Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1905 Nr. 13

Spalte:

383-385

Autor/Hrsg.:

Reuß, Eduard

Titel/Untertitel:

Reuß‘ Briefwechsel mit seinem Schüler und Freunde Karl Heinrich Graf 1905

Rezensent:

Nowack, Wilhelm

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

3«3

Theologifche Literaturzeitung 1905 Nr. 13.

384

Ordnung und mit Regiftern von großer Reichhaltigkeit
und Vielfeitigkeit vorgelegt wird. Möchte die Ausgabe
im felben Tempo wie bisher fortfchreiten!

Tübingen. Karl Müller.

Reuß'. Eduard, Briefwechsel mit seinem Schüler und Freunde
Karl Heinrich Graf. Zur Hundertjahrfeier feiner Geburt
herausgegeben von K. Budde und H. J. Holtz-
mann. Mit dem Bildnis der Brieffteller. Gießen
J. Ricker 1904. (IX, 661 S.) gr. 8°

M. 12.—; geb. M. 14.50

Am 18. Juli des letzen Jahres waren 100 Jahre ver-
floffen, feitdem Eduard Reuß in Straßburg geboren
wurde. Noch leben im Elfaß wie im Altdeutfchland
und Frankreich nicht wenig Schüler, die einfl mit Be-
geifterung unter feinem Katheder gefeffen und von ihm
entfcheidende Einflüffe empfangen haben. Kein Wunder
daher, daß im Elfaß wie in Frankreich manch beachtenswerte
Erinnerung an den einfl gefeierten Lehrer veröffentlicht
ift, bleibende Bedeutung wird freilich nur eine
behalten, das ift der Briefwechfel zwifchen Reuß und
feinem vielgeliebten Schüler K. H. Graf, welcher 1869
als Profeffor an der Landesfchule in Meißen ftarb.
Es find nicht weniger als 191 Briefe, welche vom Beginn
des Jahres 1837 bis zum Juli 1869 reichen: der erfte
Brief der des eben flügge gewordenen und nach Genf
übergefiedelten jungen Kanditaten Graf, der letzte
der des überlebenden Lehrers an die trauernde Witwe.
Für uns haben diefe Briefe, auch ganz abgefehen von
dem Auffchluß über den Entwicklungsgang und die
Eigenart diefer Männer, den fie uns mehr als irgend
eine ihrer Publikationen geben, fowohl in wiffenfchaft-
licher wie nationaler Beziehung eine nicht zu unter-
fchätzende Bedeutung.

Es war ein tragifches Gefchick, daß Ed. Reuß, der
unter den akademifchen Lehrern feit dem zweiten
Drittel des vorigen Jhdts nach Geift wie Gelehrfamkeit
eine der erften Stellen einnahm, der wie wenig andere
die Fähigkeit hatte, junge Leute zu beinfluffen und in
feinen Gedankenkreis zu ziehen, doch als Gelehrter
keine Schule gemacht hat; nur einer feiner Schüler hat
als Gelehrter eine gewiffe Bedeutung erlangt und das
war K. H. Graf, der, wie Reuß fagt, ihm ,unter Hunderten
von Schülern der liebfte und anhänglichfte geworden
und geblieben, weil er von allen ihm der geiftverwandtefte,
ja fein einziger Schüler war' vgl. S. 254. 619.

Bekanntlich ift die von Wellhaufen zur fiegreichen
Anerkennung gebrachte Anfchauung von der Entwicklung
Israels, für welche die Stellung des Gefetzes nach
der Prophetie das Charakteriftifche ift, fchon von
Ed. Reuß in feinen Thefen 1833 verteidigt und in
feinem Artikel Judentum' in Erfch u. Grubers Enzyklopädie
eingehender entwickelt. Freilich ift diefer dort
veröffentlichte oder vielmehr ,eingefargte' Artikel nur
einem verfchwindend kleinen Kreife bekannt geworden,
auch Wellhaufen ift durch ihn nicht beeinflußt, wohl
aber durch K. H. Graf, der 1866 feine Unterfuchungen
über die hiftorifchen Bücher des A. T.s veröffentlichte,
die bald darauf dem damals in Göttingen ftudierenden
W. in die Hände fielen und diefem den entfcheiden-
den Anftoß für die weitere Entwicklung gegeben haben.
Die vorliegenden Briefe zeigen uns die Genefis diefer
Unterfuchungen und belehren uns über die Beteiligung von
Reuß an ihnen: hat Graf diefe auch erft als fertiges
Buch feinem Lehrer vorgelegt, fo hebt er doch hervor,
wie die großen Grundgedanken feiner Schrift auf die
Anregungen feines Lehrers Reuß zurückgehen, was aus
den Unterfuchungen felbft nicht zu entnehmen ift.
Übrigens waren es auch nicht mehr als Anregungen:
die Briefe zeigen, wie Reuß zwar früh jene oben dargelegte
Grundanfchauung vertreten, wie aber er wie

Graf nur fehr langfam zu einem klaren Einblick in die
Entftehungsverhältniffe des Pentateuchs wie überhaupt
der hiftorifchen Bücher kamen, ja wie fie offenbar
lange Zeit ohne Kenntnis des von Ilgen bezw. Hupfeld
in feiner Schrift ,Die Quellen der Genefis' gemachten
Fortfehrittes waren: Reuß'Arbeitsgebiet war eben lange
Jahre hindurch mehr das Neue als das A. T., und Graf
klagt öfter über feine durch die Umftände verfchuldete
mangelhafte Fühlung mit der Fachliteratur.

