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Ausgabe:

1905 Nr. 9

Spalte:

280-281

Autor/Hrsg.:

Houtin, Albert

Titel/Untertitel:

L‘américanisme 1905

Rezensent:

Lobstein, Paul

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279

Theologifche Literaturzeitung 1905 Nr. 9.

280

Monotheismus und Univerfalismus pofitiv vorbereitet
fei, obwohl die Tatfachen deutlich genug darauf hinweifen
, daß der hellenifche 7ö/oc-Begriff, die An-
fchauung, daß der Menfch göttlichen Gefchlechts ift,
daß die Gottheit in menfchlicher Erfcheinung fich offenbaren
, und der Menfch zur Höhe der Gottheit emporgehoben
werden könne, den beften Ertrag der hellenifchen
Religion in das Chriftentum herübernimmt. Stanges
Offenbarungsbegriff verbietet ihm, diefe pofitive Anbahnung
des Chriftentums in der Völkerwelt zuzugeben.
Er meint, daß nur die bequemen Verkehrsverhältniffe
und die geringe Widerftandskraft der antiken Kultur das
Chriftentum gefördert haben. Er findet, daß mit der
Entftehung einer einheitlichen Menfchheitskultur im
römifchen Reich nur die Auswirkungen der Sünde ge-
fteigert feien. Das Gottesreich fei als Gegenfatz gegen
die Weltherrfchaft der Sünde übernatürlich in diefe Welt
hineingeftellt. — Ebenfo wie das Chriftentum allen andern
Religionen entgegenfteht, ftehe es auch im Gegenfatz zu
aller ,Kultur'. Der vieldeutige Begriff der Kultur wird
aber nirgends genauer zu definieren gefucht. St. fcheint
an den meiften Stellen ,Kultur' als eine der Moral und
Religion gegenüber für fich beftehende Macht zu faffen.
Es ift eine viel zu enge Auffaffung vom Wefen der
Kultur, wenn St. S. 21 als ihre Kennzeichen die Ausbildung
des Intellekts, die dadurch bedingte Herrfchaft
des Menfchen über die Welt und die ihm damit ermöglichte
Befriedigung feiner Bedürfniffe nennt. Bei diefer
engen Wefensbeflimmung ift es begreiflich, wenn St.
findet, daß die Herrfchaft der Kultur nur eine Steigerung
des Egoismus zur Folge habe. Kultur und Religion find
ihm zwei entgegengefetzte Mächte. Aus der Kultur
follen nur Willensziele und Ideale folgen, die im Gegenfatz
zum Chriftentum flehen. Diefe enge Auffaffung wird
der Tatfache nicht gerecht, daß Religion und Moral
felber zu den wichtigften im Kulturleben herrfchenden
Mächten werden. Stange polemifiert mit vollem Recht
dagegen, daß der Fortfehritt der Kultur (Kultur im Stange-
fchen Sinne gefaßt) der treibende Grund für den Fortfehritt
der Religion fei. Vielmehr fei die Moral das wichtigfte
Förderungsmittel der Religionsentwicklung. Genau das-
felbe fagen die meiften Religionsforfcher (z.B. Rauwen-
hoff, Religionsphilofophie 2. Aufl. 1894 S. 81 ff; Siebeck,
Religionsphilofophie S. 65fr. 243 ff. Pfleiderer u. a.). Folglich
ift es ungerecht, wenn Stange der ,modernen Wiffen-
fchaft' Mangel an Verftändnis gegenüber dem Gebiet des
Moralifchen S. 23 vorwirft. Noch ungerechter fcheint es
mir, durch ein von Nietzfche geprägtes Schlagwort die
Arbeit der neueren Theologie herabzufetzen: ,Für unfere
theologifchen Bildungsphilifter ift es allerdings ein Axiom
ihrer „vorausfetzungslofen" Forfchung, daß aller Dualismus
und Supranaturalismus ein überwundener Standpunkt
ift' (S. 3). Gerade den mit diefen Begriffen bezeichneten
Problemen hat doch die Theologie feit dem Rationalismus
, feit Schleiermacher und Hegel ftets erneute und
eingehende Arbeit gewidmet.

Der zweite Teil der Abhandlungen bringt Beiträge
zur Theologie der Reformatoren. Nr. 5 entwickelt
treffend die religiöfen Motive der Prädeftinationslehre
Luthers. Nr. 10 fucht die von den Reformatoren ftets
betonte libertas in externis operibus mit der ebenfo ent-
fchieden hervorgehobenen Unfreiheit des Willens fo zu
vereinigen: die Unfreiheit des Willens ift ein ethifcher
Begriff, die Freiheit des Handelns ein pfychologifcher
Begriff. Nr. 6—7 behandeln die Rechtfertigungslehre der
Apologie und erläutern die für den Sprachgebrauch
charakteriffifchen Stellen De justificatione § 72, De dilec-
tione § 131, §184; Stange beweift ferner, wie wichtig zum
Verftändnis der polemifchen Ausführungen Melanchthons
das Heranziehen gleichzeitiger katholifcher Schriftfteller
wie Berthold v. Chiemfee, Joh. Dietenberger, John Fifher
ift. Nr. 8—9 handeln von den Beziehungen Luthers zur
Theologie feines Ordens. St. zeigt, daß die auguftinifche

Richtung der Theologie innerhalb des Auguftinerordens
ftark zurücktrat und nur von Gregor von Rimini gepflegt
wurde. Daher fei möglicherweife Luther durch die
Schriften diefes Gregor zum Studium Auguftins geführt
worden. Nr. 6—10 find vorher in der Neuen kirchlichen
Zeitfchrift 1899—1903 erfchienen.

