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Ausgabe:

1905 Nr. 14

Spalte:

397-401

Autor/Hrsg.:

Knopf, Rudolf

Titel/Untertitel:

Das nachapostolische Zeitalter 1905

Rezensent:

Harnack, Adolf

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Theologifche Literaturzeitung 1905 Nr. 14.

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Ordnung einft die griechifch-römifche Welt überfallen
und in Geleife von ungeahnter Neuheit hereingezogen
hat. Aber nicht, was einft gewefen, fondern was, folange
religiöfe und fittliche Mächte um die Seele des Menfchen
ringen, immer fein wird, bildet den eigentlichen Kern
deifen, was diefes Buch uns zu fagen hat und ergreift
uns fo mächtig, beifpielsweife in dem meifterhaft gezeichneten
Bilde einer lediglich als Gefetz empfundenen
und geübten Religion (S. 54b) oder in dem kurz fkizzierten
Gegenbild deffen, was allein in Wahrheit Religion heißen
kann, perfönliches, deutliches, unwiderftehliches Vernehmen
der Stimme Gottes (S. 89h, vgl. S. 115). Zum
durchaus aktuellen Charakter der Leiftung gehört als
negative Kehrfeite aufrichtigfter Bekenntnisfreudigkeit
im Ausfprechen felbftändiger Errungenfchaften und
eigcnften religiöfen Erlebniffes die durchgehende Polemik
gegen eine Schultheologie, die fich einreden möchte,
Gedankenbildungen, wie z. B. die paulinifche Sühn-
theorie, noch immer unverkürzt zu vertreten, während
es in Wahrheit nur ,fehr verfchämte und verblaßte
Umbildungen' find, die man dort vorträgt und verteidigt
(S. 242). Am originellften und anregendften aber er-
weifen fich des Verf.s Betrachtungen, wo fie — auch
hier, wie gleich von vornherein (S. 3), in Auseinander-
fetzung mit Nietzfche — dem ethifchen Lebensgebiet
gelten und in mannigfachen Wendungen zeigen, wie
die ,lühik des Konventikels', die aus den paulinifchen
Ermahnungen fpricht, zwar im Vergleich mit derjenigen
Jefu fchon erkennbarfl nach der Mittellinie des .Möglichen
' neigt, auch wohl hier und dort fchon Katho-
lifches ankündigt, gleichwohl aber noch mit dem Grund-
fatz .befiege das Böfe mit Gutem' wie ein Gericht über
die chriftliche Ethik der Gegenwart empfunden wird
(S. 259).

Straßburg i. E. H. Holtzmann.

Knopf, Privatdoz. Lic. Rudolf, Das nachapostolische Zeitalter
. Gefchichte der chriftlichen Gemeinden vom
Beginn der Flavierdynaftie bis zum Ende Hadrians
dargeftellt. Tübingen, J. C. B. Mohr 1905. (XII,

468 S.) gr. 8° M. 9—; geb. M. 11.50

Diefes Werk über das nachapoftolifche Zeitalter —
eine Gefchichte und ein Lehrbuch zugleich — verdient
hohes Lob. Als eine Fortfetzung des Weizfäcker-
fchen Apoftolifchen Zeitalters durfte und wollte der Ver-
faffer es nicht bezeichnen; aber er knüpft dort an, wo
Weizfäcker den Faden fallen gelaffen hat, und hat fich
in vielen Stücken deffen Darftellung zum Mufter genommen
. Überall find die Vorunterfuchungen und faft
überall die Auseinanderfetzungen mit anderen Meinungen
unterdrückt; nur in bezug auf einige Hauptkontroverfen
wird das Für und Wider vor dem Lefer erwogen. Der
Verfaffer breitet den Stoff aus, erzählt und urteilt als fei
er der erfte Erzähler, aber der Kenner bemerkt auf jedem
Blatte, daß die Darfteilung nicht nur auf einer gründlichen
Kenntnis der Quellen, fondem auch auf einer fehr
gewiffenhaften Durcharbeitung der gefamten Literatur
ruht. Die Gabe gefunden Urteils und einer ficheren und
klaren Formgebung ift dem Verfaffer in ungewöhnlichem
Maße eigen: keine Unruhe und Unficherheit, keine blendende
Hypothefe und keine Exzentrizität ftört den ruhigen
Gang der Erzählung. Vom erften bis zum letzten Blatt
herrfcht dasfelbe Gleichmaß, derfelbeTon und die gleiche
vertrauenerweckende Umficht.

