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Ausgabe:

1904 Nr. 23

Spalte:

639-643

Autor/Hrsg.:

Cassirer, Ernst

Titel/Untertitel:

Leibnitz' System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen 1904

Rezensent:

Troeltsch, Ernst

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Theologifche Literaturzeitung. 1904. Nr. 23.

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nicht gefchmälert werden, daß man auch dem neuen
Herausgeber für die geleiftete Arbeit dankbar ift. Solcher
Dank gebürt ihm auch für die forgfältige Nacharbeit
betreffs der Nachweife der biblifchen Fundftellen. Nicht
Weniges ift auch hier berichtigt.

Angefichts diefer zweifellofen Verdienfte von Kl.s
Ausgabe muß das abfällige Urteil, welches Neftle über
diefelbe in der Berliner philol. Wochenfchrift 1904 Nr. 37
(10. Sept.) gefällt hat, als fehr befremdlich bezeichnet
werden. Neftle geht auf die Hauptfache, nämlich die
Textgeftaltung, fo gut wie gar nicht ein. Über das Verhältnis
des neuen Textes zu demjenigen Lagardes erfährt
man aus feiner Befprechung fchlechterdings nichts. Das
abfällige Urteil gründet fich lediglich auf Nebenpunkte,
nämlich abgefehen von ein paar Einzelheiten hauptfächlich
auf folgende zwei. 1) In der Einleitung erwähnt Kl.
S. XI folgende Stelle Prokops: rrjv de MaoobC ovx svqi-

ÖXOflEV,

ovx ev ralq xlrjoovxiaiq,

ovx ev ralq 'Eßoatxalq eQ/inveiaiq

ovx ev rät jieqI rojtixmv ovofiarojv.

Da die erfte und dritte der hier von Prokop zitierten
Schriften ficher Werke des Eufebius find, fo hält Kl. auch
die mittlere für ein eufebianifches Werk und identifiziert

V_i 1_ 1141 L11V.1 V, IUI CUlV.OlQllll'-ilCO V » V_ 1 IV U11U lucuuiifi-i i. _ , — ,

es mit einer von Eufebius im Vorwort zum Onomaftikon ! leine fcntltenung.

ift ja auch der Grund, weshalb wir bis jetzt weder eine
einheitliche, noch auch nur eine vollftändige Publikation
der Leibnizifchen Arbeiten befitzen. Der an einer originellen
Neugeftaltung der Mathematik fich belebende
Geift Leibnizifchen Denkens ift dem Philofophen und
Theologen meift von diefer Seite aus nicht zugänglich;
fo haben Herausgeber und Darfteller fich in die mathe-
matifche und philofophifche Gruppe gefpalten, und ift
der in Hannover liegende Nachlaß bei dem Mangel eines
beide Gruppen beherrfchenden Forfchers nur kümmerlich
verwertet worden. Auch die Darftellungen haben darunter
fehr gelitten. Es gibt, foviel ich mich erinnere,
keine Darftellung, in der Leibnizens Philofophie aus einem
Zentralprinzip verftändlich und ihr gefchichtlicher Zu-
fammenhang nach vorwärts und rückwärts durchfichtig
würde. Diefen Mängeln durch eine Ausgabe der Werke
und Nachläffe Abhilfe zu fchaffen ift augenblicklich die
Berliner Akademie im Begriffe, die neben der Kant-Ausgabe
auch eine Leibniz-Ausgabe plant, um damit den
beiden beherrfchenden Geiftern des deutfchen prinzipiellen
Denkens ein Denkmal zu fetzen und eine vertiefte Wirkung
zu ermöglichen. Einem Preisausfehreiben diefer
Akademie, das eine Darftellung der Leibnizifchen Gefamt-
auffaffung forderte, verdankt auch das vorliegende Buch

erwähnten Arbeit. Dem gegenüber weift Neftle darauf
hin, daß Prokop an andern Stellen die uns auch fonft
bekannte anonyme EQfirjveia rmv <Eßqalxcdv ovofiazcov
henutze, die ficher nicht ein Werk des Eufebius war (vgl.
über diefe von Manchen dem Philo oder Origenes zu-
gefchriebene Arbeit meine Gefch. des jüd. Volkes IIP
S. S40f.). Diefe fei auch an der fraglichen Stelle Prokops
gemeint. Ich halte es für wahrfcheinlich, daß Neftle hier
Recht hat. Aber was beweift das für den Wert von
Kloftermanns Ausgabe des Onomaftikon? 2) Sehr fcharf
rügt Neftle auch die Nicht-Erwähnung einer Berliner Hand-
fchrift des Onomaftikon (Phillips 1424). Sie fcheint Kl. in
der Tat entgangen zu fein. Da fie aber erft im 17. Jahrhundert
(!!) angefertigt ift und nach Neftles eigener Annahme
direkt oder indirekt ebenfalls auf den Vaticanns
zurückgeht, fo ift ihre Nichtberückfichtigung felbftverftänd-
lich ganz gleichgiltig. Es ift daher fchwer verftändlich,

