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Ausgabe:

1905 Nr. 1

Spalte:

24-28

Autor/Hrsg.:

Kronenberg, M.

Titel/Untertitel:

Kant. Sein Leben und seine Lehre. Zweite neubearbeitete und erweiterte Auflage 1905

Rezensent:

Elsenhans, Theodor

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Theologifche Literaturzeitung 1905 Nr. 1.

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Wendungen in philofophifcher Beweisführung und ftetiger
Auseinanderfetzung mit der neueren und neueften Literatur
als zu Recht beftehend zu erweifen, nämlich 1. die
objektive Realität einer geiftigen Welt, 2. die menfchliche
Willensfreiheit.

Was das Erlte betrifft, fo ift die Selbftändigkeit
menfchlichen Geifteslebens beftritten worden einerfeits
von der an Verbreitung immer mehr zunehmenden em-
piriokritifchen Philofophie von Avenarius, Willy u. a., j
welche jede Unterfcheidung einer Innenwelt von der !
Außenwelt ablehnt. Nur durch künftliche fog. ,Introjek- |
tion' fei die uns erfahrungsgemäß gegebene einheitliche
Welt in eine doppelte zerfpalten. Die Innenwelt fei eine
phantaftifche Verdoppelung der uns umgebenden Welt.
Anderfeits will die phyfiologifche Pfychologie eines
Ziehen u. a., die jedoch in Wahrheit Phyfiologie, nicht
Pfychologie ift, alles Geiftige aus körperlichen Vorgängen
ableiten d. h. erklären. Muskelfpannungen, Nervenvorgänge
, Organgefühle follen den Erklärungsgrund für
Willensbewegungen, Empfindungen und Gefühle abgeben.
Mit Recht fagt G.: das Selbftbewußtfein ift eine urfprüng-
liche, nicht wegzudeutende Tatfache. Wir erleben uns |
felbft, darum können wir unfer Ich nicht als ein zufällig
entftandenes Bündel von Vorftellungen und Willenstrieben I
anfehen. Die Pfychologie muß darum auch bei aller j
Fühlung mit der Phyfiologie doch im wefentlichen auf
eignen Füßen flehen. — Für unrichtig halte ich es, wenn
G. S. 59 das Wertgefühl des eignen Ich ein auf einem
Werturteil beruhendes Gefühl nennt. Vielmehr beruht j
umgekehrt jedes Werturteil auf einem Wertgefühl.

Wie verträgt fich nun die menfchliche Willensfrei- j
heit mit dem durchgängigen Kaufalzufammenhange der
Welt? Wie verträgt es fich ferner mit dem Gefetz
der Erhaltung der Kraft, daß im menfchlichen Geiftes-
leben, befonders im fittlichen Leben etwas völlig Neues
der Natur gegenüber auftritt? Faßt man das Poftulat j
einer durchgängigen Naturkaufalität als oberftes Welt-
gefetz auf, fo wird unfer Ich ein unfelbftändiger Durchgangspunkt
für Kraftwirkungen des Univerfums. Herr- j
mann, der für das Welterkennen von der ausnahmslofen j
Naturkaufalität überzeugt ift, meint angefichts der Tatfache
der fittlichen Freiheit auf eine einheitliche Welt-
anfchauung verzichten zu müffen. Er bleibt bei einem
unlösbaren Dualismus zwifchen der Natur und dem fittlichen
Geiftesleben flehen. Andere Verteidiger der Willensfreiheit
wie vor allem Dunkmann wollen im Gegenteil '
der empiriokritifchen Philofophie folgend die objektive
Giltigkeit des Kaufalgefetzes wie des Gefetzes von der
Erhaltung der Kraft beftreiten. Dies feien lediglich fub-
jektive Gedankengebilde, durch die wir uns die Welt
begreiflich zu machen fliehen. G. fchlägt mit Recht
einen anderen Weg ein. Ihm fleht die objektive Giltigkeit
des Kaufalgefetzes feft, ebenfo aber beweifl ihm fchon
die Tatfache unferes Freiheitsgefühles, noch mehr aber
die nicht wegzuleugnenden fittlichen Tatfachen der Reue,
des Schuld- und Verantwortlichkeitsgefühls den Beftand
der Wahlfreiheit. Wie verträgt fich beides? Unberechtigt
ift die bei Laplace, Dubois-Reymond, Liebmann fich
findende Theorie, ein uns überlegener Weltgeifl vermöchte
das ganze Weltgefchehen in einer einzigen mathe-
matifchen Weltformel vollkommen klar und eindeutig auszudrücken
. Dies ift ebenfo falfch wie die theologifche
Theorie, welche Gottes Allwiffenheit die Möglichkeit zu-
fchreibt, das Weltgefchehen bis ins Detail vorherzufehen.
Damit wäre freilich Freiheit des Menfchen und Selbftändigkeit
des Geifteslebens unmöglich. Treffend fagt G., man
müffe eine andersartige Kaufalität auf dem Gebiet des
Willens wie auf dem der unorganifchen Natur annehmen.
(Haben doch manche Naturwiffenfchaftler das Poftulat
einer durchgängigen Kaufalität gleichgefetzt der unberechtigten
Forderung, daß alles in der Welt mechanifch
zu erklären fei.) Fraglich erfcheint mir dagegen die j
Richtigkeit folgender Ausführungen G.s zu fein. Um I

