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Ausgabe:

1904 Nr. 24

Spalte:

653-655

Autor/Hrsg.:

Rademacher, Arnold

Titel/Untertitel:

Die übernatürliche Lebensordnung 1904

Rezensent:

Holtzmann, Heinrich Julius

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Theologifche Literaturzeitung. 1904. Nr. 24.

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Urteil zu begründen, daß der vorgefchlagene Schematismus
nicht leiftet, was man von einer guten Stoffeinteilung
erwarten darf.

Im übrigen kommt der Stoff in folgender Reihenfolge
zur Behandlung: zunächft die Parabeln von den Ge-
heimniffen des Reiches Gottes, d. h. die Mt. 13 =Mk. 4 vorliegenden
Stücke, begleitet von einer zumeift gegen J.
Weiß gerichteten Abhandlung über den Begriff des Reiches
Gottes (,nach feinem innerften Wefen fubjektiv, innerlich,
geiftig', ,in den reinen und fchönen Herzen'). Es folgen ,die
fpäteren Reichs-Parabeln bei Mt.', endlich ,die Individual-
Parabeln bei Lk.'. Ein Nachwort erklärt den ,Efcha-
tologismus' der jüngeren Theologen weltDeutfchlands kurzweg
,fur eine epidemifche Krankheit'. Referent fieht in
folchem Urteil das Extrem einer auf einzelnen Punkten
berechtigten Reaktion.

Straßburg i. E. H. Holtzmann.

Rademacher, Rep. Dr. theol. Arnold, Die übernatürliche

Lebensordnung nach der paulinifchen und johanneifchen
Theologie. Eine dogmatifch-biblifche Studie. (Straßburger
theologifcheStudien. Herausgegeben von Albert
Ehrhard und Eugen Müller. Sechfter Band. Erftes
und zweites Heft.) Freiburg i. B. 1903, Herder. (VIII,
256 S. gr. 8.) M. 5.—

Das Buch ift erfchienen mit dem Imprimatur des Erz-
bifchofs von Freiburg. Verf. ift Dr. theol. und Repetent
am Collcgium Albcrtinum in Bonn. Dem Titel nach ver-
fpricht es einen Beitrag zur paulinifchen und johanneifchen
Theologie; dem Inhalt nach kann es nur als eine Mufter-
leiftung jener neueften Richtung gelten, die nach den
Weifungen Leos XIII. ganz in die Bahnen des heiligen
Thomas zurücklenkt und wie die theologifche Terminologie
, fo auch die Gefetze des Denkens und die Formen
des Urteils von ihm bezieht. Ein Buch, das, bei aller
modern-gelehrten Ausftattung, fo gut mittelalterlich katho-
lifch wäre wie diefes, ift mir kaum jemals begegnet. Neulich
hat es Harnack (Reden und Auflätze II, S. 321) als
eine Errungenfchaft der Reformation gepriefen, daß uns die
Religion nicht mehr als eine Zugabe zum Leben, fondern
als die Sphäre unferes Lebens felbft erfcheint und fo das
einft Supernaturale zu einem Stetigen, ja Natürlichen geworden
ift. Man kann die Tendenz des vorliegenden
Werkes kaum verftändlicher zum Ausdruck bringen, als
im ftrikteften Widerfpruch zu einem folchen Urteil. Zur
Kennzeichung zunächft feines erkenntnistheoretifchen,
philofophifchen und theologifchen Standpunktes, zugleich
auch feiner fprachlichen Eigenfchaften und technifchen
Ausdrucksmittel mag folgender Satz dienen: ,Soll der
menfchliche und überhaupt ein gefchaffener Intellekt die
göttliche Wefenheit fchauen, dann muß nach dem Ausdruck
des hl. Thomas diefe Wefenheit felbft für ihn
Erkenntnisform werden', und zwar ,fo, daß fie dem Geifte
eine übernatürliche Fähigkeit oder Anlage mitteilt, vermöge
deren er die göttliche Wefenheit fchauen kann und
die feine ganze Potentialität ausfüllt, eine übernatürliche
Fähigkeit, weil die Erkenntnis des fubfiftenten Seins dem
göttlichen Intellekt allein natürlich ift. Diefe Fähigkeit
oder Anlage (dispositio) ift das Glorienlicht' (S. 248 f.).
Demgemäß bemüht fich die Einleitung, den metaphyfifchen
Begriff des Übernatürlichen im abfoluten Sinne, d. h. im
Unterfchied nicht bloß vom Natürlichen, fondern auch
vom Außernatürlichen oder relativ Übernatürlichen felt-
zuftellen. In den Bereich des letztern fällt jede Vollkommenheit
, ,die zwar von der menfchlichen Natur als
eine Kompofition zweier fubftantialer Faktoren nicht
notwendig gefordert wird, aber doch innerhalb der erreichbaren
Möglichkeit diefes Wefens liegt' (S. 19f.). Das wäre
alfo nach unferem Begriffe das Wefen der ausgereiften,
ihrer Naturfeite mächtigen Perfönlichkeit. Aber Verbuche,
an denen es auch im katholifchen Lager nicht gefehlt

