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Ausgabe:

1904 Nr. 22

Spalte:

617-618

Autor/Hrsg.:

Liebe, Reinhard

Titel/Untertitel:

Fechners Metaphysik 1904

Rezensent:

Elsenhans, Theodor

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Theologifche Literaturzeitung. 1904. Nr. 22.

618

mit ihr jede aufvergleichende Gefchichtsphilofophiebegrün- I
dete Theologie. Auch Reifchle fcheint mir ohne Fort- !
gang zu diefem Gedanken fein Ziel nicht erreichen zu
können. Dann aber flehen wir wieder wie im 18. Jahrhundert
beim Streit um das Wunder, und alles kann
wieder von vorne beginnen.

Heidelberg. Troeltfch.

Liebe, Dr. Reinhard, Fechners Metaphysik. Im Umriß dar-
geftellt und beurteilt. Leipzig 1903, Dieterichfche
Verlagsbuchh. (VI, 89 S. gr. 8.) M. 2.40

Fechner ift zweifellos eine der eigenartigften und
intereffanteften Perfönlichkeiten der neueren Gefchichte
der Wiffenfchaften. Zwei fcheinbar unvereinbare Gegen-
fätze finden fich in ihm zufamrnen, der dichterifch, ja
phantaflifch veranlagte Denker, der die eigenen feelifchen
Erlebniffe in die Dinge hineinfchaut, und der exakte
Forfcher, der darauf ausgeht, alles Erkennbare unter Zahl
und Maß zu bringen. So wird er einerfeits zum Schöpfer
einer Allbefeelungslehre, andererfeits zum Begründer derjenigen
Disziplin, die auch das Geiftige, das fcheinbar
Unmeßbare zu meffen unternimmt, der experimentellen
Pfychologie.

Der Verfaffer vorliegender Schrift flellt fich die
dankenswerte Aufgabe, Fechners Metaphyfik im Zu-
fammenhang mit feiner Perfönlichkeit zu behandeln. Er
gibt zunächft in einem erden Abfchnitt eine Dardellung
der metaphyfifchen Grundgedanken Fechners.
Den charakteridifchen Anfang bildet das Paradoxon, mit
dem Fechner feine eigentlich philofophifche Schrift-
dellerei beginnt: ,Der Menfch lebt auf der Erde nicht
einmal, fondern dreimal' (S. 7). Weit vor die Geburt
reichen die Wurzeln des menfchlichen Dafeins: das id
fein erdes Leben; und weit über den Tod hinaus führen
die Fäden feiner Exidenz: das id fein drittes Leben
auf der Erde. Nur ein zweites Leben id das, was
dazwifchenliegt und gemeinhin als ,menfchliches Leben' 1
bezeichnet wird. Diefes dreifache Leben id ein ganz
einheitlicher, in fich gefchloffener, fortlaufender Prozeß,
und diefe Auffaffung desfelben geht unmittelbar hervor
aus Fechners naturwiffenfchaftlicher Grundüberzeugung,
daß eine große allgemeine Gefetzmäßigkeit die ganze
Welt vom toten Stein bis zum lebendigen Tier und bis
zu den Regungen der Menfchenfeele durchzieht, und daß
in der Welt alles mit allem aufs engde verknüpft id.
Gegenüber der ,Nachtanficht', welche die gefamte Natur
in zahllofe kleine Teile ,zerdückelt' und ,zerfplittert',
dellt fich der /Tagesanficht' die Welt als ein lebendiges
Ganze dar, als ein großes, taufendgedaltiges Wechfel-
fpiel aller ihrer Teile. Bei all diefem Wechfel aber beobachten
wir doch in uns felbd ein einheitliches, fich
gleichbleibendes Wefen, das niemand als fich felbd er-
fcheint, und deffen Vorhandenfein in anderen wir nur
aus den körperlichen Sydemen erfchließen, die dem
unfrigen nach diefer oder jener Beziehung ähnlich find
(S. 9). Erinnern wir uns aber daran, daß weder Menfch
noch Tier, bei denen wir diefen Schluß zu vollziehen
pflegen, ein abgefchloffenes Ganze der Natur gegenüber
find und daß es im Zufammenhange der Natur überhaupt
keine Grenzen und feden Stufen gibt, fo wird klar,
daß wir diefen Schluß viel weiter ausdehnen und bei
allen Gebilden der Natur vollziehen müffen. Wenn
wir außerdem bedenken, daß noch nie jemand eine fichere
Grenzlinie zwifchen Pdanzen- und Tierreich ziehen konnte,
wer gibt uns ein Recht, die Seele, die wir im Tier vermuten
, der Pflanze abzufprechen? ,Warum foll es zu den
Seelen, die da laufen, fchreien und freffen, nicht auch
Seelen geben, die (tili blühen?' Oder fieht etwa ,ein
Regenwurm uns feelenvoller an als ein Vergißmeinnicht?'
(S. 10). Und wie die Pflanzen, fo hat auch jedes andere
Gebilde der Natur Anfpruch auf eine Seele, in gewiffem
Sinne auch der Stein. Insbefondere aber bildet die

