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Ausgabe:

1905 Nr. 7

Spalte:

209-213

Autor/Hrsg.:

Kaftan, Julius

Titel/Untertitel:

Zur Dogmatik. 7 Abhandlungen 1905

Rezensent:

Lobstein, Paul

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209

Theologifche Literaturzeitung 1905 Nr. 7.

210

Trennung von Gott. Bei der Beurteilung von Schleiermachers
Erlöfungstheorie möchte ich den Hauptnachdruck
legen auf die Art, wie die Erlöfung, als Kraftübertragung
, bei Schleiermacher einen gewiffen, dem Chriften-
tum fonft fremden phyfikalifch-mechaniftifchen Charakter
erhält.

Der Verf. hat bei befonders wichtigen Erörterungen
auch größere Abfchnitte aus der Glaubenslehre wörtlich
in feinen Text aufgenommen. Ich meine, es wäre das
nicht nötig gewefen. Der bloße Hinweis auf die betreffenden
Stücke, oder eine kurze Zufammenfaffung ihres
Inhalts wäre genügend, ja für die Lektüre des Buchs
bequemer gewefen.

Befonders dankenswert ift die als Anhang beigefügte
Aufhellung eines Verzeichniffes von Druckfehlern in
Schleiermachers Glaubenslehre, von denen die meinen
bisher nicht als folche erkannt waren. Der Verf. bittet,
ihm etwaige weitere noch nicht notierte Druckfehler
mitzuteilen, damit bei einer nochmaligen Neuherausgabe
der Glaubenslehre ein fehlerfreier Text geboten werden
könne.

Stettin. Lülmann.

Kaftan, D. Julius, Zur Dogmatik. Sieben Abhandlungen
aus der .Zeitfchrift für Theologie und Kirche'. Tübingen
, J. C. B. Mohr 1904. (III, 337 S.) gr. 8» M. 4 —
Unter diefer vor Jahren durch Richard Rothe berühmt
gewordenen Überfchrift faßt Kaftan eine Reihe von Auf-
fätzen, die zunächft in Gottfchicks Zeitfchrift für Theologie
und Kirche erfchienen waren, zu einem Buche zu-
fammen, das als Begleitfchrift und Rechtfertigung der
neuen Auflage feiner Dogmatik (Herbft 1901) gemeint
ift, und demnach zu diefem Werke etwa in demfelben
Verhältnis fteht, wie Schleiermachers beide Sendfehreiben
an Lücke zur Glaubenslehre des großen Theologen.

In drei Gruppen fondert K. feine Auffätze,
welche formale (3—55), prinzipielle (56—210) und einzelne
(211—337) Lehren betreffen. ,Möglich(t zwanglos über
allerlei wichtige Fragen der Dogmatik mich auszufprechen
und möglichft deutlich zu fagen, was ich meine, ift hier
vor allem mein Beftreben gewefen'. Daß diefe Auffätze
fich zu kritifchen Auseinanderfetzungen mit gegnerifchen
Anflehten und zur Rechtfertigung des eigenen Standpunktes
geftalten, liegt in der Natur der Sache begründet
und kann niemanden befremden. Wie diefe Oratio pro
domo, fo fetzt auch das folgende Referat die Kenntnis
der Dogmatik Kaftans voraus.

Die formalen Fragen umfaffen das Syftem (3—21)
und die Art und Weife des dogmatifchen Vortrags (21—55).
Zunächft erklärt K., in welchem Sinn er auf alles, was
fyftematifche Konftruktion heißt, grundfätzlich verzichtet.
Er glaubt den berechtigten Intereffen des Syftems genug
getan zu haben, fofern es gilt, die Themata, die zur Verhandlung
flehen, überfichtlich zu gruppieren, und die
innere Einheit der vorgetragenen Gedanken deutlich zu
machen. Daß K. in der Tat diefe doppelte Bedingung
erfüllt hat, wird man nicht in Abrede Hellen können.
Alle anderen Anfprüche, die man an die fyftematifche
Virtuofität des Dogmatikers zu Hellen pflegt, weift K.
nachdrücklich zurück: diefelben Hammen aus äfthetifchen
Intereffen und find eher dazu angetan die dogmatifche
Arbeit zu fchädigen als zu fördern. Die Aufteilungen,
die K. in diefem Zufammenhang an der Schematifierung
der Ethik und der Glaubenslehre Schleiermachers macht,
fowie die Inftanzen, die er gegen Franks ,Syftem' erhebt,
würden auch dann Beachtung verdienen, wenn die Folgerungen
, die K. daraus ableitet, als über den ftrittigen
Punkt hinausgehend betrachtet werden müßten. — Was
den zweiten Punkt betrifft, fo bezeichnet es K. als ein
Grundgebrechen der gegenwärtigen Dogmatik, daß ihr
der ihr gebührende abfolute Ton fehlt. Ift fie doch
nicht einfach eine defkriptive Disziplin, fondern vielmehr

