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Ausgabe:

1905 Nr. 1

Spalte:

19-22

Autor/Hrsg.:

Otto, Rudolf

Titel/Untertitel:

Naturalistische und religiöse Weltanschauung 1905

Rezensent:

Reischle, Max

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Theologifche Literaturzeitung 1905 Nr. 1.

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Dez. Generalfuperintendent der Kurmark, im Jan. 80
überhofprediger, 84 Mitglied des Staatsrats. Gleichzeitig
aber war er nicht nur Mitglied der Provinzial- und
Generalfynode, fondern der anerkannte Führer einer der
einflußreichften Parteigruppen. Er vereinigt alfo in fich
tatfächlich alle Bedingungen, unter denen man in der
evangelifchen Kirche überhaupt Einfluß gewinnen kann,
in Seelforge und Predigt, Unterweifung der Jugend und
der Kandidaten, Kirchenregiment und Synode. Und
überall kommt ihm dabei ein weitgehendes Vertrauen

diefe fromme Weltanficht muß jedenfalls irgendwie mit
dem anders erwachfenen Weltverftändnis, befonders mit
der wiffenfchaftlichen Welterkenntnis in Beziehung gefetzt
werden. Das foll nicht gefchehen mit dem Zweck,
die fromme Weltanficht zu erweifen; fondern es foll nur
ihr Recht und ihre Freiheit, ihr befonderer Charakter, ja
auch ihre Paradoxie gegenüber der Wiffenfchaft ins Licht
gefetzt werden. Völlig unabhängig von der frommen
Weltanficht ftellt nun der Naturalismus fein Weltbild auf,
vor allem der ftreng methodifche Naturalismus, der alles

entgegen. Wie dies auf Seiten des alten Kaifers in Gefchehene mathematifch-mechanifch zu begreifen ver-

immer zunehmendem Maße der Fall ift, zeigen die zahl
reichen kurzen Handfehreiben desfelben, die der Dar-
ftellung einverleibt find. Wenn auch nur ein Teil der-
felben fich nach S. 13 Anm. zurzeit zur Veröffentlichung
geeignet erwies, fo läßt doch diefer fchon erkennen, wie
Kögel die Macht, die ihm eingeräumt wurde, auch auszunutzen
wußte. Er ift vom Kaifer ausdrücklich beauftragt
worden, ,von den wichtigften Erfahrungen in kirchlicher
Beziehung, die er zu machen imftande wäre, fogleich
ihm Anzeige' zu erftatten (S. 91). Das ift denn auch

fucht. Mit ihm vor allem ift eine Auseinanderfetzung
notwendig.— Zuerft muß ein drittes Kapitel in grund-
fätzlicher Auseinanderfetzung dartun, daß, ,felbft
wenn' die mathematifch-mechanifche Erklärung aller
Dinge und Vorgänge in ihrem Kreife gelänge, doch das
wefentliche Intereffe der Frömmigkeit, nämlich das Inter-
effe an einem in der Welt herrfchenden Zweck, an der
Abhängigkeit und Bedingtheit ihres Seins und Gefchehens
und an der geheimnisvollen Tiefe, aus der fie hervorquillt
, nicht gefchädigt werden müßte. In fieben Sätzen