Materie unferer Erde ein folches von einem Geifte einheitlich
zufammengefaßtes, durch ein Wirken von Kräften
und durchgreifende Zweckbeziehungen innerlich verknüpftes
Ganze, das anderen ähnlichen, obwohl auch
wieder individuell davon verfchiedenen Ganzen, nämlich
anderen Weltkörpern, im Welträume ähnlich gegenüberfleht
, wie unfer Leib auf der Erde felbft anderen ähnlichen
und doch individuell davon verfchiedenen Leibern.
So find alle Planeten desfelben Sonnenfyftems ,wie Ge-
fchwifter zu einander, aber nur wie Vettern zu den Planeten
eines anderen Sonnenfyftems zu betrachten, und
nur die ganzen Sonnenfyfteme wieder wie Gefchwiffer in
einer oberen Sphäre zu einander' (S. 12). So flößen wir,
je weiter wir fchauen und denken, auf immer größere,
umfaffendere Organismen, die in einem Geifte immer
einheitlich zufammengefaßt werden und zuletzt ift es ein
höchfter Geift, der die Gefamtheit alles Seienden umfaßt
und ,alles in allem' ift, Gott.

Der zweite Abfchnitt enthält die Beurteilung der
Metaphyfik Fech ners und ift befonders wertvoll durch
die Art, wie Fechners Perfönlichkeit als Grundlage
der Beurteilung in den Vordergrund tritt. Eine außerordentliche
Lebhaftigkeit des Gefühls verband fich bei
ihm mit einer ungemein lebendigen Anfchauung, ohne,
wie bei Goethe, der ihm in diefer Beziehung verwandt
erfcheint, zur Harmonie zu gelangen. Jene unruhige
Seite feines Wefens hatte den Hauptanteil an jener, fchon
in feiner Studentenzeit beginnenden Periode krankhafter
Unficherheit und Ziellofigkeit feines inneren Lebens, die
unter anderem durch das Studium von Okens Natur-
philofophie noch gefteigert wurde. Als er dann, um fich
zu ruhiger Geiftesarbeit zu zwingen, einen Vertrag mit
der nüchternen Wiffenfchaft fchloß, lexikographifche und
Überfetzungsarbeiten übernahm, fich mit chemifchen und
elektrifchen Verflachen befchäftigte, war die Sehkraft
feiner Augen bald fo angegriffen, daß fie ihm ganz verloren
zu gehen drohte und er auf Jahre hinaus fich zur
Untätigkeit verurteilt fah. Den hierdurch entftandenen
Rückfall überwand er nur mit der größten Geduld und
Selbffüberwindung, wozu wohl auch die Vertiefung und
Befeftigung feiner religiöfen Stellung nicht unwefentlich
beitrug. Als er dann wieder mit offenen Augen in die
Welt hineinfchauen konnte, erlangte er endlich eine
innere Sicherheit und Harmonie, die ihn nicht wieder
verließen. Aber die Grundlinien feiner Weltanfchauung
find ihm in diefem erfahrungsreichen Kampfe erwachten.
Mit dem Gegenfatz jener Faktoren hängt auch zufamrnen
der Widerfpruch zwifchen Fechners Atomiftik als einer
Lehre von abfolut leblofen, unbefeelten Körperchen im
Räume und feine Anfchauung von dem lebendigen
und unauflöslichen Zufammenhang aller Erfcheinungen,
zwifchem dem Begriffspaar ,Ich und Außenwelt', das im
Verhältnis des Gegenfatzes fleht, und dem andern: Seele
und Körper, das als im letzten Grunde identifch gefetzt
wird. Der letztere Widerfpruch verrät fich auch in dem
Schwanken zwifchen der perfönlichen Unfterblichkeit und
dem Weiterleben großer Geifter in ihren Wirkungen, fowie
in der Gottesidee, die zuerft eine Wendung vom Pantheismus
zum perfönlichen Gott und dann eine Ver-
fchmelzung des Theismus mit den pantheiftifchen Zügen
feiner Religion aufweift (S. 746.).

In der Konftruktion einzelner Gedankengänge Fechners
aus dem Motiv, Widerfprüche feines Syftems zu
überbrücken, ift der Verf. (z. B. S. 80 in der Erklärung
der Lehre von den Pflanzen- undSternenfeelen) doch wohl
etwas zu weit gegangen. Die verdienltvolle Schrift
welche liebevolles Verftändnis mit befonnener Kritik wohl'
zu vereinigen weiß, fchließt mit dem Ausblick auf eine
Metaphyfik, welche, ohne die nicht befriedigenden Re-
fultate feines Denkens zuteilen, den Weg Fechners gehen
foll, der vom eigenen feelifchen Erleben aus zu metaphyfifchen
Erkenntniffen führt.

Heidelberg. _ Th. Elfenhans.