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Ausgabe: | 1905 Nr. 12 |
Spalte: | 359-360 |
Autor/Hrsg.: | Graß, Karl Konrad |
Titel/Untertitel: | Die geheime Heilige Schrift der Skopzen 1905 |
Rezensent: | Kattenbusch, Ferdinand |
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Theologifche Literaturzeitung 1905 Nr. 12.
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Eine Mufterleiftung ift die vorliegende Arbeit nicht, i
Abgefehen von den gerügten Mängeln ftören Wiederholungen
und Weitfchweifigkeiten. Trotzdem darf fie
den Wert einer brauchbaren Zufammenftellung alles
deffen beanfpruchen, was über Nikolaus zu fagen ift.
Göttingen. Walter.
Graß, Priv.-Doz. Mag. theol. Karl Konrad, Die geheime
Heilige Schrift der Skopzen (Ruffifche Selbftverftümmler).
Leidensgefchichte und Epifteln des Skopzen-Erlöfers. [
Kritifche Ausgabe auf Grund der ruffifchen Drucke.
Leipzig, J. C. Hinrichs'fche Buchhandlung 1904. (IV,
75 S.) Lex. 8° M. 1.50
Es ift in hohem Maße dankenswert, daß K. Graß
fortfährt, unfere Kenntnis der ruffifchen Kirchenverhält-
niffe durch Überfetzung von wichtigen ruffifchen Schriften
zu erweitern und zu klären. Vor zwei Jahren konnte ich
in diefer Zeitfchrift (1903, Nr. 6) feine Mitteilungen aus
der neueren dogmatifchen Literatur Rußlands zur Anzeige
bringen. Willkommener noch möchte ich die oben
bezeichnete Publikation nennen. Nicht als ob unfere
Kenntnis der Skopzen dadurch eine wefentlich andere
würde, als fie fchon war. Daß diefe Sekte die gefchlecht-
liche Verftümmelung ihrer Anhänger, befonders der
Männer, aber auch der Frauen, übt, ift ja längft bekannt,
und über ihre Motive dabei erfahren wir auch hier nichts !
befonderes weiter. Die Gefchlechtsluft wird als Inbegriff
aller böfen Luft, aller ,Unreinheit' angefehen. Sie mög-
lichft auszutilgen, gilt für die Grundforderung Gottes. 1
Aus vorliegender Schrift ift zu entnehmen, daß als
,Reinheit' doch auch die Abwendung von anderer Luft
oder ,Schwäche', von ,Verleumdung und Neid, von Ehre
und Ehrgeiz, von Stolz und Selbftliebe, von Lüge und
müßigem Gerede' gefordert wird. Auch ,Faften' ift eine
,unbedingt' notwendige Übung. Ferner foll der Skopze
(der ,Verfchnittene') niemand ,richten', am wenigften einen
,Bruder'. Offenbar find es Sprüche der Evangelien, die
den Rückhalt für die ethifchen Ideen der Sekte bilden,
und es ift nicht zu verkennen, daß die Skopzen weniger
unter die myftifchen als die asketifchen Sekten zu rechnen
find. Sie find eine Abzweigung der Chlyften, die fie offenbar
nach der ethifchen Seite überbieten wollen, deren
kultifche Spezialitäten fie auch, wie es fcheint, nicht beibehalten
haben. Mit den Chlyften, den ,Gottesmenfchen'
fetzt fich der Stifter der Skopzen, Seiiwanow, fpeziell auseinander
. Die ,Propheten' derfelben gelten ihm vielfach
für falfche Propheten. Er felbft ift jedoch gerade von
einer Chlyftenprophetin ,entdeckt', oder zuerft anerkannt
worden. Diefe Prophetin, das ,Mütterchen Akulina Iwa-
nowna' wird von ihm gefeiert als ,himmlifche Königin'.
Als fein befonderes Organ, fein ,geliebtes Söhnchen', preift
er den Alexander Iwanowitfch, anfcheinend einen Chlyften-
propheten, der durch Akulina zuerft mit für ihn eingenommen
worden. Er felbft will für den verfchollenen
Zaren Peter III gelten, der, nachdem er der irdifchen !
Krone entfagt und fich im weltlichen Sinne unkenntlich j
gemacht hat, von Gott eine neue Krone und himmlifche
Million empfangen hat. Er ift der ,wahrhafte Erlöfer',
ein neuer oder ,der' wiedererfchienene Chriftus, deffen
,Leiden' er auch erneuert. Seine Leiden find fo groß ge-
wefen, daß niemand fie fchildern und ganz faffen kann.
Aber er ,gehorchte' Gott, ,feinem Vater', und durchwanderte
ganz Rußland. Es ift die Zeit, da man endlich Gott
,ganz' angehören muß. Efchatologifche Andeutungen
durchziehen die Predigt Seiiwanows, ohne jedoch fpezia-
lifiert zu fein.
