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Ausgabe:

1904 Nr. 2

Spalte:

46-48

Autor/Hrsg.:

Weinel, Heinrich

Titel/Untertitel:

Jesus im neunzehnten Jahrhundert 1904

Rezensent:

Holtzmann, Heinrich Julius

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Theologifche Literaturzeitung. 1904. Nr. 2.

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haggadifchen Quellen erweift (S. 90f.), daran erinnern, daß
für ihn nur die einem beftimmt abgegrenzten Zeitabfchnitt
zugehörigen Rabbinen in Betracht kommen und daß, was
auf Ehefcheidung Bezügliches aus der Schule Hilleis und
Akibas berichtet wird, mindeftens einen Barken Mangel
in der moralifche Beurteilung der Ehe verrät (S. 32). Hat
man fich fpäter in der Rechtspraxis auf die Seite
Schammais geftellt, fo gereicht dies dem Judentum ohne
Zweifel zur Ehre, beweift aber nichts gegen die gefchicht-
liche Richtigkeit des Auftrittes Mark. 10, 2-12 und der
dafelbft vorausgefetzten laxeren Praxis. Ebenfo liegt die
Sache auf den meiften anderen Punkten des Kampffeldes
von der Gotteslehre an bis zur Eschatologie und den
jüdifchen Zukunftshoffnungen, über deren nationale Gebundenheit
beide Gelehrte verfchiedener Anficht find.
,Auch hier verlangt mein Gegner natürlich von mir, daß
ich das fpätere jüdifche Quellenmaterial vollftändig behandle
, obwohl doch gerade an diefem Punkte nach dem
Zufammenbruch des jüdifchen Volks im fpateren Judentum
der Mifchna und des Talmud ein Änderung der
Grundftimmung eintreten mußte, hier alfo die fpateren
Quellen unmöglich maßgebend fein können' (B. S. 41).

Man hat zuweilen den Eindruck, als ließe fich der
ganze Handel über Wert oder Minderwert der pharifäifchen
Ethik darauf zurückführen, daß dem einen als Ausnahme
erfcheint, was für den Andern Regel ift, und umgekehrt
(P. S. 64). Nach Bouffet ,blitzt hier und da eine hellere
Erkenntnis' bei den Rabbinen auf ( Religion des Judentums
S. 117), und nach Perles (S. 40) ,blitzt bei ihm (Bouffet)
bisweilen auch ein überrafchend richtiges und zutreffendes
Urteil auf. Handelt es fich demgemäß beiderfeits nicht
feiten um Gefchmacksurteil wider Gefchmacksurteil, fo
kann ich meinerfeits nicht umhin, auch mein Gefchmacks

tag Abend bete, ein Mitarbeiter Gottes am Schöpfungswerk
werde fiS. 107).

Man wird es verliehen, wenn ich alle diefe nur bei-
fpielsweife angeführte Gelehrfamkeit für ebenfo fragwürdig,
was Gefchmack, als für irrelevant, was die Wertung von
Bouffets Darftellung des Judentums zur Zeit Jefu betrifft,
halten muß. Bei kälterem Blut hätte Perles dies und fo-
gar manches andere für fich behalten. Aber er kann,
wie es allerdings fcheint, ,gar nicht mehr ruhig und ohne
Nervofität lefen' (B. S. 71); ,überall wittert er einen Angriff
, ein Zeugnis gegen das Judentum' (S. 13, vgl. S. 45).
Befonders erpicht zeigt er fich, in der Abwechslung von
großem und kleinem Druck bösartige Abrichten zu entdecken
(S. 39. 127, vgl. B. S. 17. 43).

Sieht man von folchen mehr pathologifch zu nehmenden
Seiten feiner Kundgebung ab, fo wird man ihr um
fo gerechter werden im Hinblick auf ein zweifellos reiches
Maß von Wiffen, das fie bietet auf einem Gebiete, das uns
chriftlichen Theologen aus den oben angeführten Urfachen
nur fchwer zugänglich ift. Auch ich bekenne mich gern
zur Dankbarkeit für mancherlei Belehrung im einzelnen
verpflichtet. Wie Bouffet felbft mehrfach und mit Fug
und Recht tatfächliche Berechtigungen anerkennt, die er
der Kritik von Perles verdankt, fo habe ich meinerfeits
an dem chriftlichen Buch über der Lektüre des jüdifchen
mancherlei Korrekturen vollzogen oder wenigftens Fragezeichen
angebracht. Aber mein Urteil über den Tatbeftand
im ganzen und großen ift dadurch nirgends alteriert worden.

