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Ausgabe:

1904

Spalte:

49-52

Autor/Hrsg.:

Dibelius, Otto

Titel/Untertitel:

Das Vaterunser. Umrisse zu einer Geschichte des Gebets in der alten und mittleren Kirche 1904

Rezensent:

Goltz, Eduard Alexander

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49

Theologifche Literaturzeitung. 1904. Nr. 2.

Dibelius, Otto, Das Vaterunser. Umriffe zu einer Gefchichte
des Gebets in der alten und mittleren Kirche. Gießen
1903, J. Ricker. (IX, 180 S. gr. 8.) M. 4.80.

Die vorliegenden Studien zur Gefchichte des Gebetes
behandeln drei verfchiedene Themata 1. die Vorftellungen
vom Gebet in der alten griechifchen Kirche, 2. die Auf-
faffung des Vaterunfers bei griechifchen Schriftftellern,
3. das Verhältnis von Luthers Vaterunfer-Erklärung im
Kleinen Katechismus zu den althochdeutfchen Auslegungen
des 9. bis 11. Jahrhunderts. Die dritte Studie
ift zu erft entftanden und ihr wurde am 3. Auguft 1901
von der theologifchen Fakultät zu Berlin der Königliche
Preis zuerkannt. Es fei mir defshalb geftattet auch
zuerft auf diefe einzugehen.

Es war bereits bekannt, dal.l Luthers Vaterunfer-
Erklärung im Kleinen Katechismus faft wörtliche Über-
cinftimmungen aufweift, mit den althochdeutfchen Auslegungen
des 9.—11. Jahrhunderts, insbefondere mit den
Freifinger und Weil.lenburger Handfchriften fowie mit
Alkuins Disputatio pueroruni und der Auslegung des
Bruno von VVürzburg. Ebenfalls war häufig darauf hin-
gewiefen worden, dal.l fchon die Erklärungen Cyprians
und Tertullians zu den neben Bitten Formeln aufweifen,
die faft wörtlich bei Luther wiederkehren. Eine ausreichende
Erklärung diefer Beziehungen war aber noch
nicht gegeben. Dibelius weift nun in einer forgfältigen
Unterfuchung nach, dal.l die Verwandtfchaft des Luther-
fchen Katechismus mit den althochdeutfchen Auslegungen
weder auf direkter Benutzung noch auf mündlicher
Tradition beruhe, fondern auf gemeinfamer Benutzung
einer patriftifchen Tradition, die bei den afrikanifchen
Vätern ihren Anfang nimmt und dann befonders durch
Vermittlung von Auguftin das ganze Mittelalter bis zum
15. und 16. Jahrhundert beherrfcht. Der Beweis für
diefe Thefe fcheint mir durch die von Dibelius zu allen
Bitten im Wortlaut mitgeteilte Zeugenkette in einer
Weife erbracht, dal.l kein Zweifel mehr übrig bleibt.
Auch die althochdeutfchen Auslegungen der Karolingifchen
Epoche fchöpften aus diefer patriftifchen Tradition und
zwar mit einer Klarheit und Gefchicklichkeit, die wir
nur bewundern können. Wir werden dadurch erinnert
an die Benutzung der beiden Wege, die Jof. Schlecht
neulich für diefe Zeit aufgedeckt hat. Auf dem Gebiet
der Predigt, der Katechefe und der Liturgie verdienen
diefe patriftifchen Beziehungen der Karolingifchen
Epoche befondere Aufmerkfamkeit. Die Arbeit von
Dibelius liefert dazu einen neuen Beitrag und er erhöht
fein Verdienft dadurch, daß er im Anhang einige bisher
ungedruckte Vaterunfer-Erklärungen vornehmlich aus der
Berliner Bibliothek mitteilt, die dem 15. Jahrhundert angehören
. Die wichtigfte {Ms. germ. fol. 1148) geht auf
das Werk des Nicolaus von Dinkelsbühel (um 140x3) zurück
und enthält viel fchlichte und fchöne Gedanken.
Sie ift ebenfo wie die folgenden auch der Aufmerkfamkeit
der praktifchen Theologen zu empfehlen. Gewiffe
der patriftifchen Tradition entnommene Züge kehren
auch hier in Dispofition und Gedanken wieder. Das
fpezififch .Katholifche' tritt verhältnismäßig hinter evan-
gelifchen Elementen zurück. Der Raum verbietet es mir
leider hier näher darauf einzugehen.

