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Ausgabe:

1905 Nr. 12

Spalte:

354-355

Autor/Hrsg.:

Gütschow, Else

Titel/Untertitel:

Innocenz III. und England 1905

Rezensent:

Keller, Siegmund

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Theologifche Literaturzeitung 1905 Nr. 12.

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fprach (vgl. II), ift eine Möglichkeit, aber keineswegs
die einzige; der daraus gezogene Schluß des Verf. ift
alfo unficher. In III hat der Verf. nachgewiefen, daß
im paulin. Chriftusbilde zwei disparate Seiten mit einander
vereinigt find, keineswegs aber — worauf es hier
ankommt —, daß der präexiftente Gottesfohn und Him-
melsmenfch nun das .urfprüngliche' vorchriftl. Meffiasbild
ift. Das hat der Verf. nur auf Grund von II in die betr.
Stellen hineingelefen. So ift der Unterbau des Gebäudes
recht unficher. Überhaupt fcheint es mir prekär, bei
diefer Frage von der Bekehrung auszugehen, fo verlockend
der Ausgangspunkt erfcheint: wir können über
fie doch nur fehr wenig erkennen. Es würde fich mehr
empfohlen haben, vom Abfchnitt VIII auszugehen; von
da würde man ficherer zum Ziel gelangen.

Auch fonft fchießt der Verf. hier und da über das
Ziel hinaus, indem er einerfeits allzuviel über das vorchriftl
. Meffiasbild Pauli erkennen zu können meint und
andererfeits die Bedeutung der chriftlichen Erfahrungen
und der fchöpferifchen Kraft des Apoftels für die Genefis
des Chriftusbildes unterfchätzt. Beifpielsweife: fehr ver-
dienftlich ift es, daß Br. die Bedeutung der Angelologie
und Dämonologie im religiöfen Denken des Paulus kräftig
unterftreicht. Ich felbft habe auf die Notwendigkeit,
diefen Faktor mehr zu beachten, in meinem Buch über
den Namen Jefu hingewiefen und weiterhin den Zufammen-
hamr von Dämonenglauben und tlfiaQiitvr/ in der vulgären
heidnifchen und chriftl. Anfchauung hervorgehoben.
Aber es ift eine ganz unbeweisbare Behauptung, wenn
nun Br. meint, fchon der Jude Paulus habe nicht nur
die Heiden, fondern auch die Juden unter die Herfchaft
von gottfremden Geiftesmächten geftellt und als die
Plauptaufgabe des Mefias die Befreiung der Menfchheit
von dem Druck der dväyxr/ oder elftaQfl&Tj (S. 212, die
Begriffe felbft fchreibt Br. dem Paul, natürlich nicht zu)
angefehen. Zur tliiaQfitvrj gehört als Korrelat der Fatalismus
; und fataliftifche Stimmung bei dem Juden Paulus
zu vermuten, haben wir abfolut keinen Grund. Auch
Rom 818 ff. gibt kein Recht dazu. Und wenn P. Gal. 4
den etwaigen Abfall zum Gefetz als Rückkehr unter die
Herrfchaft der ozmytla zov xöofiov charakterifiert, fo ift j
doch zu beachten, daß hier 1) ganz deutlich der Chrift j
P. redet, der das Judentum anders zu beurteilen gelernt
hat und abfichtlich auf eine niedrige Stufe drücken will
Speziell in diefem Briefe!), und daß er 2) mit dem Ausdruck
ozor/ßla zov xöofiov fich ganz offenfichtlich der
Vorftellung" der Galater als früherer Heiden akkommo-
diert. — Ferner: es ift gewiß fchon jüdifche — und alfo
eine von Paul, ererbte — Vorftellung, daß das Gefetz
durch Engel gegeben fei. Aber ganz deutlich eine
Nuancierung, die auf Rechnung des Chriften und I
Heidenmiffionars Paulus zu fetzen ift und nicht, wie der
Verf. zu meinen fcheint, fchon dem Juden P. gehört, ift
es, wenn diefes Moment als ein Motiv der Geringwertung
des Gefetzes ausgenutzt wird. Diefe kleine Beobachtung
ift typifch und hätte auch für das Thema der
Chriftologie fruktifiziert werden follen: die Elemente der
paulin. Theologie find jüdifch (bzw. helleniftifch), die
Gruppierung und Geftaltung ift vielfach durch die neuen 1
chriftl. Erfahrungen beftimmt und darf nicht ohne weiteres
in das frühere judifche Bewußtfein des P. zurückgetragen !
werden. — Daß die Idee des Himmelsmenfchen eine fo j
grundlegende Rolle fpielt, wie der Verf. annimmt, kann J
ich fchon nicht zugeben — damit tafte ich freilich an
eine fchon faft zum Dogma gewordene Meinung —;
um fo weniger fcheint mir deshalb die Anfchauung
bewiefen, daß fchon im jüdifchen Meffiasbild des Paulus
der himmlifche Menfch eine fo große Bedeutung gehabt
habe. Indes ich muß auf die Befprechung folcher Einzelheiten
, fo wichtig fie find, verzichten.

