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Ausgabe:

1905 Nr. 17

Spalte:

468-471

Autor/Hrsg.:

Hausrath, Adolf

Titel/Untertitel:

Luthers Leben. 2 Bände 1905

Rezensent:

Köhler, Walther

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Theologifche Literaturzeitung 1905 Nr. 17.

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ift,jeden rabbinifchen Ausfpruch chronologifch zu fixieren,
fo richtig es ift, daß fich bei diefer Fixierung in den
allermeiften Fällen das Urteil ergibt, daß die rabbinifchen
Worte einer fpäteren Zeit angehören als die Worte Jefu:
ift mit diefer chronologifchen Fixierung wirklich überall
die Sache erledigt, wie das bei B. den Anfchein hat?
Muß man nicht z. B. aus der Art des betreffenden Gedankens
, aus den Verhältniffen, unter denen das betreffende
Wort Jefu tradiert ift, erft noch feftftellen, ob Jefus, trotzdem
die Chronologie äußerlich gegen ihn fpricht, doch
vielleicht der Abhängige ift und inwiefern er es ift? B.
fcheint mir fich allzu rafch zu beruhigen, fobald er feft-
geftellt hat, daß Jefu Worte die chronologifch früheren
find. Außerdem fetzt er einfach voraus, daß die Worte
Jefu, wie fie uns überliefert find, aus der Zeit vor 70 p.
Chr. flammen, was doch auch erft von Fall zu Fall zu
unterfuchen wäre. Nach B.s Methode läßt fich z. B. ficher-
lich nachweifen, daß Jefus der fchlechthin originale Erfinder
des Schimpfwortes ,Racha' d. h. NJ?11"] ift. B. fagt
(S. 35)'- ,Gerade diefem Ausdruck begegnen wir häufig
genug im Munde der Rabbinen und der Juden überhaupt
als Schimpfwort, wie außer den von Lightfoot (p. 264h)
angeführten Stellen ausMidrafch und Thalmud auch noch
viele andere beweifen'. Ich bin feft überzeugt, daß fich
keine einzige vorchriftliche Stelle für XfJ-n findet, daß
chronologifch auch hier die Rabbinen im Nachteil find.
Warum gibt B. hier trotzdem fichtlich Jefu Originalität
preis? Weil die chronologifche Fixierung hier nicht genügt
zur Feftftellung der Originalität, fondern außerdem
die Art des betreffenden Falles zu berückfichtigen ift.
B. unterläßt es leider, diefe Seite der Sache auch hervorzuheben
.

Nicht minder einfeitig ift es, wenn B. da, wo deutlich
eine Vertiefung, originelle Faffung und Umprägung eines
Begriffes durch Jefus vorliegt, es unterläßt feftzuftellen,
daß Jefus nicht fchlechthin erfindet, fondern etwas Vorhandenes
umprägt. B. gibt zu, daß trotz der im allgemeinen
nachchriftlichen Fixierung der Targume diefe
denfelben Begriff vom ,Reiche Gottes' haben wie Johannes
der Täufer, d. h. den jüdifch-nationalen Begriff einer Herrfchaft
Gottes. Wie Johannes der Täufer an diefem Begriff
kleine Abweichungen anbrachte, fo hat Jefus die eine
große Veränderung damit vorgenommen, daß er jedes
partikulare und politifche Element daraus tilgte und den
Begriff auf das Religiöfe, Ethifche, nicht fpezififch Jüdifche
konzentrierte. Das ift richtig, nur hätte B. hier hervorheben
follen: 1) daß Jefus nicht der erfte war, der überhaupt
von einem Reiche Gottes redete, fondern ,Reich
Gottes' ein von Johannes bereits als bekannt vorausgefetztes
Stück nationaler Hoffnungen war, 2) daß ficher-
lich trotz des vorwiegend efchatologifchen Charakters
diefes Begriffes bei Johannes und im Volksbewußtfein
ficherlich auch ethifche und rein religiöfe Forderungen
mit dem Begriff bereits verbunden waren, 3) daß der
efchatologifche Charakter des Gottesreichsbegriffes auch
bei Jefus nicht völlig getilgt ift, oder ift etwa das ,Reich
Gottes' Matth. 13 24fr. im Gleichnis vom .Unkraut unter
dem Weizen' lediglich /Heilsgut'? Alles dies foll der
Originalität Jefu keinen Abbruch tun, beweift aber zugleich
— und das hätte B. viel fchärfer hervorheben
müffen —, daß Jefu Verhältnis zu feiner Zeit nicht er-
fchöpft ift mit den Bezeichnungen: Originalität, Unabhängigkeit
, fondern daß die Medaille auch eine nicht zu
ignorierende Kehrfeite hat. — Auch dies fei hier im allgemeinen
noch beigefügt: es wäre fehr erfreulich, wenn
fich infolge der genauen Erörterungen B.s gerade für die
Bergpredigt das Bewußtfein immer mehr durchfetzte, daß
man ohne rabbinifche Kenntniffe die Bergpredigt nicht
richtig kommentieren kann.