Das Intereffe an der hier verwerteten patriftifchen
Tradition hat nun den Verfaffer zu den Vaterunfer-
Erklärungen der griechifchen Kirchenväter (wunderbarerweife
nicht zu denen Cyprians und Tertullians) —
und von da wiederum auf die Vorftellungen der griechifchen
Chriften überhaupt zurückgeführt. Diefe rückläufige
Richtung merkt man feiner Arbeit an, denn fie hat ihn
verleitet, auch die älteften chriftlichen Jahrhunderte zu
fehr in der Beleuchtung der fpäteren zu fehen. Er geht
in feinem Vorwort aus von einer Kritik meines Buches
,das Gebet in der älteften Chriftenheit', dem er den
Wert einer gefchichtlichen Unterfuchung im ftrengenSinn

abzufprechen für nötig findet. Zweifellos hat er darin
Recht, daß er fich eine Aufgabe ftellt, die ich mir vor-
erft nicht geftellt hatte — die Gebetsvorftellungen der
alten Chrilten hineinzuftellen in den Rahmen der allgemeinen
Religionsgefchichte. Ich habe das bewußter
Weife aus fubjektiven und objektiven Gründen vermieden
— ich halte auch heute trotz Bouffets (vgl. Gött. Gel.
Anz. 1903 Nr. 24) und Dibelius' Widerfpruch an der
wefentlichen Originalität des durch Jefus Chriftus ent-
ftandenen Gebetslebens feft und es war abfichtsvolle
Tendenz grade das durch den Geilt Jefu Chrifti beftimmte
Gebetsleben in feiner Entwicklung zu charakterisieren.
Ich gebe aber ruckhaltlos zu, daß vom wiffenfehaftlichen
Standpunkt aus meine Darftellung weder einheitlich noch
vollftändig genug ausgefallen ift und daß nach der
ethnifchen Seite Dibelius eine wertvolle und nötige Ergänzung
darbietet, fowie Bouffet fie mit Recht nach der
jüdifchen Seite hin fordert. D. hat fich alfo ein Verdienft
erworben mit der Unterfuchung der Frage, wie
die vulgär chriftlichen Vorftellungen vom Gebet zu den
helleniftifchen überhaupt, und wie fich die Grundanfchau-
ungen der chriftlichen Gelehrten (Clemens und Origenes)
zu denen der Philofophen des Zeitalters verhalten. Er
hat in beiden Fällen eine Menge zutreffender Beobachtungen
gemacht, die fich in meinem Buch nur angedeutet
oder garnicht fanden. Es darf der Beweis
als erbracht gelten, daß auch die Chriften, Gebildete und
Ungebildete, in ihrem religiöfen Leben abhängig waren
von religiöfen Eigentümlichkeiten ihres Zeitalters. Nicht
nur in fprachlichen oder rein formalen Dingen, fondern
auch in allerlei fachlichen Vorftellungen und Ideen
waren felbft hervorragende Perfönlichkeiten, gefchweige
denn die Geringeren, Kinder ihrer Zeit — eigentlich
eine felbftverftändliche Sache. Gewiffe Einfeitigkeiten,
Schwächen, Berechnungen und Naivitäten, die fich zu allen
Zeiten unter allen Völkern mit Gebeten zu verbinden
pflegen, find weder in der apoftolifchen Zeit noch heute
bei den Chriften ausgeblieben. Aber diefe an fich richtige
Beobachtung berechtigt nicht zu dem an fich völlig
j falfchenUrteil, daß dieVorfteilungen der g riechifch-
chriftlichen Gemeinden vom Gebet fich von
denen der griechifchen Welt nicht wefentlich
■ unterfchieden hätten (S. 18). Was den Verf. zu
! diefem Irrtum verleitet, ift einerfeits die geringe Beachtung,
die er den aus innerem religiöfem Erleben heraus ent-
ftandenen Momenten des chriftlichen Gebetslebens fchenkt.
andrerfeits feine Vorliebe, alles das was den religiöfen
Volksaberglauben charakterifiert,herauszufuchen. Letzterer
war ja zweifellos auch in den chriftlichen Gemeinden vorhanden
, aber es ift eben eine ganz falfche Vorausfetzung,
daß die vulgären Vorftellungen vom Gebet fich in den
erften vier Jahrhunderten nicht wefentlich verändert hätten
(S. 10—11 Ann). 4). Es liegt eben doch nicht nur an
dem Mangel an Quellen aus älterer Zeit, daß faft alle
die Beifpiele für abergläubifche Dinge, als da find
Wafchungen, Gebete gegen Dämonen als Zauberformel.
' Gebete beim Erdbeben und bei Sonnenaufgang fowie
! magifche Wundergebete und Zaubergebete erft dem vierten
j oder frühftens dem dritten Jahrhundert angehören. Nur Ver-
i einzeltes findet fich früher, und angefichts der zahlreichen,
: andern Erwähnungen des Gebetes in der apoftolifchen
j und nachapoftolifchen Litteratur kann nur angenommen
werden, daß der kräftige chriftliche Geift eben diefe
magifchen Elemente der Volksreligion fehr zurückgedämmt,
wenn auch gewiß nicht ganz befeitigt hatte. Dibelius
weiß in der Tat keine kirchlichen Zeugniffe der älteren
Zeit anzuführen, es fei denn die Totenauferweckungen
nach Iren. II, 48,2 (31, 2) oder die Anwendung der heiligen
Namen in exorziftifchen Gebeten nach Juftin und Origenes.
' Das häufige Vorkommen derartiger Gebete ift allerdings
auch für die ältere Zeit zuzugeben (vgl. S. 144, 271,
295, 310—II meines Buchs).

Mehr noch als Magie und Zauberei waren anthropo-