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Ausgabe:

1904

Spalte:

541-543

Autor/Hrsg.:

Stange, Carl (Hrsg.)

Titel/Untertitel:

Luther’s älteste ethische Disputation 1904

Rezensent:

Köhler, Walther

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Theologifche Literaturzeitung. 1904. Nr. 19.

542

Gut beobachtet ift, daß Luther das Glauben magis passio
quam actio fein läßt, — ein Beweis, daß er dasfelbe als
perfönliche Kraft nicht recht zu werten vermochte.

Gießen. Köhler.

Luther's älteste ethische Disputationen. Herausgegeben
von Prof. D. Carl Stange. (Qucllenfchriften zur
Gefchichte des Proteftantismus. Zum Gebrauch in
akademifchen Übungen, in Verbindung mit anderen
Fachgenoffen herausgegeben von Proff. Jon. Kunze
und C.Stange. Erltes Heft.) Leipzig 1904, A. Deichert-
fche Verlagsbuchh. Nachf. (XV, 74 S. gr. 8). M. 1.60

Ein neues Unternehmen: ,Quellenfchriften zur Gefchichte
des Proteftantismus' wird mit vorliegendem
Hefte eröffnet; die Profefforen Kunze und Stange find
die Herausgeber. Es follen in Analogie zur Krügerfchen
Cjuellenfammlung, die mit zwei Ausnahmen nur Stücke
aus der alten K.-G. brachte, Werke, die ,für die Gefchichte
des Proteftantismus klaffifch find' (f. den Profpekt), dargeboten
werden. Das Programm zeigt einftweilen nur
Werke aus der Reformationszeit; außer den vorliegenden
Luther-Disputationen Melanclitlioniana dogmatica, Andreas
Ofiander: von dem einigen Mittler Jefu Chrifto, der
HeidelbergerKatechismus,Luthers^j^rz'ö«^^rf(?,Luthers
Vorreden zum N. T. Als Bearbeiter werden außer den
beiden Herausgebern genannt: Kirn, Kropatfcheck, Lang,
Seeberg, Haulileiter, Wiegand, Lütgert — alfo der Kreis,
der fich um das ,Theologifche Literaturblatt' fchart.
Wir begrüßen das Unternehmen, das in der Tat eine
Lücke ausfüllt, mit großer Freude und fprechen nur die
Hoffnung aus, es möchte der Begriff ,Proteftantismus'
nicht zu eng gefaßt werden im Sinne: proteftantifche
Orthodoxie; wir halten es für dringend notwendig, auch
die Schwarmgeifter und Täufer hier zu Worte kommen
zu laffen, eventuell auch einmal einen katholifchen Dog-
matiker oder kirchliche Erlaffe u. dgl.

Von der Krügerfchen Sammlung weicht die neue
infofern ab, als fie zum Text ,einen kurzen Kommentar'
hinzufügen will; m. E. nicht zum Vorteil der Sache.
Denn wenn diefe Ausgaben primo loco dem ,akademifchen
Unterricht' laut Profpekt dienen follen, fo muß man den
Studenten auch etwas zum Beissen und Kopfzerbrechen
geben; der Kommentar wird da nur zu leicht zum Vorkauer
. Selbftverftändlich follen fchwierige Wortformen
und Satzkonftruktionen durch kurze Winke erläutert
werden — das ift auch in Krügers Sammlung gefchehen —;
aber den Inhalt follen die Studenten fich felbft klar
machen, bez. der Lehrer foll ihn im Unterricht fie finden
laffen. Zwar redet der Profpekt von nur gelegentlichen
Anmerkungen'; aber was Stange im erften Heft bietet,
ift ein Kommentar nach allen Regeln der Kunft, der, fo
vortrefflich er an fich ift, doch den Studenten die Sache
zu leicht macht. So fchwer und fogar unbefriedigend
— ich weiß es aus eigener Erfahrung — es für den
Herausgeber ift, auf die Textherftellung fich zu be-
fchränken, die Sache gebietet es; feinen Kommentar mag
er im Unterricht geben. Lieber fähen wir an Stelle des
Kommentars die Zitate eruiert! Gewiß wird es im allgemeinen
richtig fein, was St. zur Rechtfertigung feines
Verfahrens fagt, daß ,für das inhaltliche Verftändnis die
Nachweifung der Zitate nicht von großer Bedeutung fein
kann' (S. XIV); aber ich glaube, wir find es fchon um
der Rivalität der Katholiken willen, die auf diefem Gebiete
anerkannt viel leiften, uns fchuldig, Zitate anzugeben
— namentlich feitdem Denifle in feinem ,Luther'
in fo fchneidender, aber nicht unberechtigter Weife
die VerfäumniffederLutherforfchung hier aufgedeckt hat!

