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Ausgabe:

1905 Nr. 7

Spalte:

208-209

Autor/Hrsg.:

Clemen, Carl

Titel/Untertitel:

Schleiermachers Glaubenslehre in ihrer Bedeutung für Vergangenheit und Zukunft 1905

Rezensent:

Lülmann, Christian

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Theologifche Literaturzeitung 1905 Nr. 7.

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Was er bietet, ift eine große Überrafchung. Denn ein
Vergleich mit der Bibliographie von Butzers Schriften, die
wir F. Mentz verdanken, (Zur 400jährigen Geburtsfeier
Martin Butzers, Straßburg, Heitz 1891) beweift die ftarke
Überlegenheit von Brenz. Denn für Butzer konnte Mentz
nur 128 Drucke nachweifen, während Köhler für Brenz
692 Drucke und 33 Dubia feftftellt. Wie groß die Bereicherung
unferes Wiffens durch feine Umfrage auf allen
erreichbaren Bibliotheken und ihre Ergebniffe ift, beweift
der Unterfchied des Fragebogens von 61 Seiten, den er
ausgehen ließ, und der die 1899 im großen und ganzen
bekannten Werke enthielt, während die Bibliographie 405
S. zählt. Das ift nahezu das Siebenfache. Sehr bemerkenswert
ift, daß Brenz durch fein Schickfal im Interim
erft recht bekannt wurde. Denn während bis 1548 nur
167 Drucke von ihm bekannt find, fteigt ihre Zahl bis
zum Jahr feines Todes auf 517, und auch nach feinem
Tod find feine Schriften noch viel begehrt. Jetzt erft
erkennen wir alle die Überfetzungen feiner Werke in die
englifche, franzöfifche,griechifche, holländifche,italienifche,
polnifche und windifche Sprache. Wertvolle Baufteine
zur Biographie des Reformators bietet Köhler in den
Notizen, die er den Vorreden und Widmungen entnahm.
Vgl. z. B. S. 281 Nr. 589 die Angabe, daß fich Brenz 1546
6—7 Meilen von Hall aufhielt, als der Kaifer in Hall
weilte, S. 199 zu Nr. 429, daß Brenz bei Hartmann Beyer
in Frankfurt zu Gaft war.

Aber Köhler hat fich nicht mit der Bibliographie
begnügt, fondern in Ergänzung von Preffels Anecdota
Briefe, Bedenken, Gutachten und Vorreden nachgewiefen
und vielfach Preffels Lesarten und Angaben berichtigt.
Dabei ift es ihm gelungen, als erfte gedruckte Äußerung
von Brenz ein griechifches Epigramm vom Jahr 1516 auf-
zufpüren. Dann gibt er eine Anzahl noch unbekannter Briefe
von Brenz, z. B. den wichtigen an Capito vom 22. Nov.
1525, an Franz Irenicus aus dem Sommer 1532, an Ludwig
Gremp von 12. Aug. 1544 und den vom 7. Jan. 1555
an einen Unbekannten, der vielleicht Melanchthon ift,
an den Brenz den Brief durch Dr. G. Lang fchickte.
Preffel S. 404, 405. Statt suis S. 341 Z. 6 v. u. 1. scis. Er
hat auch gutgetan, daß er Briefe und Gutachten aus
feltenen Schriften mitteilte, z. B. S. 335 den Brief an Joh.
Gaft in Bafel 1540, an Chr. Egenolph in Frankfurt von
1554, das Gutachten über den Wucher, S. 385 die Synodalrede
von 1546, die Brenz aber nicht in Stuttgart hielt,
fondern in Hall nach der Rückkehr von Regensburg,
denn der Superintendens nostrarum Ecclesiarum ift Ifenmann
, und S. 390fr. die Haller Sendordnung. Weiter
weift er eine Reihe Manufkripte mit Brentiana in Bamberg
, Dresden, Hamburg, Heidelberg, Leipzig, Marburg,
München, Nürnberg und Stuttgart nach. Ganz befonders
ift ihm zu danken, daß er den verfchollenen Codex Suevo-
Hallensis, über den er in Th.L. 1903 Nr. 24 berichtet hat,
wieder auffand. Endlich find für den Biographen noch
höchft willkommen die Briefauszüge aus der Bullinger-
fchen Sammlung in Zürich, die Brenz und vor allem den
neu entflammten Abendmahlsftreit betreffen und ihn
ebenfo als angefehenen, aber eben darum auch ftark angefochtenen
Theologen kennzeichnen, aber auch neue
Züge zum Bild des Seelforgers und Kirchenorganifators
geben. Aber auch die feit 1897 erfchienene Literatur, die
Köhler forgfältig zufammengeftellt hat, ift eine angenehme
•Beigabe. Trefflich ift das Regifter, das die Auffindung
der Urdrucke rafch ermöglicht.