Görlitz. Johannes Wendland.

Houtin, Albert, L'americanisme. Paris, E. Nourry 1904.
(VII, 497 P ) 8° f. 3.50

Diefe Schrift des durch feine kirchenhiftorifchen Studien
rühmlichft bekannten Verfaffers reiht fich feinen
früheren Veröffentlichungen würdig zur Seite. Sie bildet
ein intereffantes Gegenftück zu dem in diefem Blatt (Jahrgang
1902, Nr. 16) angezeigten Buch, La question biblique
chez les catholiques de France au XIXe siede. Hatte letzteres
Werk die Stellung der katholifchen Theologen
Frankreichs zu den biblifchen Wiffenfchaften dargetan,
fo fchildert die gegenwärtige Schrift ihr Verhalten zu den
politifchen und fozialen Fragen.

Das Buch zerfällt in zwei Teile. Im erften (S. 1—177)
fchildert H. den, Amerikanismus in den Vereinigten Staaten'.
Das Bild des praktifch und fozial orientierten, weltoffenen
und vorwärts ftrebenden amerikanifchen Katholizismus
ift mit fichtbarer Liebe und Bewunderung gezeichnet. ,Le
clerge tourne sa preoccupation vers l'essentiel, l'amour de
Dieu, P Organisation de la charite. II preche une religion
oü beaueoup plus qiien Europe il est question de vertus
naturelles, de responsabilite et d'aetivite morale1. Die
Entwickelungsgefchichte diefer modernften Form des Katholizismus
entwirft der Verf. auf Grund wertvoller Urkunden
, völlig zuverläffiger Quellen und Zeugniffe erfter
Hand, die er in den wichtigften Fällen unmittelbar zu
Wort kommen läßt. Hervorragende Geftalten, Hecker,
Gibbons, Ireland, Spalding, werden in ihrer Eigenart und
in ihrer Wirkfamkeit charakterifiert und prägen fich dem
Geilte des Lefers unauslöfchlich ein. Geiftvoll und fcharf-
finnig erörtert H. die Schwierigkeiten, welche der Entfaltung
diefes originellen religiöfen Gebildes oft hemmend
in den Weg treten, — die theoretifchen und praktifchen
Probleme, vor welche fich der Amerikanismus geftellt
fleht, — die Strömungen, die in feinem eigenen Schöße
hervortreten, — das Ringen zwifchen den Mächten, die
dem Boden und der Gefchichte des einheimifchen Katholizismus
entflammen, und den Faktoren, welche die Einwirkung
von außen darfteilen, — die Stellung der Kurie,
die in dem vollftändig mitgeteilten (173—177) Schreiben
Leos XIII. an Gibbons ihren klaffifchen Ausdruck gefunden
hat.

Der zweite Teil der Schrift H.s ift dem Amerikanismus
in Frankreich' (179—460) gewidmet. Hierin lag der
Schwerpunkt der gefchichtlichen Darftellung des Verf.s,
welcher die Schilderung des Amerikanismus in den Vereinigten
Staaten, trotz ihrer großzügigen Anlage, doch nur
als Einleitung diente. Die außerordentliche Schwierigkeit
der hier zu löfenden Aufgabe hängt an dem unbeftimmten
proteusartigen Charakter der mit dem Namen Amerikanismus
bezeichneten religiöfen Bewegung. Scheint es
doch, als ob die Vertreter und die Gegner desfelben in
der Verwirrung und Verfchiebung der umftrittenen Probleme
wetteifern. Bald wird unter jenem immer wiederholten
Schlagwort ein etat d'äme, bald un corps de doc-
trines verftanden; dort fällt das Hauptgewicht auf die aus
Amerika erhaltenen Anregungen, hier ift jede Beziehung
zu dem Mutterlande der ,neuen Ketzerei' verfchwunden.
Aus diefem Tatbeftand erwuchs für den Verf. die Pflicht,
ein Gefamtbild der freiheitlichen Regungen im Schöße
des franzöfifchen Katholizismus am Ausgang des voriger:
und am Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts zu fchil-
dern: er bewegt fich in den Grenzen zwifchen 1890 und
1903. In der Behandlung diefes vielgeftaltigen Stoffes
entwickelt H. eine Virtuofität, die fich durch meifterhafte