in fo erfolgreicher Weife gefchehen, daß Herrmann allen j wird dies entwickelt: auch die unter Gefetze gebrachte
Grund hatte fich über eine unverantwortliche Neben- j Welt müßte in ihren letzten Elementen, ebenfo in ihrer
regierung zu beklagen. Vgl. die Befchwerdefchrift des j Entwicklung und ihren Neuanfängen doch geheimnis-
Oberkirchenrats und die Rechtfertigung der Domgeift- I voll bleiben (Satz 1); auch fie ftellte fich als bedingt und
lichkeit S. 83 fr. Das Urteil über diefe Beeinfluffung des j zufällig dar, und ließe fich dem Gottesglauben einfügen
Kaifers wird aber dadurch noch erfchwert, daß fie von j (Satz 2 u. 3); Gefühl und Ahnung würden doch auch in
dem ausgefprochenen Parteiführer ausgeht, alfo die j der gefetzmäßig verftandenen Welt nur die Erfcheinung
Regierung direkt in den Dienft einer Partei innerhalb der j fehen, die erft auf ein wahres Wefen der Dinge hinweift
Kirche gezogen wird. Leider find die Mitteilungen über i (Satz 4 u. 5); die urfächliche Erklärung würde endlich über
die Entftehung der Gruppe der pofitiven Union überaus j die Frage nach dem Zweck der Welt in keiner Weife
dürftig (S. 49fi), fo daß man keinen Einblick in die entfeheiden, fondern fich dem theologifchen Verftändnis
vorausgehenden Verhandlungen gewinnt, eine nennens- i der Welt durchaus einfügen (Satz 6 u. 7). — Obwohl im
werte Ergänzung oder Berichtigung der Darftellung J Grunde fchon mit diefen allgemeinen Erwägungen Recht
Beyfchlags (Aus m. Leben 2, 433 ff.) fich ihnen nicht j und Freiheit der frommen Weltanficht erhärtet ift, läßt
entnehmen läßt. Kögel hat ,das Auftreten jener Gruppe ' fich der Verf. nun doch noch auf eine Einzelaus-
als gefonderter Fraktion durchgefetzt'. Er aber handelte I einanderfetzung mit den naturwiffenfehaftlichen Theorien
zweifellos aus innerfter Überzeugung. Seine theologifche ! ein, auf die der Naturalismus vor allem fich gründet.
Bildung — vgl. die ärmlichen Ausführungen ,K. als ; Im 4. und 5. Kapitel, die zufammen über die Hälfte des
Theologe' 251—254 — machte es ihm unmöglich, fich ; Buches ausmachen, prüft er zuerft die naturwiffenfehaft-
über die Gegenfätze zu erheben, die kirchenpolitifch aus- ■ liehe Entwicklungs-, genauer Defcendenz-Lehre und ihre
getragen fein wollten. Er fah wirklich ,zwei religiöfe : Erklärung durch die natürliche Zuchtwahl, dann die
Gemeinfchaften, eine mit dem Apoftolikum und für das- 1 mechaniftifche Lebenslehre: aus den naturwiffenfehaft-
felbe, und eine ohne das Apoftolikum und wider dasfelbe' liehen Schriften der neueften Zeit gibt er ein Bild fo-
vor fich (S. 61), und allen Ernftes erwog er darum Aus- | wohl von dem neueften Stand diefer naturwiffenfehaft-
trittsgedanken aus der Landeskirche ,über Württemberg, | liehen Theorien, als von den wiffenfchaftlichen Gegen-
Lübeck in die Brüdergemeinde oder nach Amerika' (an bewegungen. Das Ergebnis ift, daß die naturaliftifche
Schultze 4. Febr. 73 S. 36, vgl. an den Kaifer S. 56, 84). | Weltanfchauung mit ihren mathematifch-mechanifchen
Soll das nicht als Spielen oder gar Drohen mit leeren j Erklärungen noch keineswegs feftfteht. — Neben diefe
Möglichkeiten gedeutet werden, fo kann es nur als Beweis ' naturwiffenfehaftliche Auseinanderfetzung muß aber im
dafür gelten, wie tief der Gegenfatz von Kögel empfunden ; 6. Kapitel eine folche auf dem Boden des Geifteslebens

treten. Im Gegenfatz gegen dieVerfuche, auch das geiftige
Leben fchließlich der Natur und ihrer Gefetzlichkeit oder
doch einer ähnlichen zu unterwerfen, muß fchon aus rein
wiffenfchaftlichen Gründen deffen Unableitbarkeit, Aktivität
und Spontaneität, fortfehreitende Selbftändigkeit
und Freiheit, die nicht etwa nur auf dem ethifchen, fondern
fchon auf dem logifchen Gebiete fich bekundet, feft-
gehalten werden; auch die Theorie vom pfychophyfifchen
Parallelismus erweift fich als wiffenfehaftlich undurchführbar
. — Daraus fließt endlich, im letzten Kapitel, eine
abfchließende Betrachtung über (Welt und Gott': es erwurde
.

Gießen. S. Eck.

Otto, Priv.-Doc. Rudolf, Naturalistische und religiöse Weltanschauung
. (Lebensfragen,herausgegeben v.H.Weinel).
Tübingen, J. C. B. Mohr 1904. (VI, 296 S.) gr. 8"

M. 3—; geb. M. 4—-

Die Schrift Ottos ift als eine der erften in der
Weinelfchen Sammlung ,Lebensfragen' erfchienen; man

kann ihr nur viele ebenbürtige Nachfolgerinnen wünfehen. [ hebt fich die Einficht in den Unterfchied der Welt von
Entfprechend dem Zweck der Sammlung ift Ottos Schrift Gott; darin liegt der Ausgangspunkt für die Verfuche, in
populär gehalten, aber doch nur in dem Sinn, daß auch frommer Spekulation den Gottesgedanken zu geftalten,
auf Leser, die in Theologie und Naturwiffenfchaft keine j zugleich aber die kritifche Erkenntnis, daß es unmöglich

Fachgelehrfamkeit befitzen, Rückficht genommen ift; aber
fie ift durchaus wiffenfehaftliche Arbeit, und es wäre bedauerlich
, wenn das wegen der Einverleibung in jene
Sammlung verkannt würde.

Die zwei erften Kapitel ftellen das Problem feft.
Aus jeder Frömmigkeit muß ftets irgend eine, ob auch
einfachfte Form von Weltanficht hervorwachfen, und

ift, in begrifflicher Klarheit das Verhältnis von Gott und
Welt zu faffen, deffen die Frömmigkeit im andächtigen
Gefühl unmittelbar gewiß ift.

Bedeutet die Schrift Ottos nicht ein entfehiedenes
Ablenken von der Bahn, die in der Apologetik der
Ritfchlfchen Schule meift verfolgt wurde? In diefer konzentrierte
fich die Auseinanderfetzung mit der Natur-