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Ausgabe:

1904 Nr. 26

Spalte:

714-716

Titel/Untertitel:

Zu Kants Gedächtnis 1904

Rezensent:

Reischle, Max

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Theologifche Literaturzeitung. 1904. Nr. 26.

7H

nicht in theoretifche Erwägungen über die Möglichkeit, Zu Kants Gedächtnis, Zwölf Feftgaben zu feinem 100jährigen

Notwendigkeit und Wirklichkeit einer übernatürlichen Todestage von O. Liebmann, W. Windelband,

Offenbarung verirrt. Von folchen Prämiffen aus mußte F. Paulfen; A. Riehl, E.Kühnemann, E.Troeltfch,

auch das Anfehen der Bibel anders begründet werden, . „ tJ „ c „ „ '

, ' . c , n a ■ äs nfo.„K^,.,„„ „„a • F- Heman, 1 Staudinger, G. Runze, B. Bauch,

als dies auf dem Boden einer die Offenbarung und die ' . & ' > »

heilige Schrift identifizierenden Theologie gefchehen ift. p- A. Schmid, E. v. After. Herausgegeben von
,Das verkündigte Wort erweift fich als irrtumslos, weil H. Vaihinger und B. Bauch. Berlin 1904, Reuther &
Gottes Wahrheit in den Wirkungen des Wortes erfahren Reichard. (V, 350 S. gr. 8.) M. 6.—
wird- Gewißheit des Gnadenftandes, Schuldfreiheit, Frieden .. ; n , ... uij'.j» l ■ w in.-
mit Gott, Kraft gegen die Welt. In demfelben Sinne wird ! Troeltsch, Prof. Dr. Ernft Das Historische in Kants Reli-
die Wirkung des verkündigten Wortes als infpiriert, als gionsphilosophie. Zugleich ein Beitrag zu den Unter-
Geifteswirkung erfahren. Diefes verkündigte Wort — i fuchungcn über Kants Philofophie der Gefchichte.
nicht nur das urkundliche, normative Schriftwort allein — (Aus: Zu Kants Gedächtnis.) Berlin 1904, Reuther &
ift Gnadenmittel' (53). Diefe Wendung von der altprote- Reichard. (VII, 134 S. gr. 8.) M. 3.-
ftantifchen Orthodoxie zur modernen, in den Bahnen der ^ J
Erlanger Schule wandelnden Theologie gibt fich auch in Das Notwendigfte bei dem Auffatz von Tröltfch ift
den Beftimmungen über den Kanon zu erkennen, die fich j die Skizierung des Gedankengangs. Denn der Verf. hat
im wefentlichen an Th. Zahns Schrift über ,die bleibende i esleiderfüretwaszuGeringeserachtet,einInhaltsverzcichnis
Bedeutung des neuteflamentlichen Kanons für die Kirche' I beizufügen; er hat das Ganze nur in vier Kapitel mit
anlehnen. Anderfeits ift Kählers Einfluß in den Aus- j Überfchriften eingeteilt. In Kap. 1 (S. 1—20) überblickt
Führungen über das Übergefchichtliche und das Gefchicht- Tröltfch die neueren Darftellungen von Kants Religions-
liche fpürbar: ,Wenn uns diefe beiden Faktoren in unferer philofophie, fodann die Auffaffungen der theologifchen
Bibelbetrachtüng auseinander zu klaffen drohen, fo wer- Kantianer und einer in freierem Sinn an Kant fich anlehnenden
wir ihre Einheit am heften in der Perfon Chrifti : den Theologengruppe, endlich die jüngften Arbeiten über
wiederfinden. Die gefchichtliche Überlieferung von der die Fntftehung von Kants Religionsphilofophie. Schon
crefchichtlichen Perfönlichkeit Jefu von Nazareth wird : diefeS erfte Kap. richtet das Augenmerk weniger auf die
verbürgt durch die Gemeinfchaft mit dem erhöhten Jefus erkenntnistheoretifch-metaphyfifche Problemgruppe oder
Chriftus, in welcher die Überzeugung von der Tatfäch- auf das Verhältnis von Glauben und'Wiffen bei Kant,
lichkeit der Perfon Chrifti als unaustilgbare Gewißheit als auf die Frage des Verhältniffes von Religion und
befchloffen liegt' (73). Daß H. ,die Partei der Werturteile' | Gefchichte. In Kap. 2 (S. 20—37) fucnt der Verf. Kants
nur oberflächlich zu kennen fcheint, dürfte aus der Genug- | Ausgangspunkt für die Beftimmung diefes Verhältniffes
tuung erhellen, mit welcher er den in derfelben allent- j feftzuftellen. Kants ganze Religionsphilofophie ift ihrem
halben anerkannten Satz Gottfchicks anführt: (Der Wert Hauptcharakter nach wefentlich erkenntnistheoretifch,

eines Gedankens, und wäre er der höchfte und unver
äußerlichfte, kann von fich aus die Wirklichkeit desfelben
nicht gewährleiften' (74).

