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Ausgabe:

1904

Spalte:

488-491

Autor/Hrsg.:

Pfister, Oskar

Titel/Untertitel:

Die Willensfreiheit. Eine krit.-system. Untersuchung 1904

Rezensent:

Ritschl, Otto

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mit dem moralifchen Element vereinigt, dürfte die vollkommene
Ausgeftaltung der Religion liegen'. Demgemäß
lautet der Titel des fiebenten Vortrags: ,das
Wefen des Chrifientums'. Negativ wird diefes gekennzeichnet
als Befreiung von allen Schranken der Nationalität
, vom Ceremonien- und Buchftabendienft, vom
Gelehrtenwefen ufw. Die pofitiven Eigentümlichkeiten
find: engfte Verbindung von Religion und Moral, ein
der Würde und Befonderheit des menfchlichen Dafeins
Rechnung tragender, ethifcher Erlöfungsgedanke, hoch-
gefpannter Individualismus, die Jenfeitshoffnung und die
überragende Bedeutung der Perfon Jefu. Eine bei
Paulus einfetzende Skizze von der weiteren Entwicklung
des Chriftentums bildet den Schluß des Kapitels.

Der letzte Vortrag beginnt mit einer Würdigung
der Reformation, um dann die Zukunft des Chriftentums,
welche zugleich die der Religion ift, zu erörtern. Was
der Neuzeit eignet, ift eine felbftändige Kultur, die als
in fich wertvoll empfunden und durch den Proteftantis-
raus legitimiert wird. Daher kann die chriftliche Predigt
nicht mehr gut einfetzen mit der Behauptung einer ab-
foluten Verderbtheit aller menfchlichen Art und alles
menfchlichen Tuns. Auch die Lehre von der Gottheit
Chrifti, von Jefu Opfertod, vom Wunder muß befeitigt
oder umgebildet werden. Ebenfo wird die Vorftellung
eines ,befonderen Offenbarungsgefchehens' zu weichen
haben vor derjenigen einer allgemeinen Offenbarung in
der Gefchichte.

Was die Bedeutung des Buchs ausmacht,' ift wohl
nicht das abfchließende Kapitel, wo naturgemäß das
fubjektive Element ftark mitfpricht, und wo fchwierige
dogmatifche Fragen geftreift werden, ohne daß fie bei
dem befchränkten Raum mit der nötigen Sorgfalt und
Ausführlichkeit erörtert werden könnten. Man vergleiche
beifpielsweife mit Bouffets Beurteilung der Lehre von der
Sünde die große Rolle, die in einer fo modernen Theologie
wie der Herrmannfchen der Hinweis auf die fitt-
liche ,Not' fpielt; oder man konfrontiere mit des Verf.
Schätzung der Kultur diejenige, die bei Eucken Ausgangspunkt
für die Begründung der charakteriftifchen
Religion wird. Vielmehr befteht der eigenartige Wert
der Schrift darin, daß der Autor als ein Gelehrter,
der anerkanntermaßen Ausgezeichnetes auf einem Spezialgebiet
der Religionsgefchichte geleiftet hat, den
Verfuch unternimmt, einmal ein gemeinverftändliches
Gefamtbild der letzteren zu entwerfen und darin den
,Ort' des Chriftentums aufzuzeigen. Natürlich, daß bei
der Fülle des zu bewältigenden Stoffs und dem
augenblicklichen Stand der darauf gerichteten Forfchung
mehr als ein Lefer hier oder dort ftutzen und in feiner
Auffaffung abweichen wird. Refer. empfindet es zum
Exempel als eine Notwendigkeit, die beiden ausgehobenen
Hauptmerkmale der Religion auf eine Einheit
zu reduzieren. Er urteilt anders über die pfychologifchen
Wurzeln der Frömmigkeit, als es in den kurzen ein-
fchlägigen Andeutungen gefchieht. Auch gegen manches
in der Gruppierung ift Einrede möglich. Kann die
Parallelifierung Piatos und der Propheten ein glücklicher
Griff genannt werden, und ift nicht der zweite Vergleich
mit den Begründern einer Erlöfungsphilofophie weit
beffer geeignet? Ift es erwiefen, daß die zarathuftrifche
Religion fo indifferent gegen Kultus und Ritus war, wie
trotz der Einfchränkung auf S. 137 im großen und
ganzen vorausgefetzt wird? Ift es nicht wenigftens miß-
verftändlich, wenn des Paulus Lehre vom Tode Jefu
wefentlich als eine übernommene bezeichnet wird, während
fie doch wohl unter dem Einfluß der Erfahrung,
welche der Apoftel an der Zufammenfchau des Gekreuzigten
und Auferftandenen machte, ihre charakte-
riftifche Ausprägung erhalten hat? Eine Frage, die berechtigt
bleibt unbefchadet der Tatfache, daß die Formen
der paulinifchen Chriftologie aus den Werkftätten
des Judentums Hammen. Leiftet man wirklich der Theo-

