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Ausgabe:

1905 Nr. 10

Spalte:

297-298

Autor/Hrsg.:

Soden, Hermann Freiherr von

Titel/Untertitel:

Urchristliche Literaturgeschichte (die Schriften des Neuen Testaments) 1905

Rezensent:

Schürer, Emil

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297

Theologifche Literaturzeitung 1905 Nr. 10.

298

zu einfeitig zu verteilen. Es will mir fcheinen, als fei
der Unterfchied zwifchen vorexilifcher und exilifcher
bezw. nachexilifcher Zeit in bezug auf Umfang und Stärke
des Glaubens an böfe Geifter allzu ftark hervorgehoben.
Zwar ift dem Verfaffer unbedingt zuzugeben, daß die
kakodämoniftifchen Elemente in der vorexilifchen Literatur
im Gegenfatz zur fpäteren auffallend wenig hervortreten
. Und es liegt entfchiedcn ein Hauptreiz feiner
Schrift in der Art, wie er aus diefem Unterfchied das
religionsgefchichtliche Problem fchürzt — wir find ja
fonft ,von der vergleichenden Religionsgefchichte her gewöhnt
, in der reichen Fülle dämoniftifcher Elemente gerade
ein Merkmal des Anfangsftadiums einer Religion
zu fehen' (S. 1) —, und wie er diefes Problem mit einer
Reihe einleuchtender Gründe zu löfen fucht (S. 30—33;
63—68). Aber ich meine, das Argument fei doch nicht
zu unterlchätzen, daß die Redaktion der uns erhaltenen
vorexilifchen Literatur im ganzen in Kreifen vor fich
gegangen ift, die bemüht waren, den Glauben an die
Ausfchließlichkeit und Einzigartigkeit Jahwes allen gegenteiligen
Anfchauungen zum Trotz zur Geltung zu bringen.
Ferner wäre zu bedenken, daß im Unterfchied zu diefer
vorexilifchen die mit ungleich ftärkern dämoniftifchen
Zügen durchfetzte nachex'ilifche Literatur einerfeits vorwiegend
Poefie ift, in der nach einem bekannten Ausdruck
gerade die ,paläontologifche Weltanfchauung' eines
Volkes zum Vorfchein kommt, andererfeits Ritualgefetz,
das bekanntlich in mancher Beziehung lediglich ältere
heidnifche Glaubenselemente reproduziert. Ich glaube
auch, daß fich hier, zumal aus den Reinheitsvorfchriften,
auf den Umfang urfprünglichen dämoniftifchen Glaubens
weitergehende Schlüffe hätten ziehen laffen. als fie der
Autor zu ziehen gewagt hat. Er ift damit allerdings der
Gefahr glücklich aus dem Wege gegangen, fich auf dem
unfichern Boden der Hypothefen zu verlieren, und das
fpricht wieder für die Befonnenheit feines Urteiles. Sie
zeigt fich auch darin, daß er fich von der beliebten
Überfchätzung babylonifcher Einflüffe frei zu halten gewußt
hat und für den Eigenwert der Religion Ifraels ein
richtiges Verftändnis an den Tag legt.

Der Erfolg diefes erften Verfuches darf den Verfaffer
ermutigen, feine Arbeit auf altteftamentlichem Gebiet
fortzufetzen, um dem darauf fchon fo gefchätzten
Duhmfchen Namen auch an feinem Teile weiterhin Ehre
zu machen.

Bafel. Alfred Bertholet.

Soden, D. Hermann Frhr. von, Urchristliche Literaturgeschichte
(die Schriften des Neuen Teftaments). Berlin,
A. Duncker 1905. (VI, 237 S.) gr. 8°. M. 2.50; geb. M. 3.20

Erft im vorigen Jahre hat der Verf. eine treffliche
Orientierung über .Die wichtigftcn Fragen im Leben Jefu'
veröffentlicht (f. Theo!. Litztg. Nr. 4 diefes Jahrganges).
Und nun liegt abermals eine auf die Neuteftamentliche
Literatur bezügliche größere Arbeit vor. Diesmal bezieht
fie fich auf die Gefamtheit der Neuteftamentlichen
Schriften und ift nicht für Theologen, fondern für weitere
Kreife beftimmt. Der Verf. verfleht es vortrefflich, die
Entftehung der einzelnen Schriften verftändlich zu machen.
Sein Hauptabfehen ift augenfcheinlich eben darauf gerichtet
, zu zeigen, welche Bedürfniffe und Motive allmählich
zur Abfaffung diefer fo verfchiedenartigen Schriften
geführt haben, während die Gläubigen der erften Zeit,
die in Bälde die Wiederkunft ihres Herrn erwarteten, gewiß
an nichts weniger als an literarifche Tätigkeit gedacht
haben. Es waren die praktifchen Bedürfniffe der
Gemeinde: ihre Belehrung, Förderung, Ausbreitung und
Verteidigung, welche zu den verfchiedenen Formen lite-
rarifcher Produktion geführt haben, die im ,Kanon' des
Neuen Teftamentes ihren Abfchluß gefunden hat.