Das dritte Kapitel (93—123) handelt von den Folgerungen
, die fich aus dem Beftande der Bibel mit feinen
Merkmalen des göttlichen und menfchlichen Faktors für
die kirchliche Praxis ergeben'. An der Spitze derfelben
nennt der Verf. ,die Bedeutung der wiffenfchaftlichen
Theologie für die praktifche kirchliche Arbeit, Predigt
und Unterricht'. Diefes Kapitel ift reich an treffenden
Bemerkungen, an wertvollen Ratfchlägen, an Winken und
Beobachtungen, denen man nur, namentlich in den Kreifen,
aus welchen und für welche der Verfaffer fchreibt, die
ernftefte Beachtung und den verdienten Erfolg wünfchen
möchte. Wo H. fich gegen eine ihm irrig fcheinende
Anficht' ablehnend verhält, ift die Auseinanderfetzung
ftets eine fachliche und der Ton maßvoll und vornehm.
Es frägt fich allerdings, ob er überall die wahre Meinung
des Gegners richtig wiedergibt, und demgemäß die Orientierung
feiner Polemik eine zutreffende und glückliche
genannt werden kann. Letzteres ift ficherlich nicht der
Fall, wenn die Ausfage ,die Perfon Chrifti ift und bleibt
der Hauptgegenftand des Evangeliums, er ift das Wort
Gottes in Perfon'(105—106) fich gegen Harnack kehren
foll. — Das Bild, welches diefe Schrift ,angehenden Theologen
und gebildeten Laien' von der theologifchen Lage
der Gegenwart zu geben geeignet ift, entfpricht fomit in
mancher Beziehung nicht ganz demjenigen, das fich in
Vieler Augen widerfpiegelt; fie wird aber nicht zu unter-
fchätzende Dienfte vor allem folchen leiften, die fich
noch unter dem Banne einer durch das fcholaftifche Herkommen
beherrfchten Theologie befinden. Hier hat H.
manch mutiges Wort gefprochen, und man kann ihm das
Zeugnis geben, daß die theologifche Aufklärung niemals
auf Koften der religiofen Vertiefung und Erbauung fich
geltend macht.

Straßburg i. E. p- Lobftein.

formal rationaliftifch und auf das Normative gerichtet;
aus diefem innerften Kern der Kantfchen Methode, nicht
aus dem behaupteten ,unhiftorifchen Sinn der Aufklärung'
flammt Kants Sprödigkeit gegen das Pfychologifche und
Hiftorifche. Aber Kant hat doch die pfychologifchen und
hiftorifchen Vermittlungen der Religion keineswegs
ignoriert. Er war fich überhaupt bewußt, daß fein Syftem.
in dem die allgemeingiltigen und notwendigen Anfchau-
ungsformen, Begriffe, Grundfätze und Vernunftideen zur
Darftellung gelangten, noch einer anthropologifchen Er-
gänzung bedürfe. Und fo ließ auch fein Intereffe für
die reinen Religionsideen Raum für die kaufalgefetzliche
Erforfchung ihres pfychologifchen Beftandes und hiftorifchen
Werdens, fowie für die umfaffende Betrachtung
der Religionsgefchichte im großen als einer fortfchrei-
tenden Verwirklichung des reinen Vernunftglaubens.
Aber ehe Tröltfch fich der Aufgabe zuwendet, die
prinzipielle Auseinanderfetzung der Kantfchen Religionsphilofophie
mit der Religionsgefchichte darzuftellen,
zeigt er in Kap. 3 (S. 37—75). daß diefe Auseinanderfetzung
in der. (Religion innerhalb' wegen ihres ,Kompromißcharakters
' nicht oder nur indirekt vollzogen ift.
Tröltfch fucht aus Kants Äußerungen zum Streit der
Fakultäten die Art der religions-philofophifchen Häupt-
fchrift, ja ihren (ganz befonderen diplomatifchen und über-
vorfichtigen Charakter' darzutun. Aber die fremdartigen,
durch die Notlage der Zeit aufgeprägten Züge laffen fich
oft unfehwer herauserkennen, fchoh an den Einführungsformeln
der betr. Partien, und fich ausfchalten. Nach
ihrer Ausfcheidung bleibt ein in feiner Weife großartiger
Verfuch, zwifchen der rein vernünftigen Theologie des
philofophifchen Syftems und einer rein kirchlich-pofitiven
Theologie die richtige Vermittlung zu finden, durch
Deutung der kirchlichen Sätze und der h. Schrift im
Sinne der moralifchen Interpretationsmethode. Kant bemüht
fich alfo in der ,Religion innerhalb' weniger um
die prinzipielle, als um eine praktifche Löfung der
Schwierigkeiten, die in dem Verhältnis der gefchichtlichen
Religion zu den reinen Vernunftideen liegen. Bei diefer
Auseinanderfetzung hat aber Kant, in einem möglichft