Geht Br. in diefer Weife vielfach über das Ziel
hinaus, fo ift er andererfeits an einigen Punkten hinter
dem zurückgeblieben, was der Titel des Buches verfpricht.

1) Weshalb fcheidet Br. die Periode von der Erhöhung
bis zur Parufie aus? Gerade diefe Periode fleht für P.
doch im Zentrum, und über die Entftehung der gerade
hier in Betracht kommenden chnftologifchen Vorftellungen
wäre vieles zu fagen gewefen. 2) Man wird es kaum
billigen können, daß der Verf. faft nur die jüdifche
Meffianologie zur Erklärung herangezogen, aber den
Marken helleniftifchen Einfchlag nicht berückfichtigt hat.
Endlich 3) — und das ift ein fehr erhebliches Bedenken
—: von fundamentaler Bedeutung für die paulin. Chriftologie
ift die Verbindung mit der Pneumatologie. Das
verleiht ihr das fpezififche Gepräge. Der Verf. hat diefe
Seite nicht weiter berückfichtigt. Gerade hier würde fich
gezeigt haben, daß die Bekehrung und die mit ihr verbundene
religiöfe Umwälzung für die Genefis der paulin.
Chriftologie weit bedeutungsvoller und der Chrift Paulus
in der Ausgeftaltung feiner Chriftusanfchauung weit
fchöpferifcher gewefen ift, als es nach dem Verf. Rheinen
könnte. Diefe Verbindung der Pneumavorftellung mit
der Melfiasvorftellung beruht a) auf der Bekehrung und
den pneumatifchen Erlebniffen, b) einer genialen und
originalen Kombination des Chriften Paulus. Andererfeits
wäre auch hier zu zeigen gewefen, daß bei dem
Ausbau im einzelnen auf Schritt und Tritt überkommenes
Material benutzt worden ift. —

Gerade meine Ausftellungen möchten dem Herrn
Verf. zeigen, daß ich feinen anregenden Ausführungen
mit Intereffe und Gewinn gefolgt bin, und zum Ausdruck
bringen, daß es fich lohnt, fein Buch zur Hand
zu nehmen.

Ein Regifter würde den Gebrauchswert des Buches
erhöht haben. Die Korrektur hätte in der Interpunktion
und der Akzentuierung forgfältiger fein können. Nicht
Schuld des Setzers find Verfehen wie S. 62 jczmyol iv
(ftatt zm) xvevfiazi; S. 118 Diehl, Elementum (ft. Diels);
S. 118 Ampuleius (ft. Ampelius); ibid. das Hyinifche Fabelbuch
(ft. Hyginifche F.) u. a.

Göttingen. W. Heitmüller.

Gütschow, Dr. Elfe, Innocenz III. und England. (Hiftori-
fche Bibliothek. Herausgegeben von der Redaktion
der Hiftorifchen Zeitfchrift. Achtzehnter Band.)
München, R. Oldenbourg 1904. (X, 198 S.) gr. 8°

Geb. M. 4.50

Eine neue, nicht unintereffante Bearbeitung des anziehenden
Stoffes. Im Gegenfatze zur bisherigen
Gefchichtserzählung, die im Streite um Canterbury den
Beginn des welthiftorifchen Konfliktes zu fehen gewohnt
war, wird erfterer nur als kaufales Ergebnis einer längft
beftehenden Fehde zwifchen Papfttum und deffen Helfershelfern
, den britifchen Mönchen, einerfeits und der
königlichen Partei und dem Epifkopate famt Weltklerus
andererfeits aufgefaßt. Die Wurzeln follen faft fechzig
Jahre zurückreichen; aber immerhin gibt auch die Ver-
fafferin zu, daß erft Innozenz III mit einem zielbewußten
Programm aufgetreten ift: Vernichtung jeder kirchlichen
Suprematie feitens des Königs; Unterwerfung der
Bifchöfe unters römifche Joch. (S. 33). Im allgemeinen
laßt fich konftatieren, daß von d. V. die epifodenhaften
pa ,tie" j Sefällig und m. E. ziemlich richtig darge-
ftellt find. Ich möchte insbefondere darauf hinweifen,
wie uns d. V. das Streitverfahren zwifchen Säkular-
und Ordensklerus vor dem Appellationsgericht in Rom
darzuftellen vermag (S. 39 ff), diefes gegenfeitige fich
anfehwarzen, verläumden, betrügen und den Rang ablaufen
; dann die Ratlofigkeit unter dem heimatlichen
Klerus, wenn die in allerletzter Inftanz erfloffenen
römifchen Urteile bei Acht und Bann ausgeführt werden
follen, und der König die Exekution unter Androhung
fofortiger Repreffalien verbietet. Auch die Darftellung
des verdeckt, aber umfo erbitterter und in den Mitteln

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