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Ausgabe:

1904 Nr. 23

Spalte:

643-644

Autor/Hrsg.:

Grotenfelt, Arvid

Titel/Untertitel:

Die Wertschätzung in der Geschichte 1904

Rezensent:

Troeltsch, Ernst

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Seite 1

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Theologifche Literaturzeitung. 1904. Nr. 23.

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ftanzgedanke tief und unablösbar verankert. Wem das feine
Metaphyfik nicht zeigt, dem muß das feine Ethik mit dem
Umfchlag aus der harmonifchen Selbftbetätigung in die
Myftik der Gottesliebe und feine Theologie mit ihrer unzweifelhaften
Subftanzialifierung der Monade durch ihre
Hingabe an Gott lehren. Von der Theologie aus betrachtet,
würde Leibnizens Lehre geradezu umgekehrt als Einfchrän-
kungoderUmgeftaltung des Gottesglaubens und derGottes-
gemeinfchaft durch die neue univerfalgefetzliche und idea-
liftifche Weltbetrachtung erfcheinen. (Vgl. meine Arbeit
,Leibniz und der Proteftantismus' im ,Proteftantismus der
Gegenwart' und H. Hoffmann, Die Leibnizifche Religions-
philofophie in ihrer gefchichtlichen Stellung 1903). Und
eine Betrachtung Leibnizens von der Gefchichte der
Theologie aus ift hiftorifch ebenfo berechtigt, als eine
folche von der Gefchichte der Logik und Erkenntnistheorie
aus. Caffirers Buch ift im Grunde mehr fyftematifch
als hiftorifch gedacht. Er kämpft für den Marburger
abfoluten erkenntnistheoretifchen oder transfzendentalen
Rationalismus und verwendet Leibniz als Zeugen hierfür.
So find die Bedenken dagegen auch vorwiegend Bedenken
gegen diefen Rationalismus. Der Menfch begreife allerdings
zunächft nur fein Denken und die gefetzliche Rationalisierung
der Natur durch Größengleichungen. Das
ift die Bafis des Rationalismus im modernen Denken,
und durch die Erfetzung der Kategorien des Seins mit
denen des Werdens ift diefer moderne Rationalismus ficher
fehr viel leistungsfähiger geworden. Aber das Irrationale
der vom Bewußtfein unabhängigen und doch auf es bezogenen
Subftanz, d. h. vor allem des Gottesbegriffes und
des fremden Bewußtfeins, und das Irrationale des vielmaligen
Individuellen und der vielmaligen Neu-Entftehung
fcheinen mir für jedes prinzipielle Denken doch eine viel
größere Bedeutung zu haben und haben fie auch bei Leibniz
gehabt, der freilich in feinem Prinzip der Kontinuität
die Rationalifierung fovveit wie möglich getrieben hat.
Ob er fie mit Recht foweit getrieben hat, ob er die Rationalifierung
der Natur durch die Unendlichkeitsrechnung
mit Recht auf das Pfychifche übertragen hat, ob das Individuelle
überhaupt von hieraus als rationalifiert betrachtet
werden darf, das ift mir mehr als fraglich. Daß er fie
nicht foweit getrieben hat, als Caffirer fie ihn treiben
läßt, das möchte ich für ficher anfehen.

Heidelberg. Troeltfch.

Grotenfelt, Doz. Dr. Arvid, Die Wertschätzung in der Geschichte
. Eine kritifche Unterfuchung. Leipzig 1903,
Veit & Comp. (VII, 277 S. gr. 8.) M. 6.—

Das vorliegende Buch ift ein Sammel- und Klärungsbecken
für die lebhaften Unterfuchungen, welche die
letzte Zeit aus fehr dringenden Gründen dem Problem
der Gefchichte, und das heißt den verfchiedenen Problemen
des Wefens der Gefchichtswiffenfchaft, der Methode
der empirifchen Gefchichtsforfchung und der
Endbegriffe der Gefchichtsphilofophie, gewidmet hat.
Es ift mit großer Sachkunde, eingehender Berückfichtigung
der deutfehen, franzöfifchen und englifchen Literatur und
bem erkenswerter philofophifcher Befonnenheit gefchrie-
ben- Die Komplikation des Problems liegt darin, daß
die empirifche Gefchichtsfchreibung in der Ausarbeitung
einer fachmäßigen Technik der Urkundenbehandlung und
im Verkehr mit dem hiftorifchen Objekt eine relativ fefte
Methode und Erkenntnisbedeutung errungen hat, daß aber
andererfeits in diefer Methode doch eine Reihe gefchichts-
philofophifcher Vorausfetzungen liegt, die in ihrer Bedeutunggewürdigt
werden müffen und,inihreKonfequenzen
verfolgt, ein Gebiet felbftändiger, auf die empirifche Gefchichtsfchreibung
zurückwirkender Probleme hervorbringen
. Dadurch aber hängt die Gefchichtsfchreibung
letztlich mit den wichtigften Fragen der Weltanfchauung
zufammen. Die Komplikation wird nun noch größer
dadurch, daß bei der prinzipiellen Hiftorifierung des