j logie der Gegenwart einen Dienft, wenn man den ,Glauben
an Chriftus' in dem Maße, wie es hier zu gefchehen
fcheint, zu befeitigen beftrebt ift, ftatt diefe Größe, die

j nun einmal im Innenleben zahlreicher Chriften eine ungeheuere
Rolle fpielt, rückhaltlos anzuerkennen, um sie auf
ihren wahren und unvergänglichen Sinn und Wert zurück-

j zuführen? Von der großen Meifterfrage, woher der
wiffenfchaftliche Maßftab für die Beurteilung der Vollkommenheit
einer Religion zu entnehmen fei, foll gar
nicht geredet werden. Bedenken regen fich — das kann
nicht anders fein — an verfchiedenen Stellen. Darum
muß man doch dankbar das große Gefchick anerkennen,
mit dem der Autor aus beweglichem, noch in flüfiigem
Zuftand befindlichem Material einen feften Bau errichtet

! hat und bei aller Beftimmtheit der Ausfage in hypothe-

I tifcher Form beläßt, was vorläufig nur in folcher ausgedrückt
werden kann. Darum kann man doch mit Genuß
und mit Befriedigung diefe Reliefkarte eines Gebirgszugs
überfchauen, wo jede Höhe in ihrer individuellen Kon-

j figuration mit liebevoller Objektivität gezeichnet ift, und
wo zugleich als überragender Gipfel von befonderer
Geftalt und Bildung das Chriftentum erfcheint. Wie man
auch immer über einzelnes und fpeziell das letzte Kapitel
denke, einen hohen apologetifchen Wert wird man
dem frifch und flott gefchriebenen Buch nicht abzu-
fprechen vermögen. Es wäre fchade, wenn irgend eine

j theologifche Richtung fich's vertagte, daraus Nutzen zu

1 ziehen.

Straßburg i. E. E. W. Mayer.

Pfister, Pfr. Dr. Oskar, Die Willensfreiheit. Eine kritifch-
fyftematifche Unterfuchung. Berlin 1904, G. Reimer.
(XII, 405 S. gr. 8.) M. 6.—

Auch diefes Buch ift ebenfo wie das von mir kürzlich
hier (1903, Sp. 692fr.) befprochene von Bolliger eine
Bearbeitung der 1900 von der Haager Gefellfchaft zur
Verteidigung der chriftlichen Religion zum zweiten Male
geftellten Preisfrage nach der Berechtigung und Haltbarkeit
der indeterminiftifchen Theorie und ihrer Bedeutung
für Religion und Sittlichkeit. Auch feinem Verfaffer ift
gleichwie jenem nicht der volle Preis, fondern wieder nur
diefelbe Abfindung von 250 Gulden zu Teil geworden.
Diefe Gleichfchätzung beider Leiftungen ift kein rühmliches
Zeugnis für die Urteilsfähigkeit der Jury, deren
fchon hervorgehobene übergroße Milde gegen Bolliger
nun noch auffälliger durch ihre gegen Pfifter geübte
Strenge beleuchtet wird. Wenigftens wenn überhaupt
wiffenfchaftliche Gefichtspunkte und nicht etwa bloß
apologetifche Rückfichten auf die indeterminiftifchen Denkgewöhnungen
der meiften Theologen das zu findende
Urteil zu beftimmen hatten, fo ift es mir völlig unverftänd-
lich, wie man beide Arbeiten auf denfelben Wert taxieren
konnte. Mag auch Pfifter nachträglich noch manches zur
Ergänzung und Verbefferung feiner Darlegungen in fein
Buch eingefügt haben, diefes kann feine wiffenfchaftliche
Qualität und die Vorzüge, die es auszeichnen, nicht erft
durch eine folche Überarbeitung gewonnen haben. Dazu
ift es viel zu fehr aus einem Guß entworfen und in feiner
Gefamthaltung zu konfequent und innerlich gefchloffen.
Rühmt doch auch ein Teil der Preisrichter mit Recht ,die
Problemftellung, die Methode der Unterfuchung und die
Auseinanderfetzung und Würdigung der Tatfachen des
Seelenlebens'. Dies aber follten doch gerade die für ein
zutreffendes Urteil über eine derartige wiffenfchaftliche
Leiftung entfcheidenden Inftanzen fein. Dagegen hat
allerdings, wie es fcheint, die Majorität der Preisrichter
die zwei Vorwürfe zu verantworten, wegen deren dem
Verf. die volle Anerkennung feiner Leiftung vorenthalten
geblieben ift. Den einen, daß er die indeterminiftifche
Anficht nicht genügend charakterifiert habe, weift er felbft
zutreffend mit der Berufung auf den ironifchen Ausfpruch