dem ftrikten Determinismus zu entgehen, unterfcheidet
er zureichende, aber nicht zwingende Gründe von den
notwendigen. Ferner (teilt er das Zufällige in konträren
Gegenfatz zu dem Notwendigen. Es gebe in der Natur
kleine Abweichungen von der naturgefetzlichen Regelmäßigkeit
. Dies beweife, daß nicht alle Erfcheinungen
bis ins Einzelne determiniert feien. Noch fraglicher erfcheint
mir die Beweisführung: Weil das Gefetz der Erhaltung
der Kraft fich innerhalb unferes Sonnenfyftems
nur als annähernd richtig beweifen läßt, bleibe die Möglichkeit
beliehen, daß der im Univerfum vorhandene
Kraftfonds nicht konftant bleibe, fondern fich beftändig
mehre. In Wahrheit unterliegt das felbftbewußte Geiftesleben
gar nicht dem Gefetz der Erhaltung der Energie.
Im ganzen ift jedoch die Tendenz des G.fchen Buches
völlig richtig, unberechtigte Ausdehnung von Gefetzen,
die an der unorganifchen und organifchen Natur nach-
gewiefen find, auf das Gebiet des Geifteslebens abzuwehren.
Zwar beherrfchen diefe Gefetze auch den menfchlichen
Organismus, aber im höheren Geiftesleben, fowohl im
klaren Denken wie befonders im fittlichen Leben treten
abfolut neue Anfänge der Natur gegenüber auf. Wie
beides mit einander zu vereinigen ift, Naturkaufalität und
felbftbewußtes Geiftesleben wird auch fernerhin die
Philofophie unterer Tage zu immer erneuten moniftifchen
Syftemverfuchen treiben. — Nicht vorbildlich ift G.s
Zitationsweife. Die zahlreichen von ihm angeführten
Bücher werden niemals mit Angabe der Seiten zitiert,
felbft da nicht, wo wörtliche Zitate gegeben werden.

Görlitz. Johannes Wendland.

Kronenberg, Dr. M., Kant. Sein Leben und feine Lehre.
Zweite neubearbeitete und erweiterte Auflage. Mit
einem Porträt Kants. München, C. H. Beck 1904. (X,
403 S.) gr. 8" M. 4—; geb. M. 4.80

Sitnmel, Georg, Kant. Sechzehn Vorlefungen, gehalten
an der Berliner Univerfität. Leipzig, Duncker & Hum-
blot 1904. (VI, 181 S.) gr. 8" M. 3 —

Das Buch Kronenbergs hat fich zur Aufgabe gefetzt,
,einerfeits überhaupt zum gefchichtlichen Verftändnis der
Kantifchen Epoche und Lehre beizutragen, anderfeits
namentlich dem weiteren Kreife der Gebildeten Teilnahme
und Verftändnis für die Perfönlichkeit und Ideenwelt
Kants zu vermitteln'. Die jetzt vorliegende zweite
Auflage bildet eine wefentliche Um- und Neugeftaltung
der erden. Das Kantifche Syftem ift nun nicht mehr bloß
in feinen Hauptgliedern, fondern vollftändig, bis in feine
entfernteren Nebenglieder hinein, zur Darfteilung gekommen
. Das ganze fiebente Kapitel, welches die Anthropologie
, Rechtsphilofophie, Tugendlehre und Philofophie
der Gefchichte enthält, fowie die Darfteilung der Teleo-
logie im neunten Kapitel find neu hinzugekommen. Auch
die übrigen Abfchnitte, befonders derjenige über Erkenntnislehre
und der biographifche Teil, haben mehrfache
Veränderungen und Ergänzungen erfahren. Im ganzen
erfüllt das Buch feinen Zweck in anfprechender Weife.
Der Verf. befitzt ein nicht gewöhnliches Gefchick, auch
fchwierigere Fragen gemeinverftändlich darzuftellen.
Aber auch in diefer neuen Geftalt der zweiten Auflage
wird man ihm die einheitliche kongeniale Durchdringung
der ganzen Kantifchen Ideenwelt' kaum zubilligen können,
die er für fein Werk (S. IV) in Anfpruch zu nehmen
geneigt ift. Gewiffe Zentralpunkte der Kantifchen Gedankenwelt
find dazu doch zu wenig tief erfaßt. Zwar
ift die tranfzendentale Deduktion, die in der erften Auflage
noch fehlte, jetzt eingefügt, aber in einer Form,
welche den Kern nicht recht zur Geltung kommen läßt.
Es ift zwar davon die Rede, daß ,die Mannigfaltigkeit
der Eindrücke gefaßt wird von der Einheit des Bewußt-
feins' (S. 208), aber die Bedeutung des ,urfprünglichen
reinen Selbftbewußtfeins', das die Erkenntnis eines Gegen-