Daß der Verfaffer fo zu fchreiben vermochte, verdankt
er nicht nur feinem Temperament und feinen
Kenntniffen, fondern ebenfofehr der Arbeit feiner Vorgänger
in den letzten Jahrzehnten. Man braucht nur
Schweglers Nachapoftolifches Zeitalter oder auch Rena
ns ,Origincs' neben diefes Werk zu halten, um zu erkennen
, wie Vieles im Großen und im Kleinen im ver-

I floffenen Menfchenalter in bezug auf die Gefchichte des
I Chriftentums zwifchen den JJ. 70 und 140 geklärt worden
j ift. Der Zeitpunkt war nun wirklich gekommen, wo
! man zufammenfaffen durfte; denn an die Stelle zahllofer
Probl eme und widerftreitender Meinungen ift ein Einvernehmen
getreten oder doch die deutliche Einficht,
daß man ohne neues Quellenmaterial überhaupt nicht
weiter kommen könne.

Die Stärke des Verfaffers als Hiftoriker ift freilich
auch feine Schwäche. Das Ringen und Werden, welches
diefen Abfchnitt der Gefchichte der Kirche in befonderem
Maße charakterifiert, tritt nicht lebendig genug hervor;
die Farben erfcheinen oft blaffer als fie waren; die
Schwierigkeiten und der Reiz der Forfchung erwecken
den Lefer zu wenig, und der perfönliche Anteil, ohne
den man kein Stück Gefchichte zurückrufen kann, verbirgt
fich zu fehr. In einigen Abfchnitten fcheint mir
auch eine allzu große Ausführlichkeit den Eindruck zu
gefährden. Indeffen — ein Jeder hat feine Weife, und
wo fo hohe Tugenden des Gefchichtsfchreibers aufgeboten
find wie in diefer Darfteilung, fühlt man fich für
das Fehlende reichlich entfchädigt.

Was das Materielle der Gefchichtserzählung betrifft,
fo bin ich vielleicht am wenigften als Kritiker berufen;
denn ich wüßte nicht, wie — abgefehen von einigen,
gleich zu nennenden Vorbehalten — eine Gefchichte hier
gefchrieben werden könnte, der ich im einzelnen wie im
ganzen mehr zuzuftimmen vermöchte als diefer. Da der
Verfaffer mit voller Selbftändigkeit gearbeitet bat, fo ift
diefe Übereinftimmung vielleicht an fich fchon ein Beweis
, daß diefe Wegftrecke der Gefchichte nun fo hell
: geworden ift, wie die fpärlichen Quellen es zurzeit ge-
ftatten.

Der Darftellung des Chriftentums auf dem Boden
des jüdifchen Volkstums (S. 1—30) folgt die Darftellung
der Heidenkirche in acht Abfchnitten (die Quellen nach
Zeit und Ort ihrer Entftehung — die Ausbreitung —
Staat, Gefellfchaft und die Chriften — die Gemeindever-
verfaffung — die Verfammlungen — die Gnofis — die
Theologie — die Frömmigkeit). Die Grenze bis zum
Jahre 140 ift richtig gewählt, und der Stoff in den acht
Kapiteln nahezu erfchöpft. Bei einer neuen Auflage
wird der Verf. die Frage noch einmal zu erwägen haben,
I ob er die Anfänge der bafilidianifchen und valentini-
1 anifchen Schule nicht doch in feine Darftellung aufnehmen
folle. Die gewählte Zeitgrenze erlaubt es gerade noch,
und ohne jene Schulen erfcheint das, was über die Gnofis
gefagt werden kann, zu dürftig. Daß der Verfaffer von
den apokryphen Johannes- und anderen Apoftel-Akten
fowie von den Pfeudoklementinen als Quellen für das
nachapoftolifche Zeitalter ganz abgefehen hat, ift nur zu
1 loben; aber einige Rückfchlüffe aus den Acta Pauli hat
1 er fich m. E. entgehen laffen. Empfindlich ift es, daß
J der Verf. nicht in einem befonderen Abfchnitt den Fort-
; fchritt in der Bildungsgefchichte der kirchlichen Tradition
j und Gefchichtsbetrachtung (offizielle Legendenbildung)
zufammengefaßt hat. Zwar findet fich das Wefentliche
i hierüber in dem Werke (f. befonders S. 361—369, 375fr.

393 ff-)» ahein die Sache verdient eine Darlegung ex
pro/esse und kommt nur fo zu ihrem Rechte. Auch
der Abfchnitt über die Quellen nach Zeit und Ort
ihrer Entftehung ift zu abftrakt gehalten und läßt
literargefchichtliche Gefichtspunkte zu fehr vermiffen.
Ich vermiffe ferner befondere Unterfuchungen über
die Presbyter in Kleinafien, über die Johannesjünger in
ihrem Verhältnis zu den Chriften (Andeutungen fehlen
■ nicht) und über die Namen der Chriften. Weiter hätte
j das perfönliche Element, wo es möglich war, ftärker zu
feinem Rechte kommen können. Johannes', Ignatius,
Polykarp und Hermas können in Hinficht auf ihre Per-
fönlichkeiten und ihre Eigenart fchärfer erfaßt werden,
als der Verf. getan hat, der fich mit wenigen und dazu
! noch verftreuten Strichen begnügt. Stillfchweigend ift