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Ausgabe:

1904 Nr. 2

Spalte:

36-38

Autor/Hrsg.:

Duhm, Bernard

Titel/Untertitel:

Das Buch Jeremia 1904

Rezensent:

Bertholet, Alfred

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Theologifche Literaturzeitung. 1904. Nr. 2.

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hängt zufammen mit einem prinzipiellen Unterfchied der
Auffaffung Baumanns. Er meint, als ,ein fchriftftelleri-
fches, nicht ein rhetorifches Ganzes fei der Redekomplex
von vornherein entflanden' (S. 65). Diefen Satz
möchte ich nicht unterfchreiben, wenn ich auch keineswegs
der Meinung bin, es müßten die Reden genau das
gefprochene Wort wiedergeben. Diefe Differenz ift aber
grdfs genug, daß ich der Mehrzahl der von Baumann vorgenommenen
Umftellungen und Verfetzungen fkeptifch
gegenüberftehe. Gänzlich ungerechtfertigt fcheint mir
die Trennung von 613 und u und die enge Verbindung
von 613 mit 12» (,Ausruf des felbftvertrauenden Trotzes'!
S. 18). Warum ferner muß 6121. durchaus .Dublette' zu
57 fein (S. 19. 50), fo daß die Frage aufgeworfen wird,
ob 6 u. 12b oder 5 7. 10—12 den urfprünglichen Text darfteile
(S. 19, — Baumann entfcheidet fich für die erfte
Möglichkeit), als ob nicht beides nebeneinander, jedes
an feiner Stelle, Raum hätte!

Vorfichtiger und zugleich methodifcher als fein Vorgänger
Lohr ift Baumann in der Behandlung der me-
thodifchen Frage zu Werk gegangen. Hier hat er fich
von Sievers in befonnene Bahnen weifen laffen. Er
konftatiert mehr als daß er konftruiert: Die Metrik hat
für ihn .nicht als konftitutiver, aber fehr wol als regulativer
Faktor' (S. 9) Bedeutung. Auch fo, und darum
vielleicht erft recht durfte er fich zum Ziele fetzen, ,der
metrifchen Kritik des A. T. anregend und wohl auch
fördernd zu dienen' (S. VIII), und daß ihm dies bis auf
einen gewiffen Grad gelungen ift, foll bereitwillig anerkannt
werden. Seine Schrift beweift aufs Neue, daß die
metrifchen Probleme im Buche Arnos nicht einfach über-
fehen werden dürfen, daß von ihrer Aufhellung vielmehr
allen Textalterationen zum Trotz für die Textkritik
(fpeziell die ,höhere', vgl. S. 9) noch einiges zu erwarten
fleht. Immerhin erweckt es Vertrauen, daß Baumann
dem .metrifch-textkritifchen' Teil einen .literarkritifchen'
vorausfchickt, in welchem er .Schritt für Schritt vom
Offenkundigen über das Wahrfcheinliche zum blos Mög- j
liehen vorgehend', die allgemeinen Gedankengruppen und j
die logifche Gedankengliederung und -Entwickelung nach
dem Gefichtspunkt der Analogie' feftftellt (S. 10).

In die ,niedrige' Textkritik (ich folge dem Sprachgebrauch
von S. 9) hat Baumann kaum einzugreifen gewagt.
Für verfehlt halte ich es, wenn er 72 das Perfectum
consecutivum belaffen und 7 4 bsfclTl lefen will. S. 50 Anm.
lobt er Riedel's Konjektur der verzweifelten Stelle 6 10
(1. hier übrigens Z. 2 von unten n^fcffl ft. rlBldJ»!; fonft
ift mir der Druckfehler mT» ft. nVra auf der unterften
Zeile von S. 46 aufgefallen). Ich wäre meinerfeits geneigt
in 610 zu konjizieren: IBDS "H 1~lStt?3"i: und übrig
bleiben fo viel, als dazu hinreichen, die Gebeine
aus dem Haufe zu fchaffen. In V. b ftreicht Bau-
man nach Giefebrechts Vorgang OBS? TEitl als Dublette,
wie ich glaube, mit Recht. Aber die Hauptfchwierigkeit
der zweiten Vershälfte ift damit noch nicht gehoben.
Sie liegt, wie Baumann überhaupt richtig gefühlt hat,
in rTfrp 003; aber feine Vermutung, STlrp habe ein ur-
fprüngliches im Sinne von i. Sam. 2813 flehendes Dörths?
erfetzt, ift doch wohl unhaltbar. Ich fchlage vor, einfaches
zu lefen. Der Angerufene gibt dem Rufer zurück:
Still, man foll meinen Namen nicht nennen: Er
fürchtet fich in fo gefährlicher Lage angerufen zu werden;
denn durch die Anrufung werden die böfen Geifter, die an
folchem Orte fpuken, auf die Anwefenheit des Menfchen
aufmerkfam und gewinnen Macht über ihn, fobald fie
feinen Namen erfahren. Den mafforetifchen Text denke
ich mir dadurch entflanden, daß ein Abfchreiber im 1 die
bekannte Abkürzung des Gottesnamens fah.

