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Ausgabe:

1904 Nr. 23

Spalte:

634-635

Autor/Hrsg.:

Dobschütz, Ernst von

Titel/Untertitel:

Probleme des apostolischen Zeitalters 1904

Rezensent:

Holtzmann, Heinrich Julius

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Theologifche Literaturzeitung. 1904. Nr. 23.

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Ich behaupte nicht, daß die Annahme einer jüdifchen
vorchriftlichen gnoftifchen Bewegung eine Unmöglichkeit
fei. Im Gegenteil, manches icheint auch mir auf diefe
Annahme hinzudrängen. Aber was Fr. über diefe
jüdifche Gnofis vorträgt, das find leere und geftaltlofe
Fhantafiegebilde.

Auf der andern Seite hat F. auch feine andere
Thefe, daß unter den Minim niemals Judenchriften oder
Chriften zu verliehen feien, nicht überall erhärten können.
Geradezu verzweifelt fleht es hier um Fr.s Beurteilung
der bekannten Gefchichte von dem Zufammentreffen des
(Minäers) Jakob von Kephar Sechanja mit dem Rabbi
Kliezer ben Hyrkanos. Hier ift nämlich in der alten,
mehrfach wiederkehrenden Überlieferung (Aboda Sara 16b
= Tofephta Chullin II 24; wahrfcheinlich ift doch auch
der ">3lb& Koh. Rabba I 9 fo zu deuten) jener Minäer
Jakob ausdrücklich als Schüler Jefu bezeichnet. Fr., der
in feinem erften Werk den Text einfach nach einer durch
die Zenfur hindurch gegangenen Bearbeitung gegeben
hatte und von mehreren Seiten deshalb angegriffen war,
erklärt, daß er mit Bewußtfein fo zitiert habe. Gerade
jene der Zenfur zum Opfer gefallenen Stellen feien
ihrerfeits wieder fpätere Interpolationen im Text der
talmudifchen Überlieferung!! Diefe erftaunliche Behauptung
fucht F. mit der Erwägung zu ftützen, daß die
rabbinifche Überlieferung in fo früher Zeit (die des
Eliezer Hyrkanos um 100 n. Chr.) noch gar nichts von
Jefus gewußt habe. Zum Beweis weift er auf das Still-
fchweigen der jüdifchen Literatur des erften Jahrhunderts
über Jefus hin und darauf, daß Jefus einmal im Talmud
fälfchlich fogar zum Schüler des Jofua ben Perachja
gemacht werde. Das find doch recht fadenfcheinige
Gründe, mit denen jener Verzweiflungsakt der einfachen
Befeitigung einer mehrfach bezeugten Überlieferung nicht
gerechtfertigt werden kann. Wenn Fr. noch darauf hinweift
, daß in der betreffenden Tofephta-Stelle Jefus der
Sohn desPanthera genannt werde, und diefe Überlieferung
fo früh nicht angenommen werden könne, fo ift er den
Beweis für diefe Thefe fchuldig geblieben, und überdies
könnte ja in diefer Angabe (ben Panthera) allerdings ein
Zufatz der Tofephta vorliegen. — Diefer Jakob aus Kephar
Sephanja kehrt aber nun mehrfach als Minäer in der
talmudifchen Überlieferung wieder; zu wiederholten
Malen wird alfo hier ein Jünger Jefu unter die Minim
gerechnet. Im übrigen möchte ich trotz Friedländers
Ausführungen (S. 27 fr.) dennoch bei der Meinung bleiben,
daß, wenn R. Nehemia davon redet, daß im Zeitalter des
nahenden Mcffias das Weltreich fich zu ,Minuthl bekehren
werde, hier doch bereits eine Anfpielung auf die
chriftliche Weltmiffion vorliege.

Im letzten Teil feines Buches fucht nun Fr. nach-
zuweifen, daß die Figur des Antichrift in der jüdifchen
und antichriftlichen Apokalyptik nichts anderes bedeute,
als diefe felbe jüdifche häretifche Gnofis. Vor dem
Kommen des Meffias erwartete man eine allgemeine
Herrfchaft der minäifchen Ketzerei und fah die Anfänge
diefer Herrfchaft bereits in der Gegenwart. Ein Körnchen
Wahrheit ift auch in diefer Darlegung enthalten. Die
Weisfagung von Irrlehren und Ketzereien am Ende der
Tage und die Anwendung der Antichriftidee auf die
Irrlehre — man vergleiche die Johannesbriefe — ift
wahrfcheinlich ein gemeinfamer Zug der jüdifchen und
der chriftlichen Apokalyptik. Aber hier nun die Erklärung
für die ganze Antichriftidee finden zu wollen,
ift wieder eine ungeheuere Übertreibung. So find die
Ausführungen FVs über Beliar in Abfchnitt VII recht
oberflächlich geraten. Beffer und teilweife brauchbar ift
das was F. über die Herkunft des Antichrift aus Dan,
über das Signum serpenttnutn und namentlich über
die Tephillm in Abfchnitt IX bringt. Ganz phantaftifch
ift wieder der letzte Abfchnitt über die Minäer in Galiläa
und namentlich in Kapernaum.