Es ift ein faft unerfchöpfliches Material, was die
Bibliographia Brentiana nicht nur für ihren nächften
Zweck, fondern auch für weitere Kreife bietet. Man wird
z. B. nicht irregehen, wenn man in Barth. Weftheimer S. Ii
den Pfarrer von Raftatt fieht. In Joh. Smoltius Nr. 25, 31,
42, 57 dürfen wir ficher den Memminger Hans Schmölz
finden, der 1534 Lefemeifter in Blaubeuren wurde, f. Württb.
K.G. Stuttgart u. Calw 1893, S. 339. Er wird wie Seb.
Coccius an der Schule in Hall gearbeitet haben. S. 16

1 Nr. 41 zeigt, daß Simon Haferitz fchon 1529 in Klofter-
mansfeld ftand. W. Dentaner Nr. 181 ift Pfarrer in Wies-
1 baden.

S. 70 Z. 1 ift Gamaliel Gratius Pfeudonym für Caf-
par Gräter. In Thom. Tilianus S. 334 haben wir den um
die Reformation von Gengenbach und Ravensburg verdienten
Böhmen Lindner von Bohuslawitz vor uns. Nr. 569
S. 270 wirft ein Licht auf die Jugend des trefflichen
Hier. Megifer. S. 369 wird eine neue Epifode im Leben
des unruhigen Thom. Naogeorgius aufgehellt. Denn es

1 ift m. W. unbekannt, daß er 1560 von Stuttgart in die
Landftadt Backnang fich zurückziehen mußte wegen Lehrdifferenzen
mit Brenz. Ebenfo neu dürfte fein, daß Matthias

j Erb im Bauernkrieg bei Brenz in Hall weilte (S. 380).
Neu ift auch unter Brenz' exegetifchen Schriften ein Kommentar
zur Apokalypfe, den München befitzt (S. 355) und
ein folcher zum Römerbrief von 1527, der Manufkript
geblieben ift und noch nicht aufgefunden ift. S. 388 1.
Z. 1 missus, Z. 6 vocant.

Die forgfältige und gründliche Arbeit Köhlers, deren
Bedeutung auch die K. Kommiffion für württb. Landes-

1 gefchichte durch einen anfehnlichen Beitrag anerkannte,
hat für die Biographie und Theologie des Haller Reformators
die Wege geebnet. Aber wer fchafft fie?

Nabern. G. Boffert.

Clemen, Prof. Lic. Dr. Carl, Schleiermachers Glaubenslehre
in ihrer Bedeutung für Vergangenheit und Zukunft, Gießen,
J. Ricker 1905. (XI, 132 S.) gr. 8° M. 3 —

* In ziemlich ungelenkem Stil bietet C. Clemen eine
kritifche Analyfe von Schleiermachers Glaubenslehre.
Er legt die zweite Auflage zugrunde. Doch zieht er,
wo es ihm nötig fcheint, die erfte Auflage zur Ver-
gleichung heran. Außerdem will er .Schleiermachers
handfchriftliche Anmerkungen zum erften Teil der Glaubenslehre
', 1873 von Thönes herausgegeben, befonders
berückfichtigt wiffen.

Die dargebotene Kritik foll in erfter Linie eine
immanente fein. Der Verf. will unterfuchen, was zu
Schleiermachers Vorausfetzungen paßt, und was nicht.
Doch nimmt er dabei nicht fo fehr Bedacht auf die
äußeren und inneren Zufammenhänge von Schleiermachers
Entwicklung und Gefamtanfchauung. Er betrachtet die
Glaubenslehre mehr in ihrem eigenen Beftand und zeigt
nun, wie dies anfcheinend fo einheitlich entworfene
und ausgeführte Gedankengebäude brüchig und riffig ift
im Untergrund wie im Aufbau. Doch geht er auch über
die immanente Beurteilung hinaus. Er erläutert die Stellung
von Schleiermachers Glaubenslehre in der Gefchichte der
proteftantifchen Dogmatik. Er verfolgt die Verbindungsfäden
rückwärts und vorwärts. Er konftatiert befonders
die mannigfachen Einwirkungen Schleiermachers auf die
neuere Theologie, zumal auf A. Ritfchl. Er weift auch
hin auf allerlei in der Glaubenslehre verborgen liegende
fruchtbare Keime, die noch nicht zur Entfaltung gelangt
feien.

Der Verf. hat fich fleißig und eindringlich in feinen
Stoff vertieft. Seine Ausführungen find ohne Zweifel
verdienftvoll. Doch tritt m. E. die Würdigung der Glaubenslehre
als Gefamtleiftung zu fehr zurück hinter dem
kritifchen Zergliedern der einzelnen Lehrftücke und Lehrbegriffe
. Zu einigen Ausführungen des Verf. möchte
ich Anmerkungen fetzen. Mir will fcheinen, als ob
Schleiermachers Gottesbegriff in der Glaubenslehre doch
nicht einfach feiner Dialektik entlehnt, fondern wefent-
lich religiös benimmt und vertieft fei. Auch über
Schleiermachers Sündenbegriff bin ich anderer Meinung,
wie der Verf., der ihn für ganz unhaltbar erachtet.
Denn mag man die Sünde noch fo fehr unter ethifchem
Gefichtspunkt betrachten: es ift in ihr doch zugleich
Hemmung des Gottesbewußtfeins enthalten, fie ift letzthin
doch religiös zu orientieren, fie bedeutet Trennung,