Als ältefte ethifche Disputationen Luthers bietet St.
an erfler Stelle die quaestio de viribus et voluntate
liominis sine gratia 1516, an dritter die disputatio contra

scliolasticam theologiam von 1517, an vierter die disputatio
Heidelbergae habita von 1518 (bei der übrigens Raum
hätte gefpart werden können durch nur einmaliges Aufführen
der Thefen, die jetzt einmal alle hintereinander
und dann jeweilig vor der Conclusio flehen). An zweiter
Stelle bringt St. die in Weim. Ausg. I 365—374 u. d. T.
explicalio conclusionis sextae abgedruckter Stücke als
,3 Fragmente'. In einem Sonderauffatz der ,Neuen Kirchl.
Ztfchr.' 1903 S. S43ff. hat St. die Trennung diefer von der
W. A. zur Heidelberger Disputation geftellten Sätze begründet
und fie den Jahren 1516 bez. 1518 zugewiefen
als Refle aus Disputationen bez. Vorlefungen Luthers.
Der Text ift in allen Fällen aus einem Vergleich von
Erl. Ausgabe mit Weim. Ausg. gewonnen, Varianten nur
in Auswahl mitgeteilt, hie und da werden felbfländige
Konjekturen geboten. Empfehlen dürfte fich für die
künftigen Hefte ein kurzes Verzeichnis der wichtigften
Literatur zu der behandelten Materie, alfo in vorliegendem
Falle von Koldes und Köftlin-Kaweraus Luther, Köftlins
Theologie Luthers, und dann der Abhandlungen von
K. Bauer und KöfiTin in Z. K. G. XXI (Bauer hat a. a. O.
bekanntlich die Vermutung ausgefprochen, daß die philo-
fophifchen Thefen nicht von Luther herrühren).

An Druckfehlern habe ich mir notiert: S. 7 Z. 17
inspiritu ftatt: in spiritu, S. 21 Z. 2 v. u. lies atque,
S. 24 Z. 6 lies natus ftatt nastus und aut ftatt d tu, S. 48
Z. 7 lies voluntas, S. 65 Z. 8 lies Sententiarum. Die
Interpunktion wäre an folgenden Stellen zu beffern: S. 32
Z. 21 fetze hinter dixeris einen Doppelpunkt, S. 29 Z. 28
hinter ejus ftatt des Punktes ein?! Z. 29 hinter tyrannide
ein Komma, S. 23 Z. 11 hinter diceretur ftatt des Semikolon
einen Doppelpunkt. Die Worte S. 26 aber, die
nach Stange fich in die Konftruktion fchlechterdings nicht
einfügen, werden verfländlich, wenn man nisi forte (Z. 2)
bis remissa (Z. 4) in Parenthefe fetzt; dann hängt das
orare ut remittantur ab von dicit (Z. 2) und nimmt das

1 dort Gefagte: orare pro remissionc wieder auf. Es ift
alfo zu überfetzen: dennoch fagt der Prophet, daß die
saneti für die Vergebung bitten — es müßte denn etwa
der Prophet lügen oder fchmeicheln, indem er die saneti

I nennt, denen die Sünden nicht vergeben wären; aber er
fagt (wirklich), daß fie um Vergebung bitten, während
er fie doch vor der Vergebung allenthalben peccatores
nennen müßte'. Das ift in der Tat ein Paradoxon [mira
sententia S. 25 Z. 22). —

Endlich noch ein kurzes Wort zum Titel! Es ift
m. E. zum minderten irreführend, die mitgeteilten Stücke
die älteften ethifchen Disputationen zu nennen. Was
Luther in feinen Sätzen bewegt, ift primo loco ein reli-
giöfes, kein ethifches Intereffe. Er will in Pofition wie
Negation das sali deo gloria des Heilsprozeffes begründen,
die fchlechthinnige Nichtigkeit des Menfchen in der Heilserlangung
. Das zeigt ja deutlich fogleich der erfte Satz
bei Stange: An homo, ad Dei imaginem creatus, natura-
libus suis viribus Dei creatoris praeeepta servare aut boui
quippiam facere aut cogitare atque ad gratiam mereri
meritaque cognoscere possiti und das zeigen weiterhin
alle Ausführungen. Luther bekämpft den alten Heilsweg
, und hält fich dabei fo eng und feft in der reli-
giöfen Sphäre, daß eine pofitive Ethik zu gewinnen ihm
überhaupt nicht ohne Quälerei gelungen ift (vgl. die
Schrift von Kapp: Religion und Moral im Chriftentum
Luthers und meine Bemerkungen dazu in diefer Ztg.
1903 Nr. 19). Daß von praeeepta servare, boui quippiam

facere etc. die Rede ift, macht die Disputationen nicht
zu ethifchen, wenn anders evangelische Ethik die Dar-
ftellung des chriftlichen Handelns auf Grund der
Heilsgewißheit bedeutet. Und wenn ich auch dem
Satze St.s (S. VI) im allgemeinen zuftimmen kann: ,Die
Eigentümlichkeit der reformatorifchen Theologie befteht
darin, daß in ihr die Probleme des chriftlichen Glaubens
unter den ausfchließlichen (?) Einfluß von ganz beftimmten
fittlichen Ideen geftellt werden,' fo rechtfertigt er mir