Nachtrag. Ich verweife zum Schluß auf das vortreffliche
Buch von R. Travers Herford; Christianity in
Talmud andMidrash, London 1903. Hier findet man in
bequemer Zufammenftellung eine außerordentlich brauchbare
Zufammenftellung des Materials. Friedländers Anflehten
werden fcharf abgewiefen. Doch bezieht der
Verfaffer die Minim nun wieder gar zu einfeitig auf
Judenchriften.

Göttingen. Bouffet.

Dobschütz, Emft von, Probleme des Apostolischen Zeitalters
. Fünf Vorträge, in Hannover im Oktober 1903
gehalten. Leipzig 1904, J. C. Hinrichs'fche Buchhandlung
. (IV, 138 S. gr. 8.) M. 2.70; geb. M. 3.60

I. Die Entftehung der Urgcmeinde. — 2. Judenchriuentum und
Judentum. — 3. Heidenchriftcntum und Heidentum. — 4. Juden-
chriftentum und Heidenchriüentum. — 5. Urchriftentum und Katholizismus
.

,Wir Neuteftamentler' fagt der Verf. (S. 133), und er
hat ein volles Recht dazu. Die hier veröffentlichten, im
Herbft 1903 bei einem theologifchen Ferienkurs zu Hannover
gehaltenen Vorträge, ftellen ihn in den Vordergrund
des betreffenden theologifchen Lagers. Teilweife
können fie als eine Ergänzung der vorangegangenen
Schrift über ,Die urchriftlichen Gemeinden' (1902) betrachtet
werden. Freilich gehen fie weit über den Inhalt
derfelben hinaus, indem fie einen auf folider Sachkenntnis
beruhenden, von gereiftem Urteil zeugenden
Überblick über den gegenwärtigen Stand der Forfchung
bieten, überall begleitet von Rückblicken auf die Sach-

I läge, wie fie vor einem Menfchenalter oder vor einem

I halben Jahrhundert und darüber geftaltet war. WirÄlteren,
denen eine fo weit zurückreichende Erinnerung zu Ge-

j böte fteht, kennen uns heute kaum felbft noch. Abt r

! auch dem viel jüngeren Verf. fteht ein ganz richtiges
Gefühl der Diftanz zu Gebote, wo es fich um den vom
heutigen verfchiedenen Gefichtswinkel der Vergangenheit
, und ein beachtenswertes Urteil, wo es fich um Auf-

! gaben der Zukunft handelt. Belehrend find in diefer
Richtung gleich die einleitenden Bemerkungen über den
Quellenwert der Apoftelgefchichte, wo die ältere, mit
Overbeck abfchließende Epoche der Kritik von einer

j weniger mißtrauifchen Betrachtung, wie fie Harnack,
Jülicher, Wendt vertreten, abgelöft erfcheint. Speziell
unfer Verf. meint, die Glaubwürdigkeit des Buches fei
hauptfächlich durch eine falfche chronologifche Anordnung
in Mißkredit gebracht worden (S. 5, vgl. S. 58 f.,
86), während die in folchem fchlecht paffenden Rahmen
erfcheinenden Einzelbilder (vgl. z.B. S.46 Einfetzung der

1 Presbyter betreffend) alle Beachtung verdienen. Freilich
fchlicßt ein folcher Gefichtswinkel nicht aus, daß im
Pfingftbericht zwar nicht zwei Quellen, wohl aber zwei
verfchiedene Darftellungsfchichten gemifcht erfcheinen
(S. 20 f., ganz wie gleichzeitig auch Baijon, Commen-
taar op de Handelingen der Apostelen 1903, S. 17), daß 517 f.
nur eine Dublette zu 41 f. bildet, und die ganze Darftel-

j lung von Verfolgungen ausfchließlich fadduzäifchen Ur-
fprungs falfch ift (S. 28 f.), daß die Frage nach der Aus-
fcheidung der chriftlichen Genoffenfchaften aus dem Synagogenverband
nicht von der Apoftelgefchichte aus zu
beantworten ift (S. 35), daß das echte Bild der urchriftlichen
Brüderlichkeit und Armenfürforge zu einem kommu-
niftifchen Idealbild umgezeichnet erfcheint (S. 39 f., wie
Baijon S. 33 f.), daß der aus der Apoftelgefchichte re-
fultierende Eindruck von der Einzigartigkeit des Paulus
als Heidenapoftel (S. 57) fo einfeitig ift, wie ihre fche-
matifierende Darfteilung von der erft durch Ablehnung
des Evangeliums feitens der Synagoge motivierten Hei-

! denmiffion (S. 62 f.), daß der Nimbus der Urgemeinde

| in diefem Buch über das gefchichtliche Maß hinaus ge-
fteigert ift (S. 86). Aber nicht bloß auf diefen Punkten
fchlägt die alte Kritik, auch in ihrer neuen, ermäßigten

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