modernen Denkens die Gewinnung der Weltanfchauung
felbft wieder von dem Überblick über die Univerfalhiftorie
und einer Bewältigung derfelben durch begriffliche
Gliederungen abhängig geworden ift. Das Problem des
Verhältniffes der normativen Werte, nach denen wir die
Auswahl und Gliederung des hiftorifchen Stoffes treffen,
zu der Hiftorie, aus deren Befchauung und Durchdenkung
wir doch erft die anerzogenen Wertideen endgültig aus-
geftalten, ift ein unausweichliches Zirkelverhältnis, aus
dem ein Ausweg gefunden werden muß. Je klarer man
fich aber das gemacht hat, um fo begreiflicher wird der
Wunfeh, eine von allen Wertungen freie naturwiffen-
fchaftliche oder gefetzeswiffenfehaftliche Behandlung der
Gefchichte herzuftellen, mit welchem Wunfche fich dann
alle materialiftifchen und rationaliftifchen Denkgewohnheiten
des modernen Menfchen, fowie die verführerifchen
Impulfe einer gefetzeswiffenfehaftlichen Pfychologie verbinden
. Ift aber diefer Wunfeh zur Herrfchaft über das
hiftorifche Denken gelangt, fo ift feine Rückwirkung auf
die empirifche Gefchichtsfchreibung eine überaus tiefgreifende
. Dann müffen die Wege von Condorcet, Buckle
und Comte eingefchlagen werden; die Gefchichtswiffenfchaft
wird zur Soziologie und, wenn diefe erft gefetzes-
wiffenfchaftlich ausgebaut fein wird, dann wird nicht bloß
die politifche Gefchichte in die Wiffenfchaft von den
Gefetzen der Gefellfchaft aufgefogen, fondern dann werden
Kunft, Religion, Moral und Recht ebenfalls zu gefetzmäßig
erfaßbaren fozialen Funktionen, die fich fämt-
lich aus der Kombination pfychologifcher Grundelemente
und der Wechfelwirkung mit der Umwelt erklären und
in denen der Hiftoriker keine geheimnisvolle, irrationale
und in ihrer individuellen Buntheit unüberfehbare produktive
Kraft mehr zu verehren braucht.

Alle diefe Probleme find von Grotenfelt gefchildert,
wenn auch vielleicht nicht ganz mit der nötigen Schärfe
in der Sonderung der verfchiedenen Fragen. Er fteht
im ganzen auf dem Standpunkt der fog. alten hiftorifchen
Schule und erkennt damit auch deren Vorausfetzungen
in der damit verbundenen Weltanfchauung an.
Die begrifflichen Mittel, mit denen das gefchieht, find
in der Hauptfache die von Rickert entwickelten, ohne
daß aber Grotenfelt damit fich die philofophifch-meta-
phyfifchen Vorausfetzungen der Rickertfehen Methodologie
beftimmt aneignete und ohne daß er Rickert in
der Ausfchließlichkeit des Gegenfatzes zwifchen gefetzes-
wiffenfchaftlicher und idiographifcher Methode folgte.
Der Verfaffer ift Eklektiker und fucht die alte Schule
mit der neuen zu verföhnen, indem er die foziologifche
Hiftorie einerfeits und die den Stoff nach Wertgefichts-
punkten auswählende idiographifche Hiftorie andererfeits
zur Ergänzung nebeneinander Hellt. Damit ift aber auch
eine gewiffe Unklarheit in den Weltanfchauungsfragen
verbunden. Grotenfelts Verföhnung ift etwas anderes als
Rickerts logifch gemifchte, relativ hiftorifche oder relativ
gefetzeswiffenfehaftliche Disziplinen; fie ift ein
1 Kompromiß des prinzipiellen Rationalismus und des
ebenfo prinzipiellen Antirationalismus. Der erfte kennt nur
gefetzmäßige Kombinationen gegebener Elemente und
keine irrationale Neuproduktion; der letztere kennt fie
in der Vergangenheit und betätigt fie in der Verwertung
der Vergangenheit zur Bildung neuer Zukunftsideen. Hier
ift in Wahrheit ein Kompromiß nicht möglich, fondern
nur ein Entweder-Oder. Weil aber Grotenfelt das Problem
nicht mit diefer Schärfe geftellt hat, ift fein Buch
auch mehr ein fehr lehrreiches Kompendium der in Betracht
kommenden Lehren und Begriffe, fowie ein praktifch-
möglicher Ausweg bei Umgehung der letzten Prinzipienfragen
, als ein eigentlicher Fortfehritt in der Behandlung
der Probleme felbft. Übrigens foll ein weiterer Band
folgen, der fich mit diefen Fragen noch genauer be-
fchäftigen foll. Erft dann wird ein endgültiges Urteil
über den durch ihn gebrachten Gewinn möglich fein.
Heidelberg. _ Troeltfch.