Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1904 Nr. 2

Spalte:

58-59

Autor/Hrsg.:

Bugge, Chr. A.

Titel/Untertitel:

Das Gesetz und Christus im Evangelium 1904

Rezensent:

Kattenbusch, Ferdinand

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

57

Theologifche Literaturzeitung. 1904. Nr. 2.

58

einem intelligibeln Fall die ähnlichen Erklärungen von J.
Müller, Coleridge, Schelling hervorgerufen, und noch mehr
hat Hegel auf die Theologie eingewirkt, freilich indem
er den Begriff der Sünde aufhob. Auch Schleiermacher
erklärte fie vom objektiven Standpunkt aus für nicht
vorhanden, erneuerte aber zugleich ihre Erklärung aus
der Umgebung, die dann Ritfehl konfequenter durchführte.
Nur kann auch fie noch nicht genügen, und ift daher
vielmehr von den Thatfachen der empirifchen Pfychologie
auszugehen.

Das unternimmt alfo die dritte und wichtigfte Vor-
lefung im Anfchluß an eine von Archdeacon Wilfon auf
dem Church Congress von 1896 gethane Äußerung und
die Erörterung in Pfleiderers Religionsphilofophie — in
der Anmerkung werden auch noch Ruetfchis Gefchichte
und Kritik der kirchl. Lehre von der urfprüngl. Vollkommenheit
und vom Sündenfall und Herrmanns
Ethik genannt. T. felbft zeigt zunächft, daß in der
Entwicklung der Raffe ,sin is not an Innovation, but is the
survival or misuse of habits and tendencies t/tat were in-
cidental to an earlier stage of development'; und dann,
daß fich das bei jedem einzelnen Individuum immer von
neuem wiederholt. So erklärt fich zugleich die Allgemeinheit
der Sünde, zumal, wie im guten, fo auch im böfen
jede Handlung andere nach fich zieht und zugleich auf
die Umgebung einwirkt. Ja, diefer letztere Punkt hätte
wohl noch etwas flärker betont werden können; fonft
bin ich auch hier faft durchweg mit dem Verf. einver-
flanden. Nur das Gewiffen läßt fich m. M. n. weder
in der Raffe noch beim einzelnen fo einfach erklären,
wie er will; man muß hier mindeftens eine befondere
Anlage anerkennen, die es dem Menfchen ermöglicht,
gewiffen Nötigungen vor anderen den Vorzug zu geben
und einen ganz anderen Wert, als diefen, zuzufchreiben.

In der letzten Vorlefung endlich wird die Frage
unterfucht, wie diefe Erklärung der Sünde mit dem chrift-
lichen Gottesglauben vereinbar fei. T. unterfcheidet zu
diefem Zweck die Möglichkeit und W irkli chkeit der
Sünde: nur für die erftere ift Gott, für die letztere der
Menfch verantwortlich. Er lehrt alfo die Freiheit des
Willens im metaphyfifchen Sinne und fchließt fich näher,
wie fchon vorher mehrfach (S. 61, 2. 66f.), an Lotze an;
für die Theodicee dagegen widerholt er im wefentlichen
die in Deutfchland noch nicht genügend beachtete An-
fchauung Martineaus, daß das Übel und die Sünde eine
notwendige Begleiterfcheinung der Entwicklung fei, und
erinnert zugleich, wie bei uns neuerdings Bolliger, daran,
daß wir nur ein kleines Stück derfelben überfchauen. Ich
halte auch diefe Gedanken, obwohl fie natürlich noch
weiter, als es T. möglich war, ausgeführt werden müßten,
für diejenigen, auf die es im Grunde ankommt; aber gelten
fie nicht ebenfo unter der entgegengefetzten Vorausfetzung
von der Unfreiheit des Willens? Ich kann diefe Vorausfetzung
natürlich hier nicht beweifen und möchte nur
daran erinnern, daß T., wenn er auf die angegebene Weife
die Allgemeinheit der Sünde erklären will, eigentlich
auch fchon ihre Notwendigkeit behauptet. Jedenfalls ift
in feinen Ausfuhrungen zur Theodicee nichts, was fich
nicht auch ein Determinift aneignen könnte, und ebenfo
würde in gleicher Weife ihm zu Gute kommen, was T.
zum Schluß noch zur Rechtfertigung feines ganzen Unternehmens
über die Unbedenklichkeit des Evolutionismus,
die Unhaltbarkeit des alten Schriftbeweifes und den temporären
Charakter der Theologie ausführt.