hat, den Begriff des Übernatürlichen der Linie der Er-
fahrbarkeit zu nähern, werden durchweg abgelehnt (vgl.
gegen Kuhn S. 6f. 26f. 219, gegen Hirfcher S. 46. 25if).
Das Ziel des Menfchen ift ,fubftantiell übernatürlich'
(S. 28. 236). Im Gefolge der Gnade als dem habitus
infusus derScholaftik(S. 138) geht volle,Übernatur' (S. 23J,
,naturhafte Ähnlichkeit mit Gott' (S. 88), (fakramentale)
,Eingießung des übernatürlichen göttlichen Lebens in die
Natur' (S. 56), und was letzterer allein noch zugeftanden
werden kann, ift ,nur eine obedientale Anlage' (S. 35. 119.
135). Weiter bringt fie es nicht, ,nicht bloß wegen der
Begrenztheit der Intenfität ihrer Kraft, fondern wegen
der ontologifchen Befchränktheit ihrer Extenfität' (S. 138).

Die weitere Behandlung, die das vollkommen intranfi-
gent formulierte Thema findet, erftreckt fich auf folgende
Punkte: 1) Geburt und Wiedergeburt, 2) Gnade und Rechtfertigung
, 3) Teilnahme an der göttlichen Natur, 4) Gottes-
kindfchaft und Erbrecht auf die göttlichen Güter, 5) das
übernatürliche Leben, 6) die übernatürlichen Lebenskräfte
und Lebensakte, 7) Lebensgemeinfchaft mit der Gottheit
und den einzelnen Perfonen der Trinität, 8) Lebensgemeinfchaft
der Kinder Gottes untereinander, 9) Vollendung
des übernatürlichen Lebens. Sofern diefe Abhandlungen
der paulinifchen und johanneifchen Lehre gelten
follen, läßt fich nur fagen, daß fchon die erwähnten Über-
fchriften allerdings wenigftens teilweife der biblifchen Terminologie
entfprechen, und weiter, daß aus der ganzen
paulinifchen und johanneifchen Literatur kaum ein Satz
oder ein Ausdruck, der fich mit dem Ideengang des Verfs
auch nur entfernte!! berührt, unbeachtet geblieben ift.
Aber nicht etwa ift es eine exegetifche und hiftorifch-
kritifche Behandlung in der Weife unferer ,biblifchen
Theologie', was hier geboten wird(Zufammenftellungen von
Wortbedeutungen wie S. 66f. über yjtoic, ändern daran
nichts), fondern die Stellen werden einfach in die Mafchen
des thomiftifchen Netzes, deffen fich der Verf. bedient,
als dicta probantia eingeflochten (Hauptftellen find natürlich
1 .Kor. 25—16 35.6, vgl. S. 143. 149Ü), zwar meift in
guter Überfetzung aus dem Grundtext (doch S. 225 portale
1 Kor. 6m nach Vulgata), aber doch ohne daß paulinifches
oder johanneifches Sondergut in feinem Rechte belaffen
würde. Beifpielsweife wird die paulinifche Rechtfertigung
einfach mit der johanneifchen Wiedergebut zufammenge-
legt (S. 70f.). Die Kategorien, mit welchen gearbeitet wird,
find nicht etwa dem Gedankenkreis der biblifchen Schrift-
fteller oder auch nur des zeitgenöffifchen Judentums oder
der helleniftfchen Myftik, fondern einfach der mittelalterlichen
und neukathohfchen Scholaftik entnommen. Es wird
operiert nicht bloß mit Prinzip, Subftanz, Appropriation,
Potenz, Akt, fondern auch m't gloria objcctiva und formalis,
debitum und meritum, causa efficiens, formalis und finalis,
gratia actualis und liabitualis, hinten rationis und fidei,
endlich auch lumen gloriae. So kommt es zu Definitionen,
wie S. 21 ,Die Vereinigung der göttlichen und der menfchlichen
Natur durch die Gnade ift zwar keine phyfifche im
eigentlichen Sinne wie in der Trinität, noch eine hypofta-
tifche wie in Chriftus, noch auch ift fie eine fubftantielle
wie diejenige von Seele und Leib im Menfchen, fondern
fie ift ein moralifche, akzidentelle', nach S. 89 freilich ,weder
eine fubftantielle noch eine moralifche, fondern eine
phyfifch akzidentelle'. Das leere Wortgeklingel ift alfo
nicht einmal immer auf die gleiche Tonart geftimmt. Als
beweiskräftige Zeugen werden neben der abfoluten Norm
der Summa tlteologiae auch Väter wie Auguftinus und
Konzilien, voran iridcntinum und Vaticanum, angerufen.
Außerdem wird uns eine große Anzahl neuerer Theologen
als Mitarbeiter am gleichen Werk der Ergründung und
Zurechtlegung der übernatürlichen Lebensordnung vor-
geftellt. "Von Proteftanten wird außer gelegentlicher Beziehung
auf W. Grimms Lexikon (S. 105) nur Cremer
mehrfach der Ehre einer Erwähnung gewürdigt, natürlich
befonders in der Polemik gegen justitia forensis (S. 75 f.).
Das ganze Werk liefert einen, dem Rezenfenten felbft