Zum Schluße ergreife ich die Gelegenheit, um auf
einen gleichzeitigen parallelen Vorgang in England aufmerk-
fam zu machen, wo im ,Hibbert Journal' zuerft Montefiore
ganz ähnliche Vorwürfe, wie fie bei Perles vorkommen,
gegen Menzies (, The earlicst gospel' 1901), aber auch gegen

urteil abzugeben, und zwar dahin, daß ein nicht geringer I Schürer und mich erhoben hat, dann aber von dem chrift
Teil der von P. zu Gunften und Ehren der talmudifchen j liehen Landsmann rechtzeitig an eine frühere Veröffent-
Ethik aufgetürmten Beweisftellen faft durchweg recht 1 lichung erinnert wird, darin faft diefelben Urteile über den
monoton nach dem Schema einer hyperbolifchen Phrafeo- ' pharifäifchen Satzungsdruck gefällt waren, wie die, welche
logie formuliert find. 1 jetzt an uns tadelnswert befunden werden. Beifpielsweife

,Wer fich nur mit dem Thoraftudium befchäftigt, gleicht ! finde ich jetzt zu dem, was ich nach und mit Andern über
einem, der gar keinen Gott hat' (S. 109). ,Wer keine 1 die Tendenz des Pharifäismus, das ganze Volksleben mit
Schamhaftigkeit befitzt, von dem ift es ficher, daß feine | einem recht fchwer laftenden priefterlichen Heiligenfchein
Väter nicht am Sinai geftanden haben'(S. 89). ,Wer fich I zu umgeben, gefagt habe (Neut. Theologie I, S. 31), das Vorder
Pflicht der Wohlthätigkeit entzieht, ift wie ein Götzen- , bild in Montefiores Hibbert Lectures von 1893, wo das

diener (S. 82). Jeder Schriftgelehrte, deffen Äußeres nicht
feinem Innern gleicht, ift kein Schriftgelehrter' (S. 75). Man
wird das fo wenig ernfthaft nehmen, als wenn der Tierquälerei
mit dem Verbot entgegengetreten wird, felbft
etwas zu effen, bevor das Vieh fein Teil erhalten hat
(S. 88: .eine einzige befonders intereflante Vorfchrift'). Ich

Idealderpharifäifchen Ethik mit ganz ähnlichenÄusdrücken
befchrieben wird (S. 475).

Straßburg i. E. H. Holtzmann.

Weinel, Heinrich, Jesus im neunzehnten Jahrhundert.

weife auf folche Uberfhegenheiten nur hin, weil Bouffets t«KJ«<m« irv~»-> t f~ n m^u- it c q
Gegenfchrift daran vorübergeht, nachdem Wellhaufen und Tubingen 1903, J. C. B. Mohr. (V, 316 S. gr. 8.)

Harnack, die darob zurecht gewiefen werden (P. S. 62), den
Punkt berührt hatten. Es lautet imponierend, wenn P.
feinem Gegner vorrückt, daß er vom jüdifchen Gebet zu
fprechen wage, ohne den talmudifchen Begriff der Andacht
(Cavanali) zu kennen (S. ioif.). Aber nicht bloß muß er
felbft diefen Begriff als talmudifch gegen Steinthal's Leugnung
ficher ftellen, fondern er gewinnt den Inhalt des

M. 3.—, geb. M. 4.—

Das Buch bedeutet mehr als nur Ausführung gelegentlich
in Solingen gehaltener Vorträge, über deren Erfolg
die gleichzeitige Veröffentlichung ,Die Nichtkirchlichen
und die freie Theologie' Bericht erftattet. Nur diefer
feiner nächften Veranlaffung nach gehört es in die Tagesliteratur
. Seinem Inhalte nach überragt es das Niveau

Begriffes auch erft aus einer langen Stelle des Maimonides ; derfelben weit und ift als ein gewichtiger und höchft
(12. Jahrhundert), darin die Beter im Intereffe der Andacht I dankenswerter Beitrag zu der um Leben, Lehre und
angewiefen werden, von einer Reife zurückgekehrt erft drei j Charakterbild Jefu bemühten Forfchung der Gegenwart
Tage fich zu erholen, bevor fie beten, vor jedem Gebet zu betrachten. Klar gedacht und tief empfunden, was
fich ein wenig hinzufetzen und nach dem Gebet noch | die Sache, anfehaulich und ftimmungsvoll gefchrieben

ein wenig fitzen zu bleiben, der alten Frommen eingedenk,
welche fo jedesmal ein Stunde lang taten, aber dazwifchen
auch ein ganze Stunde lang beteten u. f. w. (S. 102). Als
Gegengewicht zu diefer nach der Uhr reglementierten Art
von Andacht werden dann wieder andere Sprüche ebenfo
weifer Männer angeführt, wie ,Eine unaufhörlich betende
Jungfrau gehört zu den Dingen, die die Welt zu Grunde

was die Form anlangt, eignet es fich um der edeln
Popularität und packenden, ja hinreißenden Kraft der
Sprache willen zugleich, ähnlich wie die verwandten Veröffentlichungen
von P.W.Schmidt, E. von Schrenck,R.Otto
und H. Grimm, vorzüglich zur Einführung gebildeter und
religiös angeregter Laien in die Probleme, die fich hier auftun
, in die Verwickelungen und Entwickelungen, die fie

richten' (S. 103 f.). Den Sabbatgedanken aber foll ,am j durchlaufen haben, in den reichen Ertrag, den fie'für eine
tiefften erfaßt und am prägnanteften ausgedrückt haben' pofitive Würdigung der Leiftung fchon abgeworfen haben,
Rabbi Hamnuna mit der Verficherung, daß wer am Frei- | wobei das gefchulte Gewiffen des Hiftorikers nicht minder