Endlich find dem Ganzen noch eine Reihe von Anmerkungen
beigegeben, die größtenteils Zitate aus andern
Werken enthalten. Auch fonft erweift fich der Verf.
als mit der Literatur über die fehr verfchiedenen Gebiete,
die er in feinen Vorlefungen betreten mußte, durchaus
vertraut. Sein Urteil ift immer ein felbftftändiges und
wohlerwogenes; um fo angenehmer berührt die vornehme
Zurückhaltung, mit der er es geltend macht. Nach der
Vorrede und einer Anzeige des Verlegers hatte er bereits

im April 1902 auch ein umfangreicheres Werk über die
Quellen der Lehre vom Fall und der Erbfünde fertig,
deffen Refultate er fchon hier mehrfach vorausfetzt; nach
den vorliegenden Vorlefungen zu urteilen dürfen wir auch
feiner Veröffentlichung mit großen Erwartungen entgegen-
fehen.1)

Bonn. Carl Clemen.

Bugge, Dr. theol. Chr. A., Das Gesetz und Christus im

Evangelium. Zur Revifion der kirchlichen Lehre ,de
lege et evangelio'. (Videnskabs-Selskabets Skrifter.
II. Hiftorisk-Filofofisk Klaffe 1903, Nr. 3.) Chriftiania
1903, J. Dybwad in Komm. (94 S. gr. 8.)

Eine intereffante, hiftorifch und dogmatifch wertvolle
Studie wird uns hier von einem norwegifchen Theologen
in deutfeher Sprache dargeboten, und ich wünfehe ihr
in Deutfchland die Beachtung, die fie verdient. Verf.
kennt die neuere deutfehe Literatur zu dem Thema, die
fich meift um die bekannten Streitigkeiten in der Reformationszeit
gruppiert hat, vollftändig und greift mit
fcharffinnigen Erörterungen in das Problem ein. Die
Arbeiten von Frank, Ritfehl, Lommatzfch, Herrmann,
Lipfius, Gottfchick u. a. bilden für ihn in Zuftimmung
und Streit den Hintergrund. Er glaubt eine Löfung der
mannigfach zur Anfchauung gebrachten Schwierigkeiten
zu finden, indem er auf einen Gedanken zurückgreift,
den er fchon in einer Abhandlung über ,Das Gefetz und
Chriftus nach der Anfchauung der älteften Chriftenge-
1 meinde', Zeitfchr. f. neuteftamentl. Wiffenfch. etc., IV,
I S. 89—110, vorgetragen hat. Wie er nämlich feftftellt',
ift es eine den meffianiftifchen Juden zur Zeit Jefu geläufige
Betrachtung gewefen, daß die Thora und der Meffias
identifch feien. Die Thora fei als Hypoftafe, als ,Perfön-
lichkeit', vorgeftellt worden und in diefer Weife mit dem
Meffias in Eins gefetzt worden. Der Meffias fei die
| Fleifchwerdung der Thora. Diefe Idee regiere zumal
auch bei Paulus und gebe deffen Theorie vom vöuoq erft
das volle Licht. Es fragt fich dabei nur, welche Anfchauung
in concreto die beftimmende ift, die Anfchauung.
die der empirifchen Thora, dem Gebot der Satzungen]
entfpricht, oder diejenige, die die Perfon Jefu, den er-
fchienenen lebendigen Meffias zum Ausgangspunkt hat.
Welcher Gedanke ift der eigentlich lichtgebende, der des
gefchriebenen Gefetzes oder der feiner perfönlichen Darfteilung
in Jefus als dem Meffias? Wird Jefus nach der
Thora gedeutet, oder die Thora nach Jefus? Im erften
Falle wird das ,Evangelium' via reduetionis zur Verarmung
gebracht, im anderen das ,Gefetz' via evolutionis
zu einer Fülle erhoben, die ihm den eigentlichen fittlichen
I Reichtum gewährt. Paulus, der Melfianift xaz hlifixnv
und der Vorkämpfer des Meffianismus Jefu hat die via
, evolutionis mit Bezug auf die Thora ganz im wirklichen
! Sinn Jefu, befchritten. Schon Juftin zeigt, wie die Kirche
auf die via reduetionis gerät. Das dogmengefchichtliche
Material vor der Reformation ift kein reiches. Dagegen
im Reformationszeitalter haben Luther, Agricola, die
Konkordienformel, den Sinn für das dogmatifche Problem
des ,Gefetzes' wieder gefchärft. Die Erörterung der verfchiedenen
Kontroverfen führt auf zuviele Subtilitäten,
als daß ich darauf hier genauer eingehen dürfte. Für
Bugge ift .Evangelium' der zu fammenfaffende Gedanke
von ,Gefetz' und .Chriftus'. Das Evangelium ftellt das
Moment der fittlichen Forderung und der Lebensverheißung
als Korrelate vor Augen. Man tut unrecht, das
erftere, das Gefetz, und das letztere, den Meffias Jefus,
wider einander zu kehren oder fich ablöfen zu laffen,
vielmehr gibt eins dem andern inneres Maß und Kraft
für den Menfchen. Manche Ausführungen Bugges find
mir in der Form zu umftändlich. Aber es gelingt ihm,

1) Nachtrag bei der Korrektur: Das Buch ift unterdeflen erfchienen
und wird demnächft hier befprochen werden.