Es ift zu bedauern, daß die Briefe nicht völlig unverkürzt
abgedruckt werden konnten — namentlich
folche Stellen find unterdrückt, in denen Urteile über
noch Lebende oder folche, deren nächfte Angehörige
noch unter uns weilen, enthalten waren. Aber auch
fo find diefe Briefe für Elfäffer wie Altdeutfche von un-
fchätzbarem Wert. Jenen, die meift nur den Nimbus
franzöfifcher Herrfchaft kennen, aber von ihren dunklen
Schattenfeiten nichts wiffen, dürften diefe Briefe manches
zu denken geben. Den Altdeutfchen, die fich in diefe
Briefe vertiefen, wird manches aus der Vergangenheit
des Elfaffes verftändlicher werden. Denn gerade das
Elfaß des 19. Jhdts kennen zu lernen, ift nicht leicht:
was auf elfäffifchem Boden damals veröffentlicht ift, hat
nur einen bedingten Wert, weil der Griffel des Zenfors
mit ftarker Unbarmherzigkeit feines Amtes wartete, und
auch ohne dies namentlich die Männer in leitenden
Stellungen es nicht wagen konnten, fich frank und frei
zu äußern. Wollte man feinem gepreßten Herzen Luft
machen, fo war das nur möglich in trauten Freundes-
kreifen oder in vertraulichen Briefen. Als folche
Stimmungsbilder wollen diefe Briefe gewertet fein, die
einft gefchrieben find, ohne daß man je an die Möglichkeit
ihrer Veröffentlichung dachte.

Graf flammte aus einer alten elfäffifchen Familie von
Mülhaufen, wo bis zur Stunde die franzöfifche Bildung
eine entfcheidende Rolle fpielt und man ganz vergehen
hat, daß das nicht immer fo war. Jedenfalls kann in
Grafs Jugendzeit der franzöfifche Einfluß nicht ein derart
dominierender gewefen fein, denn längft vor feiner
Niederlaffung in Deutfchland ift er fich über die Differenz
zwifchen dem Elfäffer, der feiner Natur nach Deutfcher
! ift, und dem Franzofen klar, und deutlich hat er die
Verderblichkeit der von vielen gepriefenen Weisheit der
doppelfprachigen Erziehung erkannt: ,Wir Elfäffer find
einmal Deutfche und werden es fein und follen es fein
und bleiben und uns nicht darein mifchen, franzöfifch zu
fchreiben. Und wenn ja einer alles lefen würde —
(es handelt fich um die Straßburger Essais theologiques)
— fo würde es ihm nicht im geringften anfprechen,
denn der Geift, der darin weht, ift dem franzöfifchen
Geift, wie er zumal ift, ganz fremd, daß er für einen
Franzofen unfaßlich ift'. Und in feinem erften Briefe aus
Deutfchland fchreibt er: ,das ganze franzöfifche Wefen
ift und bleibt mir ein fremdes, die franzöfifchen Zuftände
j haben für mich nur ein hiftorifches, kein näheres leben-
j diges Intereffe .. . .' Ja wenige Jahre fpäter findet fich
das fcharfe Wort: (Wenn nur die Elfäffer ein Gefühl
ihrer babylonifchen Gefangenfchaft hätten, allein darin
eben zeigen fie fich als echte Deutfche, daß fie fich an
Fremde wegwerfen und, des Selbftgefühls bar, fich gutmütig
ausländifcher Anmaßung beugen, ja fogar ftolz
darauf find, ihr eigenes Wefen im fremden aufgehen zu
laffen'. Graf war damals keineswegs der einzige in der
elfäffifchen Jugend, der fo dachte. In den Briefen von
Reuß find derartige Äußerungen feltener, aber fie finden
fich doch auch. So fchreibt er von der Abficht, feinen
Sohn für ein paar Jahre nach Deutfchland zu fchicken:
,Mein innigfter Wunfeh wäre, wenn er drüben ankern
könnte. Ich bin zu alt, um für mich felbft noch daran
zu denken, und in diefem Lande find die Zufiände zu
I troftlos'. Daß übrigens Graf keineswegs ein blinder
I Lobredner der Verhältniffe in Deutfchland war, dafür
I geben eine ganze Zahl von Briefen Beweife. Höchft er-