An Einzelheiten fei nur folgendes erwähnt: B. fagt
S. 75: Jefus ift, foviel ich fehe, der erfte, der den Ausdruck
,unfer Vater im Himmel' als Anrede für Gott anwendet
. Wie daher Dalman (S. 156) fagen kann, Jefus

habe Mt. 6 n den Jüngern ,das übliche jüdifche ,Unfer Vater
im Himmel" vorgefchrieben', weiß ich nicht'. Tatfache ift
nun, daß im Alten Teftament zwar Gott als Vater
bezeichnet wird, auch Tob. 134 ,unfer Vater' in der Anrede
an Gott vorkommt, aber ,unfer Vater im Himmel'
erft von ca. IOO p. Chr. an in den Ausfprüchen der
Rabbinen wiederholt begegnet, und zwar nicht in der
Anrede an Gott. Wenn B. zu behaupten fcheint, daß es
eine befonders originale Tat Jefu fei, diefe Bezeichnung
Gottes gerade in der Anrede zu gebrauchen, fo ift das
fichtlich zu weit gegangen; denn es ift doch der Natur
der Sache nach fehr wohl denkbar, daß diefelben Juden,
die außerhalb des Gebetes diefe Bezeichr ung brauchen,
fie auch im Gebet als Anrede gebraucht haben. Oder
weiß B. einen Grund, der das als unmöglich oder unwahr-
fcheinlich erweift? Es muß alfo als wahrfcheinlich angenommen
werden, daß es von ca. IOO p. Chr. an jüdifche
Gebete gegeben hat, welche mit der Anrede ,unfer Vater
in dem Himmel' begannen. Es würde fich nun weiter
fragen, ob fich ein Grund dafür geltend machen läßt,
daß diefe Bezeichnung etwa durch Jefus erft oder feit der
Zeit Jefu oder etwa erft feit 70 p. Chr. in Umlauf gekommen
ift. Da ift nun zu fagen: Jefus gebraucht diefen
Ausdruck durchaus nicht fo häufig, daß man zu der
Behauptung berechtigt wäre, er habe diefen Sprachgebrauch
erft eingebürgert. Daß der ,Vater im Himmel'
eine befondere Rolle gefpielt hat, als das Heiligtum auf
Erden zerftört war, alfo 70 p. Chr., ift durch Sotah IX,
15 (cfr. Bifchoff /. c. S. 74) erwiefen und liegt in der
Natur der Sache. Aber damit ift noch nicht gefagt, daß
damals gerade diefe Bezeichnung aufgekommen fein muß.
Sie tritt vielmehr als bekannt auf. Daß der Ausdruck
um IOO p. Chr. fo häufig ift, weift darauf hin, daß er
bereits längere Zeit vorhanden war. Ich fehe alfo keinen
Grund, Dalman hier nicht recht zu geben und die me-
chanifche Art des Argumentierens bei B., der lediglich
von der Chronologie ausgeht, zu akzeptieren.

Gotha. Fiebig.

Hausrath, Adolf, Luthers Leben. 2 Bände. Berlin, G.
Grote 1904. (XV, 573 u. 503 S.) Lex. 8°

M. 16—; geb. M. 20 —

Seit einem Jahrzehnt etwa verrieten kleine und
größere Studien, zumeift in den Neuen Heidelberger
Jahrbüchern veröffentlicht, daß Adolf Hausrath an einer
Lutherbiographie arbeite. Nun liegt nach der forgfältigen
Vorbereitung das Werk abgefchloffen vor. Wieder ein
neuer Luther! Neben den Werken von Köftlin-Kawerau,
Kolde, Rade, Lenz, Fauth und Berger! ,Ein Unglück ift
es ja auch nicht, wenn immer wieder etliche Menfchen
veranlaßt werden, fich mit diefem großen Leben zu be-
fchäftigen. Auch entfpringt diefer Überfluß im Grunde
Luthers eigenem Reichtum. Jedes Lutherwort fpielt in
hundert Lichtern, und jedem Auge blitzt ein anderes
Licht entgegen, das man gern fefthalten möchte. Auch
feine Perfon gibt uns hundert Rätfei auf. Unter allen
großen Männern ift Luther der paradoxefte' — diefe
Eingangsworte der meifterhaften Vorrede find geeignet
, alle Fragen nach dem Bedürfnis einer neuen
Lutherbiographie niederzufchlagen. Denn Hausrath hat
es verftanden, fie wahr zu machen: der alte, wohlbekannte
Luther tritt hier doch neu vor uns, eine Originalleiftung,
entworfen unter beftimmtem Sehwinkel, wird geboten.
Rein formell betrachtet ift die Hausrathfche Biographie
die glänzendfte Lutherbiographie, die wir befitzen. Die
Lektüre ift ein Genuß, alle die reichen Mittel der Dar-
ftellung, über die H. verfügt, leichte und doch ftets geift-
volle Diktion, Witz, Satire, feine Ironie, gefchickte Ein-
flechtung von Zitaten find angewandt, künftlerifch find
die Charaktere, Freund wie Feind Luthers, herausgearbeitet
, manche Kapitel lefen fich wie kleine Kabinet-
ftückchen. Daß nicht alles in gleichem Maße geglückt