Was Graß mitteilt, find einige Briefe Seiiwanows und
ein Bericht über deffen .Leiden', letzterer in zwei (drei) I
Redaktionen, deren Verhältnis zu einander in einer Schluß-
erörterung kritifch beleuchtet wird. Man könnte die
,Leiden' (.Stradü') das Evangelium der Skopzen nennen,
die ,Sendfehreiben', befonders das .große', das mit den
Leiden zu einer zufammenhängenden Schrift geworden
ift, gewiffermaßen den , Apoftolos'. Seiiwanow (der Name
ift ein fingierter; der wirkliche Name des ,Erlöfers' ift
unbekannt) hat die .Leiden' und die Sendfehreiben nicht
felbft gefchrieben (er war des Schreibens unkundig), aber
diktiert. Es fehlt daneben nicht an einzelnen Erzählungen
, die frei kolportiert und nachträglich den .Leiden'
zugefetzt wurden. Der Stil Seiiwanows ift unverkennbar.
Graß hat durchaus recht, wenn er meint, daß man un-
fchwer erkennen könne, was in den Dokumenten, die er
ediert, ,echt' und was ,Zufatz' fei. Seiiwanow fchreibt
großenteils in Reimen, befonders in dem großen Send-
fchreiben. Graß konnte das in der Überfetzung nicht
kenntlich machen, führt es aber vor Augen durch Mitteilung
der entfprechenden ruffifchen Worte. Man kann
fich des Eindrucks nicht erwehren, daß Seiiwanow manche
Forderung nur um der Reimeffekte willen fo ftellt, wie er
fie ftellt. Wo er von den .Propheten' {sei. der Chlyften)
redet, ift feine Wendung: ,und es fang der Prophet'. Das
entfpricht bekannten Eigentümlichkeiten der Chlyften
(vgl. meine .Konfeffionskunde', I, S. 548f.). Seiiwanow
befitzt felbft offenbar keine ganz geringe poetifche Gabe.
Er trat um 1770 auf und lebte bis c. 1830; feine Sekte
(ihre Selbftbezeichnung ift die .weißen Tauben') fpielt noch
immer eine Rolle.
Das ,Sendfehreiben' beginnt mit einem Gruße an ,alle
meine geliebten, von Gott auserwählten geiftlichen Kindlein
', den Seiiwanow erläßt als .wahrhafter Gott Erlöfer'.
,Ich fende mein {sie) Göttliches Erbarmen', fährt er fort,
,und den Schutz meines Himmlifchen Vaters'. Alsbald
bezeugt er fich als .Väterchen' d. h. als Zar. Oft fpricht
er von ,feiner Reinheit' als der Rettung der Seinigen;
es fcheint doch, daß er damit nur die von ihm gepredigte
(übrigens nicht fofort auch an ihm felbft vollzogene) Verftümmelung
meint. Das Sendfehreiben ift nicht ohne
eine gewiffe geiftige Kraft. Die Erzählung der Leiden
(durch die Polizei, furchtbare Knutung, dann Deportation
nach Sibirien, Fluchten, Wiedereinfangung, allerhand
Erlebniffe unter Freunden und Gegnern feiner Predigt) ift
anfehaulich und nicht unintereffant. Beide Schriftftücke
find verfaßt zu einer Zeit, wo .Mütterchen Akulina
Iwanowna' fchon ,im Himmel' ift (fie ift dort die .Königin',
die die Anhänger Seiiwanows, welche fich das ,Siegel'
haben geben laffen, empfangen wird). Die beiden kleinen
Briefe, die Graß auf S. 44—46 mitteilt, find auch .Gemeinde-
fchreiben', wenn auch unter der Adreffe eines Einzelnen.
Überall betont Seiiwanow, wieviel er gelitten. .Wieviel
von meinem Blute ift vergoffen worden, zerftückelt find
alle meine Knochen. Aber alles dies habe ich vollführt,
um Reinheit und Jungfräulichkeit zu zeigen und das wahrhafte
Gefetz [die Verftümmelung] zu befeftigen'. Zum
Schluffe des zweiten kleinen Briefes an I. S. fchreibt er:
.Dafür . . . fende ich dir für die Ewigkeiten meinen {sie)
Schutz von nun an bis in Ewigkeit'.
Graß ift mit weiteren Quellenforfchungen bezüglich
der ruffifchen Sekten befchättigt. Wir dürfen uns freuen,
daß ein junger Theolog, der Rußland zu durchreifen, die
Sekten felbft zu befuchen, ihre Schriften, die größtenteils
noch ungedruckt lind, zu erreichen im Stande ift, fich
diefem Zweige feiner heimifchen Kirchengefchichte zugewendet
hat; er leiftet damit der Wiffenfchaft einen unzweifelhaften
Dienft.
Göttingen. F. Kattenbufch.
St(efanowitsch, Andreas Iwanowitfch), Die Maljowantzi.
(Eine ruffifche Sekte.) (Hefte zum Chriftlichen Orient,
Nr. 5.) Berlin, Deutfche Orient-Miffion 1904. (24 S.
m. 6 Illuftr.) gr. 8° M. —20
Wieder eine neue ruffifche Sekte mit einem ,Erlöfer'.
Konrad Maljowany ift vom Baptismus ausgegangen, der