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Ausgabe:

1905 Nr. 11

Spalte:

338-339

Autor/Hrsg.:

Fahrion, Karl

Titel/Untertitel:

Das Problem der Willensfreiheit 1905

Rezensent:

Ritschl, Otto

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Theologifche Literaturzeitung 1905 Nr. Ii.

33»

fo zu tun mich verpflichtet fühle, wie ich will, daß fie
mir tun follen (Mt. 7, 12). Auch diefe abftrakt formulierte
Regel nämlich läßt fich ebenfo wie die der Wahrhaftigkeit
als ein rein formaler kategorifcher Imperativ vor-
ftellen. Wirkfam im Leben wird aber auch fie immer
nur als das konkrete Pflichtgebot beftimmter Taten der
Nächftenliebe, durch das man in einem beftimmten Momente
unbedingt verpflichtet wird, oder deffen Übertretung
nachträglich durch die Erfahrung des böfen Gewiffens
ganz fpontan und unwillkürlich geftraft wird. In allen
diefen Beziehungen hat alfo die Pflicht der Wahrhaftigkeit
als unbedingtes Gebot des Gewiffens vor der Pflicht
der Liebe fchlechterdings nichts voraus. Beide flehen
vielmehr, formal betrachtet, einander völlig gleich. Und
nicht anders verhält es fleh mit allen übrigen Pflichten,
die das Gewiffen einem gewiffenhaften oder fittlichen
Menfchen auferlegt.

Überall nun, wo in folcher Weife mit innerer Notwendigkeit
, weil fpontan und unwillkürlich, Gebote des
Gewiffens ergehen, wirkt das Sittengefetz infofern autonom
und a priori, als es in diefem Zufammenhange alle
Reflexionen a posteriori und überhaupt alle andersartigen
Beflimmungsgründe für das Wollen als heteronom aus-
fchlicßt. Diefer typifche Tatbefland der formalen Sittlichkeit
aber fetzt immer und überall, wo er feflgeftellt
werden kann, einen beftimmten Grad materialer fitt-
licher Reife voraus, der im Verlauf der fittlichen Entwicklung
der Individuen zuvor erreicht fein muß. Daher
drängt fich der wiffenfehaftlichen Eorfchung die ätiolo-
gifche Aufgabe auf, in dem großen Gefüge des menfeh-
lichen Gemeinfchaftslebens nach den Bedingungen zu
fuchen, unter denen jene autonome Wirkfamkeit des
pflichtgebietenden Gewiffens faktifch zu Stande kommt.
Indem ich in der Ergründung diefes Zufammenhanges
das eigentliche Problem der Ethik als einer Wiffenfchaft
erkenne, halte ich meinen von dem Verf. (S. 54 Anm.)
als übertrieben beanflandeten Satz1, daß nur der Einfluß
der Erziehung im weiteften Sinne des Wortes als die
Urfache aller Sittlichkeit beftimmt werden kann, mit der
ausdrücklichen Verweifung auf die ihm folgenden Sätze
aufrecht. Denn aus diefen geht hervor, daß jenes Urteil
fich allein auf den Inhalt des Sittengefetzes und der
Sittlichkeit überhaupt bezieht. Dagegen die Form des
fittlichen Wollens und Könnens ift in der immer fchon
durch Übung gefteigerten fubjektiven Leirtungsfähigkeit
der fich fittlich entwickelnder. Individuen zu erkennen.
Infofern freilich reflektiere ich auf die Individualität jedes
einzelnen Subjekts, indem ich alle pfychophyfifch nicht
abnormen Menfchen von Natur her für disponiert halte,
unter entfprechenden und hinreichend kräftigen Einwirkungen
moralifcher Art fich mehr oder weniger fittlich
zu entwickeln. Dagegen kann ich den auch von dem
Verf. vertretenen Vernunftbegriff des Kantfchen Rationalismus
nicht als objektiv zureichend begründet anerkennen
. Denn diefer Begriff ift nicht aus einer rein
objektiviftifchen Betrachtung der Wirklichkeit des fittlichen
Lebens abftrahiert. Sondern er ift vielmehr ein
Begriff von durchaus idealer Art, der aus der idealiftifchen
Gefinnung feines Urhebers herrührt und von diefem und
feinen Anhänger immer nur nachträglich in die Auffaffung
der objektiven Wirklichkeit eingetragen und ihr mehr
oder weniger glücklich angepaßt wird.

