weit ich fehe, ift es freilich auch hier gar nicht
zuerft das Intereffe an diefem, das die Bargefche Auf-
faffung diktiert. Es ift vielmehr der Gedanke, daß das
demokratifche Element in der Wittenberger Reformation
zu wenig zu feinem Rechte gekommen und geradezu
unterdrückt worden fei. Barge folgert, nachdem Karlftadt
auf den Herzfchlag des Volkes aufmerkfam geworden
und gemerkt habe, welche religiöfen Kräfte hier fich
regten, da fei er aus feiner Referve herausgetreten und
1 habe fich nun entfehloffen zum Führer der Bewegung
, gemacht, auch hierbei vor allem den Intentionen folgend,
die die Volksftimmung ihm andeutete. Luther dagegen
fei nachher vor. allem als Organ und Herold der Regierungsgewalt
aufgetreten und habe unter dem Deckmantel
der fchonfamen chriftlichen Liebe — Barge gebraucht
diefe Ausdrücke nicht, aber man kann fie in feiner Darftellung
finden — die vom Volke geforderten reforma-
torifchen Maßnahmen rückgängig gemacht.

Es fei zugegeben, daß manches in Luthers Auftreten
den Wittenberger Reformen gegenüber uns befremdet.
Auch Köftlin-Kaweraus Biographie macht ja S. 507 f. ausdrücklich
auf die Schwierigkeiten aufmerkfam, die der
hiftorifchen Beurteilung hier erwachfen. Vor allem muß
ja anerkannt werden, daß nicht fo lange nachher Luther
,faft alle die Reformen vorgenommen hat, die er 1522 als
zu frühzeitig verworfen hatte' (Barge S. 459). Aber in
dem ,faft alle' liegt auch fchon eine bedeutfame Ein-
fchränkung diefes Einwands. Hinfichtlich der kirchlichen
Kunft hat Barge (S. 371) felbft anerkannt, daß ,die religiöfe
Stimmung des Puritanismus nicht der Nährboden ift, auf
dem fie gedeihen könnte'. Damit hat er zugegeben, daß
Karlftadt und feine Scharen jedenfalls nicht die geeigneten
Leute waren, in recht evangelifcher Weife Stellung zu
nehmen zu allem, was das Mittelalter an kirchlicher
Kunft der neu zu begründenden Kirche mitbrachte. Weshalb
haben fo viele Kunftwerke, die heute uns von un-
fehätzbarem Werte wären, damals in Wittenberg daran
glauben müffen? weil Karlftadt unverftändig genug war,
dem Unverftand der Mafien nachzugeben. Und wer hat
uns das, was in Wittenberg aus jenen Tagen noch in
unfere Zeiten hinübergerettet ift, erhalten? Luthers Be-
fonnenheit und ruhig überlegende Stellungnahme in diefer
Frage. Von der Beichte fcheint Barge nicht viel zu
halten. Aber fo lange es eine evangelifche Volkskirche
gibt, muß es jedenfalls auch irgend ein Inftitut geben,
das dem heiligen Abendmahl, der höchften Feier in der