eine Normwiffenfchaft, welche dem Autoritätsprinzip der
göttlichen Offenbarung zu folgen hat. Von hier aus be-
anftandet K. auch die durch den Unterzeichneten geftellte
Forderung einer chriftozentrifchen Gliederung der Dogmatik
. Daß von K.s Prämiffen aus die Lehre von Gott,
und nicht die Chriftologie, an die Spitze der Dogmatik
gehört, unterliegt keinem Zweifel. Wenn er aber das
durch den Ref. empfohlene regreffive Verfahren als ein
reflektierendes Denken über dieGegenftände des Glaubens
verurteilt, fo kann ich nicht umhin in diefem Urteil
ein Mißverftändnis zu erblicken. Einmal ift für mich
ebenfalls die Dogmatik die wiffenfehaftliche Darftellung
der durch das Evangelium erzeugten und normierten
Glaubenserkenntnis; zum zweiten find alle einzelnen
Lehren nicht minder als die Chriftologie wiffenfehaftliche
Formulierungen von wefentlichen Glaubensausfagen. Es
liegt mir völlig fern die Lehre von Gott oder vom
Menfchen erft mittelbar aus der Chriftologie abzuleiten;
nicht die Chriftologie ift der Lehrfatz, aus welchem theologifche
und anthropologifche Sätze zu deduzieren find,
fondern Chriftus ift das prineipium cognoscendi, aus
welchem wir Auffchluß über Gott und den Menfchen
erhalten. Der normative Charakter der Dogmatik kommt
dadurch nicht zu kurz, daß an Stelle des Autoritätsprinzips
der göttlichen Offenbarung der in feinem Lebenswerk
zu erfaffende und aus feinem religiöfen Zeugnis
dem Glauben zugängliche Chriftus geftellt wird. Freilich
muß ich dann, wie es Reifchle (S. 45) ebenfalls fordert,
von dem evangelifchen Lebensbild Chrifti, nicht von dem
erhöhten Herrn ausgehen.

Den weiteften Raum nehmen die prinzipiellen Fragen
ein. Unter dem Titel Dogmatik und Hiftorismus
(56—108) fetzt fleh K. mit einigen Gedankenreihen auseinander
, die unter fleh fehr verfchieden in dem Punkt
zufammentreffen, daß fie mit gefchichtlicher Forfchung
erledigen wollen, was in früheren Zeiten die Dogmatik
beforgt hat. Im Gegenfatz zu der durch Harnack vertretenen
Forderung einer Reduktion des Chriftentums,
bei welcher an Stelle des Dogmas das reine Verftändnis
des Evangeliums zu treten habe, will K. eine folche
Antithefe überhaupt nicht gelten laffen. Nicht eine
Reduktion, fondern ein neuer Entwurf der chriftlichen
Wahrheit aus dem evangelifchen Gedanken des Glaubens
ift es, worauf uns die Reformation hinweift (64). Eine fo
geftaltete Erkenntnis wird in der evangelifchen Kirche
fo gut Dogma fein und muß Dogma zu fein beanfpruchen,
wie das alte Dogma in der vorreformatorifchen Kirche!
Diefe Pofition hofft K. dadurch im evangelifchen Sinne
begründen zu können, daß er nachweift, wie der katho-
lifche Anfpruch des Dogmas auf Unfehlbarkeit fchließlich
auf die Behauptung hinauslaufe, das Dogma beruhe auf
göttlicher Offenbarung: dies fei aber gerade in Bezug auf
die aus dem reformatorifchen Verftändnis des Evangeliums
abgeleiteten Glaubenslehren der Fall. — Allein um eine
folche Gleichung ficher zu Hellen, um den Anfpruch zu
begründen, unfereGlaubenslehren als Dogmen zu betrachten
, die gelten follen wie das Dogma in der vorreformatorifchen
Zeit, müßten wir, wie jene Zeit, ein unfehlbares
Lehramt in unfrer Mitte befitzen. Was hilft es, den
autoritativen Charakter des Dogmas zu proklamieren,
wenn fchließlich nur der einzelne Dogmatiker die Bürg-
fchaft dafür leiftet, daß er den evangelifchen Be griff des
Heilsglaubens allfeitig und konfequent durchgeführt hat?
Wie emphatifch das Bekenntnis des lebendigen Glaubens
(75), wie gelungen derVerfuch einer Formulierung diefes
Glaubens (66) fein mag, es bleibt hier in der evangelifchen
Kirche eine Lücke, die wir nicht beklagen, fondern als
Zeugnis und Unterpfand unfrer ev. Freiheit preifen wollen.
Auch die energifche Geiftesarbeit und die mutige Glaubenstat
K.s wird fie nicht ausfüllen, fo gewiß es ihm hoffentlich
nicht gelingen wird, eine neue, wenn auch evangelifch
begründete und bedingte Orthodoxie (117/9) am Horizonte
unfres Proteftantismus heraufzuführen.