Das Buch entflammt, wie fofort zu erkennen ift, der
Marburger Schule des Neukantianismus und geht mit
diefer von der Vorausfetzung aus, daß der erkenntnis-
theoretifch-logifche Idealismus die eigentliche Philofophie,
der Transfcendentalismus oder erfahrungsimmanente Rationalismus
den eigentlichen Idealismus und der kantifche
Kritizismus mit feiner Reduktion aller Erkenntniffe auf
die forgfältig gefchiedenen logifchen Gefetze der Er-
fahrungsgeftaltung und mit feinem endgültigen Verzicht
auf jedes metaphyfifch-dingliche Sein den eigentlichen
Transfcendentalismus bildet. So wird der Idealismus, wo
er irgend hervortritt, auf feine Stellung zu diefer Prob-
lemfaffung geprüft. So hat Natorp den Ausgangspunkt
des antiken Idealismus, die Eleaten und Piaton, fowie
die Ausgangspunkte des modernen Denkens, Galilei und
Descartes, verftanden. So hat Cohen die Kantifche Philofophie
als das endgültig erreichte und einzig kanonifche

wie Neftle Ihre Nichtberückfichtigung dem Herausgeber Syftem der Philofophie gefchildert, weil es nicht von

als erhebliche Unterlaffungs-Sünde anrechnen kann dem unmöglichen Syftem der Dinge, fondern von dem

b Syftem der gefetzhehen Erfahrungsgeftaltung durch die

Göttingen. E. Schürer. rationale Notwendigkeit des Bewußtfeins ausging. So

Cassirer, Dr. Ernft, Leibniz' System in feinen wiffenfehaft-
lichen Grundlagen. Marburg 1902, N. G. Elwert. (XIV,
548 S. gr. 8.) M. 9 —

Um das vorliegende, außerordentlich tüchtige und
lehrreiche Werk nach Verdienft und mit voller Sachkunde
zu würdigen, bedürfte es einer fehr viel eingehenderen
naturwiffenfehaftlich-mathematifchen Bildung, vor allem
auch eingehenderer Kenntniffe von der Gefchichte der
Mathematik und Phyfik, als der Verfaffer diefer Anzeige
fie befitzt. Allein folche Kenntniffe werden für theologifche
und philofophifche Beurteiler überhaupt nicht

allzu häufig fein, und das Buch erleichtert durch Klarheit | ihren Gefetzen durch ein Syftem fynthetifcher Urteile a

wird nun auch von Caffirer Leibniz gefchildert als der
Logiker und Erkenntnistheoretiker, der fich von der antiken
und fcholaftifchen Logik endgültig und prinzipiell
ablöft und aus der engen Berührung mit den moderne»
Fachwiffenfchaften, aus der Auseinanderfetzung mit Galilei,
dem Geometer und Mathematiker Descartes, Huyghens
und Newton die Prinzipien einer neuen Logik und Erkenntnistheorie
hervorbringt. Erft aus Logik und Erkenntnistheorie
geht die Monade oder dieMetaphyfik Leibnizens
hervor, welche als Begriff des Bewußtfeins und feiner
Gefetze den Zielbegriff aller Erkenntnistheorie bildet und
die Vorftufe der ,transfcendentalen Apperception' Kants
darfteilt. Die Monade oder das Bewußtfein bringt nach

und Präzifion, durch immer neue Formulierung der Be- i priori die Erfahrungswelt als wiffenfehaftlich geficherte
deutung des mathematifch-phyfikalifchen Denkens für | Realität hervor. Dabei ift es Leibnizens Fortfehritt, durch
Leibnizens Philofophie, die Orientierung wenigftens über j die höhere Analyfis jeden Reft einer dinglichen ausge-
die prinzipielle Frage, fodaß ein Urteil immerhin wenig- j dehnten Materialität aufgehoben und diefe felbft als ein
ftens gewagt werden darf. Nicht minder bedürfte es einer , Erzeugnis des Bewußtfeins im Urteil erwiefen zu haben,
fehr viel eingehenderen Kenntnis der Leibnizifchen Ori- Damit ift der in Descartes' idealiftifch-rationaliftifcher
ginalfchriften in ihrem Gefamtumfang und in ihrem inneren Erkenntnistheorie verbliebene Reft dinglicher, vom BeVerhältnis
, als fie mir zur Verfügung fleht. Allein auch j wußtfein abzubildender Realität befeitigt und die Realität
hier ift die Kenntnis gerade in dem von Caffirer vei- j in ihrer Einerleiheit mit dem Begriff gefetzlicher Größen-
langten Sinne fehr feiten und gibt der Verfaffer felbft beftimmung als Schöpfung des Bewußtfeins erwiefen.
durch die den Abfchluß bildende Skizze des literarifchen Vollendet wird diefe rein bewußtfeins-immanente Logik
Entwickelungsganges Leibnizens die Mittel zu einer j durch die Entdeckung des Differentials und der Infiniterelativen
Überficht an die Hand. Gerade diefer Umftand j fimalrechnung; nunmehr wird auch die Bewegung als