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Ausgabe:

1905 Nr. 7

Spalte:

199-200

Autor/Hrsg.:

Decharme, Paul

Titel/Untertitel:

La critique des traditions religieuses chez les Grecs 1905

Rezensent:

Wendland, Paul

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Seite 1

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199

Theologifche Literaturzeitung 1905 Nr. 7.

200

billig. Daß bei Itzkowski lieh "j und "i, D und D ebenfo | mit Freudenthal leugnet, war auch das Archiv f. Gefch.
ähnlich fehen, wie bei Drugulin Zere und Pathach, ift I der Philof. I 97. 322 ff. zu berückfichtigen. — Daß
fchade. 1512 hatte man beffere Typen als heute. Herodot die naive Vorausfetzung des Altertums von der

Le- • g Rifchoff i Identität der Götter der verfchiedenen Völker teilt, wird

richtig ausgeführt; um fo mehr ift man überrafcht, daß

Decharme, Prof. Paul, La critique des traditions religieuses
chez les Grecs des origines au temps de Plutarque.
Paris, A. Picard et Fils 1904. (XIV, 518 p.) gr. 8°

fr. 7.50

Der Titel bedeutet nicht, daß der Verfäffer die reli-
giöfen Traditionen der Griechen kritifieren und eine Anleitung
zur richtigen Benutzung der religionsgefchicht-
lichen Quellen geben will — was übrigens ein fehr
nützliches Unternehmen wäre —; vielmehr wird die
Kritik, die die Alten felbft an der überlieferten Religion
geübt haben, mag fie fich in direkter Polemik oder in
den neuen Schöpfungen theologifcher Syfteme und in
philofophifchen Spekulationen ausfprechen, dargeftellt.
Die älteren Theogonien, Vorfokratiker, die älteren Hifto-
riker und Dichter, Sophiften, Prozeffe gegen afteoi, die
Philofophie von Sokrates bis auf Plutarch, der Euheme-
rismus und die fpäteren Hiftoriker werden abgehandelt.
Über die Auswahl des Stoffes läßt fich mit dem Autor
rechten. Wer fich die Abhängigkeit der chriftlichen
Apologetik von der Kritik, die fchon die heidnifche
Philofophie, befonders die akademifche Skepfis am

Götterglauben geübt hat, klar gemacht hat, wird die Be- | machen. Das unechte Grabepigramm kommt für die

ihm S. 80 für Ifis-Demeter recht gegeben wird, Foucart
zuliebe. Die Behandlung der Sophiften als einheitliche
Gruppe ift bedenklich, noch bedenklicher die Gruppe der
Atheiften (S. 129fr.). Von einer folchen Vereinigung im
5. Jahrh. weiß ich nichts. Wir haben nur fpätere Kataloge
von ad-soi (Diels, Doxographi S. 58) verfchiedener
Zeiten, darunter auch Prodikos, Kritias und nach einigen
Protagoras. Diagoras figuriert in D.s Lifte, trotzdem
wir über die Art feines Religionsfrevels und die Berechtigung
feiner Achtung gar nichts Sicheres wiffen. Auf
Grund der apokryphen, chronologifch unmöglichen Tradition
, die ihn zum Schüler des Demokrit macht, wird
er als Philofoph angefehen. Dabei ift Wilamowitz, der
die Überlieferung richtig beurteilt hat, zitiert. Berechtigen
uns ferner Witze der Komödie und eine Tirade
des Advokaten Lyfias, dem Kinesias die Ehre anzutun,
ihn unter die ä&eoi zu zählen? Für Lyfias ift feine
Schwindfucht der Beweis. Daß erft die fpätere Tradition
den Hippon zum ad-eog macht, wird mit Recht hervorgehoben
. Er verdankt das ficher nur der Komödie des
Kratinos. Daß feine Schriften einen Anlaß dazu gaben
(S. 138), dürfen wir nach den doxographifchen Berichten
leugnen, man müßte denn auch Thaies zum Atheiften

handlung der chriftlichen Literatur als natürliche Fort- 1 Frage überhaupt nicht in Betracht; f. meine Bemerkung

fetzung der vorher dargeftellten Entwickelung wünfehen. j über löod-eog in Preufchens Zeitfchrift V S. 340 Anm. r.