Der erfte Abfchnitt ift den paulinifchen Briefen gewidmet
, d. h. den acht, welche v. S. als echt anerkennt

] (I Theff., I und II Kor., Gal., Rom., Kol., Philemon,
Philipper). — Im zweiten Abfchnitt wird die Entftehung
der fynoptifchen Evangelien gefchildert, welchen zwei
Hauptquellen zugrunde liegen: ,Die Sammlung von Jefus-
| fprüchen durch den Zwölfjünger Matthäus' und ,die
I Petruserzählungen, aufgezeichnet von Markus'. DieZeug-
niffe des Papias bezieht v. S. — m. E. mit Recht — auf
diefe Quellenfchriften, nicht auf unfere kanonifchen Evan-
j gehen. Die Umarbeitung der urfprünglichen Markus-
I fchrift durch unfern zweiten Evangeliften fieht der Verf.
I als eine ziemlich erhebliche an; ich glaube, daß ihm auch
1 darin beizuftimmen fein wird. — Ein dritter Abfchnitt
1 behandelt ,die nachpaulinifche Literatur',nämlich: Apoftel-
gefchichte, Hebräerbrief, I. Petrusbrief, Ephcferbrief,
Paftoralbriefe und II. Theffalonicherbrief. Die Anflehten
des Verf. über diefe Literatur find zum Teil aus feinen
früheren Arbeiten bekannt. Der ,Wirquelle' der
Apoftelgefchichte gibt er (mit Recht) eine fo große Ausdehnung
, daß fie als Hauptquelle für die zweite Hälfte
des Buches überhaupt erfcheint. Es hätte hier wohl ein
ftärkerer Gebrauch von dem Gefichtspunkt gemacht
werden dürfen, daß manche Unebenheiten der Darftellung
| teils durch Kürzung teils durch Erweiterung diefer Quelle
entftanden find. — Im letzten Abfchnitt wird die johan-
neifche Literatur unterfucht: Apokalypfe, Briefe, Evan-
| gelium. Am meiften Problematifches bieten wohl die
[ Ausführungen über das Evangelium. Daß der ,ßufen-
jünger' nicht der Zebedaide, fondern der .Presbyter' Johannes
ift, fcheint mir keineswegs fo wohl begründet,
wie v. S. es darzuftellen fucht (S. 2i6f.). Dagegen wird
ihm beizuftimmen fein, wenn er S. 219 fagt, daß der
Verfaffer des Evangeliums ein Verehrer des Bufenjüngers
i war, auf den er als feinen verläßlichen Gewährsmann fich
gelegentlich ausdrücklich beruft und dem er in feinem
Evangelium durch die Art feiner Einfuhrung in die Er-
! Zählung ein Denkmal der Pietät fetzt. — Als ,Nach-
I zügler' der Neuteftamentlichen Literatur werden fchließ-
J lieh der Jakobus-, Judas- und II. Petrusbrief noch kurz
charakterifiert.

Im großen und ganzen vertritt v. S. diejenigen Anfchauungen
, welche von den Vertretern einer maßvollen
Kritik jetzt durchfehnittlich geteilt werden. Im einzelnen
wird der Eine diefes, der Andere jenes anders auffaffen.
So kann ich mich nicht davon überzeugen, daß II. Kor.
IO—13 derjenige Brief ift, auf welchen II Kor. 1—9 mehrfach
Bezug genommen wird, und noch weniger davon,
daß die Lefer des Galaterbriefes in ,Südgalatien' zu
fuchen find. Auch halte ich es nicht für möglich, daß
der abrupte Schluß der Apoftelgefchichte vorn Verf. be-
abfichtigt ift. Weshalb es ,kaum vorftellbar' fein foll,
daß das Ende des Buches verloren gegangen ift (S. 11 f),
vermag ich nicht einzufehen. Weshalb denn nicht? Es
ift aber ebenfo gut möglich, daß das Buch gegen den
Willen des Verf. unvollendet geblieben ift. — Bei den
Briefen hätte vielleicht etwas mehr zur Veranfchaulichung
der Gemeindezuftände, welche fie vorausfetzen, gefchehen
können; und bei den PNangelien etwas mehr zur Begründung
der vorgetragenen Refultate über ihre Ver-
wandtfehafts- und Entftehungsverhältniffe. — Koloffae
war zur Zeit Pauli nicht mehr ,eine der größten Städte
der Provinz Afia' (S. 50), fondern nur ein JiShöfia (Strabo
XII p. 576/z«)- — Trotz folcher kleinen Ausheilungen
kann die Arbeit des Verf. für den Zweck, welchem fie
dienen will, aufs befte empfohlen werden. Es find jetzt
mehr als vierzig Jahre her, feitdem Rothe mit Nachdruck
die Forderung erhoben hat, daß eine Literatur gefchaffen
werde, welche die Refultate der theologifchen, infonder-
! heit der biblifchen Wiffenfchaft den weiteren Kreifen der
I Gebildeten zugänglich macht. Die Gegenwart fcheint
endlich die Erfüllung diefer Forderung zu bringen. Den
darauf bezüglichen Beftrebungen reiht fich die Arbeit
i des Verfaffers in würdigfter Weife an.

Göttingen. _ E. Schürer.

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