Bafel. Alfred Bertholet.

Duhm, Prof. D. Bernhard, Das Buch Jeremia. Ueberfetzt von
D. (Die poetifchen und prophetifchen Bücher des
Alten Teftaments. Ueberfetzungen in den Versmaßen
der Urfchrift. III.) Tübingen 1903, J. C. B. Mohr.
(XXXIV, 153 S. gr. 8.) M. 2.— ; geb. M. 2.80

Duhm's Arbeit am Buche Jeremia gleicht der, zu der
fich dem Volke gegenüber der Prophet felber berufen
fühlte: es ift die Arbeit des .Metallfcheiders', der gefetzt
ift, ,goldkundig zu forfchen' (6, 27). Das Refultat diefer
Forfchung ift hier freilich wefentlich verfchieden vom
dortigen: der literarifche Prüfer findet echtes Gold,
wenig zwar, aber noch nie vielleicht ift fein .Feingehalt'
fo überzeugend nachgewiefen worden wie durch den
vorliegenden glänzenden Verfuch einer Scheidung, wo
das unbedingt wertvolle Gut in feinen vollen Gegenfatz
zu minder wertvollem geftellt erfcheint. Es ift keine
Frage, das Buch Jeremia enthält beiderlei neben- und
ineinander. Duhms Prüfung ift die radikalfte, der es
bisher unterzogen worden ift. Sie hat das Problem diefer
Inkongruenz als folches im Grunde erft in feiner ganzen
Schärfe hervortreten laffen, und es bedurfte fchon einer
Kongenialität wie der feinen, um es in diefem Umfange
zu erkennen. Ob dabei der Gegenfatz nicht überfpannt
worden ift, ob Jeremia wirklich nur zum Autor des
,3biTi3 "lpj! (15, uV) geftempelt werden darf, wie Duhm uns
glaubhaft machen will, darüber mag man freilich ver-
fchiedener Anficht fein. Und daß direktes jeremianifches
Gut nur noch das fein foll, was zugleich das beftimmte
Metrum (die einfache vierzeilige Strophe mit abwechfelnd
3 und 2 Hebungen) aufweift, ift vielleicht wieder nicht
dazu angetan, die auffteigenden Zweifel niederzufchlagen.

Aus dem, was Duhm Jeremia beläßt, fpricht, möchte
man fagen, mehr der Dichter als der Prophet zu uns:
das ift jedenfalls der Eindruck, der fich aus der Über-
fetzune; ergibt, und er trifft wohl mit Duhms eigener
Auffaffung im Wefentlichen zufammen: Jeremia ift eine
mehr lyrifche Natur und würde vermutlich auch dann
Gedichte gefchrieben haben, wenn er kein Prophet ge-
wefen wäre' (S. XXI). ,Auch feine Sprache ift echt lyrifch

.....So ift diefer befcheidene, fchlichte, zarte, faft

fchüchterne Menfch, der mit keinem Gedanken nach dem
Lorbeer des Poeten verlangte, der Prophet, der fein Volk
retten wollte, der Seher, den feine Gefichte unglücklich
machten, einer der größten Dichter feines Volkes geworden
' (S. XXIV). Wer, zumal in der vorliegenden
Überfetzung, die Verfe lieft, auf die Duhm diefes Urteil
gründet, wird ihm unbedingt zuftimmen. Aber wenn fich
in ihnen Jeremias Verkündigung an das Volk im Wefentlichen
erfchöpft haben follte, dann dürfte wohl mancher
Veranlaffung haben, an feiner bisherigen Auffaffung von
des Propheten öffentlichem Auftreten eine gewiffe
Korrektur anzubringen: Jeremia erfchiene darnach viel
weniger als der Redner (vgl. S. XXI, XXIII), wie man
ihn fich nach der Art feiner prophetifchen Vorgänger
vorzuftellen geneigt fein möchte, denn als der Rezitator,
der ,in bald eintönig feierlichem, bald wildbewegtem Ge-
fange die furchtbaren Gefichte vorträgt, die ihn feit
langem verfolgen' (Kommentar S. 211). .Feierliche Rezitation
' (1. c.) fetzt eine fchon in fertige Form gebrachte
Kompofition voraus. Ich weiß nicht, ob damit Jeremias
ganzer Verkündigungsweife nicht mehr diterarifcher'
Charakter aufgeprägt wird, als fich damit verträgt, daß
er ,noch ein Prophet alten Stiles' war, der ,die mündliche
Tätigkeit für die Hauptfache anfah' (vgl. S. 296 des
Kommentares).

Aber wie man hier immer über ein mehr oder minder
denken möge, gerade die mit fo viel Unerbittlichkeit
durchgeführte Befchränkung jeremianifchen Gutes auf
ca. 60 meift fehr kurze Gedichte, die auch äußerlich durch
den Druck (altdeutfche Lettern in punktiertem Rahmen)
aufs markantefte gegen ihre Umgebung abgehoben werden
, gibt einen vollen Eindruck von der einfamen Größe