Ganz ebenfo ift auch die von dem Verf. vorgetragene
Schätzung der Wahrhaftigkeit als der fittlichen Grundpflicht
kein objektiv begründbares Ergebnis wiffenfehaft-
licher Forfchung, fondern eine intuitiv konzipierte Idee,
der freilich auch ich keine geringe Bedeutung beimeffe.
Denn die teleologifchen Spekulationen der Wohlfahrts-,
Güter- und Entwicklungsethik und die auf die fogen.
fympathifchen Gefühle begründete altruiftifche Moral
haben für die fittliche Praxis m. E. keine irgend erheb-

11 Wiffenfchaftliche Ethik und moralifche Gefetzgebung. 1903, S. 28 f.

liehe werbende Kraft. Eine folche dagegen traue ich
jeder Moral zu, die in überzeugungskräftiger Weife den
Pflichtbegriff geltend zu machen verfteht. Das praktifche
Verftändnis für die im Leben zu leiftenden Pflichten kann
aber nur gewinnen, wenn unter diefen eine beftimmte
einzelne, die die meiften anderen konkreten Pflichten unmittelbar
oder mittelbar erfüllen hilft, als die Grundpflicht
ausgezeichnet wird. So ift der Gehorfam gegen die
Kirche die Grundpflicht in der katholifchen Moral. Als
folche leiftet er zu deren Einprägung in die Gemüter
außerordentlich viel. In der proteftantifchen Moral hat
es bisher an der allgemeinen Anerkennung einer Grundpflicht
von ähnlicher Tragweite gefehlt. Die Proklamierung
der Wahrhaftigkeit nun als der Grundpflicht er-
fcheint mir in der Tat fehr geeignet, diefem Mangel
abzuhelfen, zumal fie fich als der Ausdruck einer charaktervollen
Selbftändigkeit des geiftigen Lebens darfteilt,
fowie fie die beften Geifter des Proteftantismus ftets für
fich und andere zu erreichen geftrebt haben. Alfo vom
Standpunkt der proteftantifchen Moral aus halte ich das
Unternehmen des Verf. für ein großes Verdienft. Diefes
Verdienft aber hat feinen Wert in fich felbft und bedarf
deffen gar nicht erft, fich durch rationaliftifche Theorien
als vermeintlich ftreng wiffenfchaftlich begründet zu empfehlen
. Gerade aus theoretischer Wahrhaftigkeit kann
wenigftens ich den Anfpruch des Verf. auf ftrenge Wiffen-
fchaftlichkeit feiner Darlegungen nicht als berechtigt gelten
laffen.

Bonn. O. Ritfchl.

Fahrion, Karl, Das Problem der Willensfreiheit. Ein Ver-
fuch feiner Löfung. Heidelberg, C. Winter 1904.
(III, 63 S.) gr. 8° M. 1.60

Wenn eine Arbeit, noch dazu über eins der fchwer-
ften philofophifchen Probleme, fchon auf dem Titelblatt
als ,ein neuer Verfuch feiner Löfung' ausgeboten wird,
fo ift fie mir von vornherein des Dilettantismus verdächtig
. Denn Dilettanten pflegen wegen mangelnder
Kenntniffe Einfälle, die ihnen neu vorkommen, überhaupt
für neu zu halten. Wie verhält es fich nun mit der Neuheit
der von dem Verf. vorgetragenen Löfung des Freiheitsproblems
? Jede Tat, meint er, fei ,unter einem doppelten
Gefichtspunkt zu betrachten: unter dem der
Freiheit, nach dem fie die Tat des freien und fich frei
fühlenden Menfchen ift, und unter dem der Abhängigkeit
, demzufolge fie durch den Einfluß äußerer und
innerer Urfachen herbeigeführt ift' (S. 49). Ferner: ,Der
Menfch ift von Natur böfe, da er von felbftifchen Trieben
und Begierden beherrfcht ift, und er ift von Natur gut,
da er vermöge feiner fittlichen Freiheit diefe Triebe
bekämpfen und fich einem höheren Gefetz unterordnen
kann' (S. 61 f.). Was neu an diefen Sentiments ift, ift
recht fragwürdig, und was richtig in ihnen ift, ift nicht
neu. Der Verf. fühlt fich gewiffermaßen als Schiedsrichter
zwifchen dem Determinismus und dem Indeterminismus
. Seine Sympathien flehen aber mehr auf Seite

I des letzten, obgleich er auch dem erften gerecht zu
werden glaubt. Höchft fummarifch trägt er vor, was der
Determinismus lehrt, einwendet, folgert ufw. Denn
der Verf. läßt in der Regel nicht die Vertreter des Determinismus
, fondern diefen felbft, gewiffermaßen perfoni-
fiziert, auftreten, z. B. in folgendem Satze: ,Dem Determinismus
in allen [!] feinen Formen ift es eigentümlich,
daß er die Menfchen in zwei ftreng gefchiedene [!] Klaffen
einteilt' (S. 56). Außerdem aber hat der Verf. auch noch
einen einzelnen Paradedeterminiften. Das ift ein gewiffer
mir bisher unbekannter Hommel, der Verfaffer einer
Schrift ,Alexander von Joch. Über Belohnung und Strafe
nach tüikifchen Gefetzen. 2. Aufl. 1772'. Nur Ausfprüche
diefes Schnftftellers nämlich werden zitiert; fonft wird
bloß noch einmal auf eine Stelle in Schopenhauers be-.

I kannter Arbeit über die Freiheit des Willens verwiefen.