Und wer fich gewöhnt hat, die religionsgefchichtliche j Alfo ift es nichts mit der atheiftifchen Geheimlehre des

Entwickelung von Alexander bis zum Untergange des | Hippon (S. 138). Sehr ausführlich ift die Behandlung der

Heidentums als einen einheitlichen Prozeß anzufehen, der j Religionsprozeffe, die S. 141 nicht glücklich durch das

wird in der auf dem Boden des heidnifchen Synkretis- I Zitat einer pfeudariftotelifchen Schrift eingeleitet wird,

mus erwachfenen chriftlichen Gnofis und im Neuplato- 1 Die Tendenzen der demokratifchen Reaktion, die die

nismus, indem die theologifche Spekulation gipfelt, ebenfo Prozeffe des Jahres 399 verftändlich machen, verdienten

wichtige Glieder diefer Entwickelung fehen, wie in ■ ebenfo Berückfichtigung wie der politifche Hintergrund

Plutarch und den Neupythagoreern. Wie zufällig im der Prozeffe des Ariftoteles und Theophraft (f. Wilamo-

Kapitel über den Euhemerismus einzelne Vertreter und witz, Antigonos S. 182. 194fr.). Auch das Gefetz der

Beifpiele herausgegriffen find, kann jedem z. B. der Vergleich
mit den wertvollen mythographifchen Artikeln
von Ed. Schwartz in Pauly-Wiffowas Encyklopädie
lehren.

Im allgemeinen zeigt fich der Verfäffer in der modernen
Literatur, auch der deutfehen, wohl belefen. Um
lo mehr wundert man fich, daß man nirgend einen Hinweis
auf E. Rohdes Pfyche findet, wohl aber deren Einfluß
öfter fchmerzlich vermißt. Sehr feltfam ift gleich
S. 1 die Behauptung der treuen Gläubigkeit der home-
rifchen Rhapfoden und ihrer Anhänglichkeit an die Tradition
. In Wahrheit bereitet die öfter an Frivolität
(Reifende Freiheit, mit der fie die Götterwelt behandeln
und die religiöfe Tradition umgeftalten oder gar tra-
veflieren, die Kritik vor, die die ionifchen Denker geübt
haben. Daß das Verftändnis der griechifchen Religion
überhaupt nicht von Homer ausgehen darf, ift dem Verf.
entgangen, der die fpäteren Traditionen wefentlich als Abweichungen
von Homer, Neuerungen, Erfindungen zu
betrachten liebt. So verfällt er auf den unglücklichen
Gedanken, die bodenftändige Poefie des Hefiod mit dem
Orient in Verbindung zu fetzen, die Greuelgeftalten, an
denen der altgriechifche Glaube reich war, und einzelne
Züge der Götter- und Titanenkämpfe mit einigen
vagen Bemerkungen von dort herzuholen. So fpielt
denn auch der Sanchuniathon des Philon von Byblos in
der Hefiod-Erklärung eine bedenkliche Rolle. Für Phere-
kydes von Syroswird phönikifche, für die orphifche Theo-
gonie indifche oder ägyptifche Einwirkung vermutet. Die
Erklärung des Widerfpruches der alten Zeugniffe über
die Zeit des Epimenides (S. 37) war in dem Auffatze
von Diels, S. A. B. 1891, S. 387 ff. zu finden. Für die
Frage, ob Xenophanes reiner Monotheift war, was D.

Staatskontrolle der Philofophenfchulen vom J. 306/5 hätte
behandelt werden follen. — Zu S. 203 bemerke ich, daß
eine Karte der platonifchen Unterwelt nach der Schilderung
des Phädon in der Tat neuerdings entworfen
ift (Archiv f. Gefch. der Phil. XVI S. 190. 191). Für die
Theologie der nachariftotelifchen Schulen habe ich aus
Philo (,Philos Schrift über die Vorfehung' Berlin 1892)
manches neue Material gewonnen. Für die Theologie
des Ariftoteles verweife ich auf den tief eindringenden
Auffatz Natorps, Philof. Monatshefte XXIV. Der Abftand
der platonifierenden und poetifierenden Jugendfchriften
von den Pragmatieen wird verkannt (S. 235. 239). Cor-
nutus' reichlich benutztes Handbüchlein (S. 261. 305 fr.)
war im Zufammenhang mit der verwandten, von Diels,
Doxographi S. 88—99 und Maaß, Aratea S. 165 — 203 be-
fprochenen Literatur zu würdigen und zu verwerten. Für
die pythagoreifche Zahlenfymbolik war Schmekel, Mittlere
Stoa S. 403 fr., zu benutzen, für den von Dionyfios Skyto-
brachion fingierten Autor Thymoites (S. 383) Bethe, Quaest.
Diodoreae.

Noch manche Bedenken ließen fich gegen einzelne
Kombinationen, gegen die Verwertung von Anekdoten
und trüben Quellen, gegen manche der meteorologifchen
Mythendeutung gemachte Konzeffionen, gegen die Breite
mancher Ausführungen erheben. Aber der Fleiß, mit dem
der Verfäffer den Stoff gefammelt und eine befonders
für ferner Stehende nützliche Überficht gefchaffen hat,
ift anzuerkennen. Ich verdanke ihm den Hinweis auf
einige mir nicht bekannte franzöfifche Arbeiten.

Kiel. Paul Wendland.